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Shoghi Effendi

DIE WELTORDNUNG BAHA'U'LLAHS

Deutsche Übertragung

(c) Bahá'í Verlag GmbH, Hofheim-Langenhain 1977-134 ISBN 3 87037 087 4


Das englische Original erschien unter dem Titel The World Order of Bahá'u'lláh erstmals 1938, revidiert 1955 und 1973, im Bahá'í Publishing Trust, Wilmette, Illinois, U.S.A. Copyright by the Bahá'ís of the United States of America.


#5

INHALT

Einführung 7

Vorwort zur Ausgabe 1955 11

1. Die Weltordnung Bahá'u'lláhs (27. 2. 1929) 15

2. Die Weltordnung Bahá'u'lláhs: weitere Betrachtungen (21. 3. 1930) 31

3. Das Ziel: die neue Weltordnung (28. 11. 1931) 49

4. Das Goldene Zeitalter der Sache Bahá'u'lláhs (21. 3. 1932) 81

5. Amerika und der Größte Friede (21. 4. 1933) 109

6. Die Sendung Bahá'u'lláhs (8. 2. 1934) 147

Bahá'u'lláh(147) - Der Báb(181) - Abdu'l-Bahá(190) - Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung (204)

7. Die Entfaltung der Weltkultur (11. 3. 1936) 229









#7

Einführung

Die allgemeinen Verlautbarungen vom Hüter des Glaubens an die amerikanische Bahá'í-Gemeinde aus den Jahren zwischen 1922 und 1929 erläutern die Verwaltungsinstitutionen, welche Bahá'u'lláh geschaffen und 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen und Testament verkündet hatte, und ermutigen zur Entwicklung dieser Institutionen. Diese Briefe sind in einem Band unter dem Titel Bahá'í Administration¹ veröffentlicht worden. Sie sind Quelle der Information über die Institutionen des örtlichen und des nationalen Geistigen Rates, der jährlichen Nationaltagung, ferner über die Natur derjenigen Beziehungen, welche die Bahá'í in ihren gemeinschaftlichen Andachten und Unternehmungen organisch miteinander verbinden.

¹ Bahá'í Administration by Shoghi Effendi, Bahá'í Publishing Trust, Wilmette, Illinois, U.S.A. 1928, revised editions 1933, 1936, 1945, 1968

Die Briefe, die hier unter dem Titel Die Weltordnung Bahá'u'lláhs zusammengestellt und veröffentlicht werden, haben ein andersartiges Ziel und eine viel größere Reichweite. Diese späteren Verlautbarungen Shoghi Effendis entfalten eine klare Schau der Beziehung zwischen der Bahá'í-Gemeinschaft und dem gesamten Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung im Rahmen der Sendung Bahá'u'lláhs. Die unumgängliche Unterscheidung zwischen der Bahá'í-Gemeinschaft und den Sekten und Kirchen älterer Religionen war schon früher verdeutlicht worden; der vorliegende Band vergegenständlicht die Bahá'í-Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die unter göttlicher Inspiration aus dem gegenwärtigen Brennpunkt menschlicher Entwicklungsgeschichte als Kern und Muster künftiger Weltkultur hervorgeht. Während dieser Band somit eine Fortführung der besonderen Aufgabe des Hüters darstellt, nämlich die Bahá'í im Fortgang der Entfaltung eines rasch wachsenden Glaubens zu unterweisen und zu führen, enthüllt er zugleich das volle Maß, in dem Bahá'u'lláhs Botschaft die gesamte Menschheit angeht, nicht nur jene, die heute schon Gläubige sind. Die Überschriften und Untertitel waren kein Bestandteil des ursprünglichen Textes. Sie sind mit Shoghi Effendis Zustimmung zur Bequemlichkeit des Lesers eingesetzt worden.

#8

In Die Weltordnung Bahá'u'lláhs werden wir befähigt, die Bedeutung jener neuen Dimension zu ermessen, die Bahá'u'lláh in unserem Zeitalter der Religion gegeben hat: die Vorherrschaft des göttlichen Gesetzes im Bereich der Kultur, wie sie jene Vorherrschaft vollendet und erfüllt, welche die Religion in früheren Sendungen über die einzelnen Seelen ausgeübt hat. Shoghi Effendis Darlegung der Lehren, seine einzigartige Vergegenwärtigung des letzten Ziels und Zwecks der Offenbarung Bahá'u'lláhs, das ist kein statischer Kommentar zu einem heiligen Text, sondern das wahre Wesen weltweiter Staatskunst, wachgerufen in der Menschheit Stunde höchster Not. Nicht länger müssen die Bahá'í auf 'Abdu'l-Bahás schriftliches Testament zurückgreifen, um das Hütertum als etwas Wirkliches zu beweisen. Die aufeinanderfolgenden Botschaften Shoghi Effendis, besonders jene, die dem Gegenstand der Weltordnung gewidmet sind, zeigen in vollkommener Weise, daß Bahá'u'lláhs Geist fortfährt, Seine Sache zu segnen. Sie bieten die Gewähr für Bahá'u'lláhs Sieg bei der Aussöhnung der Völker dieser Erde, bei der Vereinigung dieser Völker in »einem einzigen Glauben und einer einzigen Ordnung«.

#9

Wer zu der Überzeugung neigt, die Verwirklichung des machtvollen Traumes von der »Wiederkehr Christi« bedeute nicht mehr als die Aufrechterhaltung persönlicher Geistigkeit und individueller Rechtschaffenheit, für den ist der Gedanke der Religion, die dem Volk ein Gesetz gibt, die revolutionärste Vorstellung, die dem Menschen in den Sinn kommen kann. »Bahá'u'lláh hat nämlich nicht nur - das sollten wir bereitwillig anerkennen - die Menschheit mit einem neuen Geist der Wiedergeburt erfüllt. Er hat nicht nur gewisse allgemeine Grundsätze ausgesprochen, nicht nur eine bestimmte Philosophie entwickelt, wie machtvoll, richtig und umfassend sie auch sein mögen. Er hat vielmehr, wie auch 'Abdu'l-Bahá nach ihm, im Gegensatz zu den Sendungen der Vergangenheit klar und bestimmt ein Gesetzeswerk aufgezeichnet, klar umgrenzte Institutionen geschaffen und das Wesentliche für eine göttliche Ökonomie besorgt. All dies ist dazu bestimmt, Modell für die künftige Gesellschaft zu sein, höchsterhabenes Werkzeug für die Errichtung des Größten Friedens, die Wirkkraft für die Einigung der Welt, die Verkündigung des Reiches der Tugend und Gerechtigkeit auf Erden.« »Bringt es nicht das Wirken der weltvereinenden Kräfte, die in diesem Zeitalter am Werke sind, zwangsläufig mit sich, daß Er, der Träger der Botschaft Gottes an diesem Tage, nicht nur die gleichen Richtmaße persönlichen Verhaltens, wie sie die vor ihm gekommenen Propheten eingeschärft haben, neu bestätigen muß, daß Er vielmehr in Seinem Aufruf an alle Regierungen und Völker die Wesenszüge jenes gesellschaftlichen Grundgesetzes, jene göttliche Ökonomie vergegenständlichen muß, welche die gemeinsamen Anstrengungen der Menschheit zur Errichtung jenes allumfassenden, das Kommen des Reiches Gottes auf Erden ankündigenden Bundesstaates lenken und steuern muß?«

#10

Worte wie diese, geladen mit der Kraft eines Glaubens, der nicht nur zum Buch geronnene Schrift ist, sondern der dynamische Geist, der das Leben der ganzen Welt umgestaltet - Worte wie diese machen `Die Weltordnung Bahá'u'lláhs` zu einem Werk von höchster Bedeutung nicht nur für die Bahá'í, sondern für jeden aufrichtigen Sucher. Vor dem Hintergrund des weltweiten Chaos, das uns umgibt, offenbaren sie die wichtigste Wahrheit dieses Zeitalters: daß nämlich der alte Religionsbegriff, der die Geistigkeit von den grundlegenden Lebensabläufen der Kultur ablöste und die Menschen zwang, sich mit widersprüchlichen Grundsätzen des Glaubens, der Politik und des Wirtschaftslebens abzufinden, für alle Zeiten zerstört ist. Das Gebot »Gebet Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist« hat Bahá'u'lláh mit dem Gesetz der Einheit der Menschheit, das Er offenbarte, getilgt.

»Religionsführer, Vertreter politischer Theorien, Verwalter menschlicher Institutionen, die heutzutage verwirrt und bestürzt den Bankrott ihrer Ideen, den Zusammenbruch ihrer Lebensarbeit feststellen - sie alle täten gut daran, ihren Blick auf die Offenbarung Bahá'u'lláhs zu richten und über die Weltordnung nachzudenken, die in Seinen Lehren beschlossen ist und sich langsam, kaum merklich aus dem Wirrwar und Chaos der gegenwärtigen Zivilisation erhebt.«

Horace Holley









#11

Vorwort zur Ausgabe 1955

Siebzehn schicksalsschwere Jahre sind seit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe von Die Weltordnung Bahá'u'lláhs vergangen. Weder die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs noch die wachsenden Gefahren der Nachkriegszeit können Shoghi Effendis Überzeugung in Frage stellen oder seine Thesen widerlegen. Auch können sie nicht seine höchsten Hoffnungen zunichte machen, die er zwischen 1929 und 1936 in diesen Briefen ausgedrückt hat. Ganz im Gegenteil: Seine Darbietung der weltweiten Sendung des Bahá'í-Glaubens gewinnt zusätzliche Kraft aus dem völligen Versagen menschlicher Philosophie und Staatskunst vor der Aufgabe, der Menschheit Sicherheit zu bieten. Der Leser hat auf diesen Seiten Zugang zu einem öffentlichen Dokument, gerichtet an die Menschen geistigen Glaubens in allen Rassen, allen Nationen und allen Bekenntnissen. Zustimmung und Anerkennung für Shoghi Effendis Aussagen fordern jedoch zu einem Akt des Glaubens heraus ; noch finden diese grundlegenden Wahrheiten keine Bestätigung in der öffentlichen Meinung, vergleichbar jenen massiven Vorurteilen, die von den Parteigängern nach wie vor Treue heischen.

Die in diesem Werk entwickelte Grundthese hat der Hüter des Glaubens in zwei späteren Arbeiten weitergeführt:

In einem vom 25. Dezember 1938 datierten Text entfaltet Shoghi Effendi ein machtvolles Thema, `Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit`. Er verkündet den Endsieg der Welteinheit, nachdem die Völker durch grimmige Gottesurteile geläutert und gereinigt sein werden. Der Hüter geht davon aus, daß die Bahá'í ihre Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung errichtet haben, und hebt die großen Lehraufgaben hervor, die diese Ordnung zu übernehmen hat. Der Text befaßt sich engvertraut mit der Bahá'í-Gemeinde, aber diese Gemeinde wird mit einem Ziel in Beziehung gesetzt, das den besten Interessen der Menschheit entspricht.

#12

Das zweite Werk, Der verheißene Tag ist gekommen, am 28. März 1941 datiert, bringt die Geschichte des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Báb, Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá in Verbindung, die in Wort und Tat den Willen Gottes bezeugen. Die Geschicke eines Zeitalters richten sich nach der Aufnahme, die es den Propheten bereitet. Wird das Wort Gottes geleugnet, wird ihm Widerstand geleistet, wird versucht, seine Kraft zu zerstören, dann bringt der Mensch sich selbst in Gegensatz zu Gott. Aus diesem Gegensatz ergeben sich die Kriege und Revolutionen, Werkzeuge für die grauenhafte Strafe, die ein ungläubiges Geschlecht auf sich zieht.

Der verheißene Tag ist gekommen bringt eine Tonart dramatischer Zuspitzung in des Hüters Gegenüberstellung des Glaubens Bahá'u'lláhs mit der Welt, in der das hohe Mysterium dieses Glaubens entschleiert wird.

Dem Leser, der den geschichtlichen Hintergrund zu verstehen sucht, vor dem der Bahá'í-Glaube sich erhob und sein Schicksal vollendete, und der sich über den Aufbau der Bahá'í-Institutionen in Ost und Niest unterrichten will, bietet Shoghi Effendis Gott geht vorüber den quellengenauen Bericht der Ereignisse und erläutert deren Bedeutung. Dieses Werk steht in den Annalen der Religion einzigartig da, als eine Geschichte des Propheten, niedergeschrieben bald nach Seinem Hinscheiden vom Oberhaupt Seiner Gemeinschaft, das Zugang zu allen Dokumenten und Materialien und volles Verständnis für das Wesen und den Sinn dieser Offenbarungsgeschichte hatte.

So öffnet die Beschäftigung mit Die Weltordnung Bahá'u'lláhs das Tor zum wirksamsten Ausdruck geistiger Staatskunst, der in der Welt von heute verfügbar ist.

Horace Holley




#15

1
Die Weltordnung Bahá'u'lláhs

An die Mitglieder des Nationalen Geistigen Rates der Bahá'í
in den Vereinigten Staaten und Kanada
+1:1
Innig geliebte Mitarbeiter,

beim Durchlesen ihrer letzten Mitteilungen bin ich mit der Art der Zweifel bekannt geworden, die jemand, der über die wahren Gebote der Sache Gottes in keiner Weise Bescheid weiß, an der Rechtsgültigkeit von Institutionen geäußert hat, welche mit dem Glauben Bahá'u'lláhs untrennbar verwoben sind. Nicht daß ich auch nur für einen Augenblick solche ohnmächtigen Zweifel im Lichte einer mutwilligen Belastung für das Bauwerk, das unseren Glauben verkörpert, betrachtete, nicht daß ich im geringsten die unbeugsame Glaubenstreue der amerikanischen Gläubigen bezweifelte, wenn ich näher auf das einzugehen versuche, was mir beim gegenwärtigen Entwicklungsstand unserer geliebten Sache zweckmäßige Beobachtungen zu sein scheinen. in der Tat neige ich dazu, die jetzt zum Ausdruck gekommenen Befürchtungen zu begrüßen, weil sie mir die Gelegenheit bieten, die gewählten Vertreter der Gläubigen mit dem Ursprung und dem Charakter derjenigen Institutionen bekannt zu machen, die zur Grundlage der von Bahá'u'lláh angekündigten Weltordnung gehören. Wir sollten für solche eitlen Versuche, unseren geliebten Glauben zu untergraben, wahrhaft dankbar sein - Angriffsversuche, die ihr häßliches Gesicht von Zeit zu Zeit hervorstrecken, vorübergehend eine Bresche in die Reihen der Gläubigen zu schlagen scheinen, zuletzt aber in die Nacht der Vergessenheit zurücksinken, bis keiner mehr an sie denkt. Solche Ereignisse sollten wir als Eingriffe der Vorsehung betrachten. Sie haben den Sinn, unseren Glauben zu festigen, unseren Blick zu schärfen, unser Verständnis für die Wesensmerkmale Seiner göttlichen Offenbarung zu vertiefen.



+1:2 #16
Quellen der Bahá'í-Weltordnung

Wie dem auch sei, es wäre nützlich und lehrreich, sich gewisse grundlegende Prinzipien mit Bezug auf das Testament 'Abdu'l-Bahás zu merken, bildet das Testament 'Abdu'l-Bahás doch zusammen mit dem Kitáb-i-Aqdas jene Schatzkammer, in der die kostbaren Bauteile jener göttlichen Kultur verwahrt liegen, deren Errichtung die Hauptaufgabe des Bahá'í-Glaubens ist. Eine Untersuchung der Vorkehrungen jener geheiligten Urkunden wird die enge Verbundenheit zwischen ihnen offenbaren, ebenso die Entsprechung von Zweck und Methode, die sie uns auferlegen. Weit davon entfernt, ihre besonderen Bestimmungen als unvereinbar und dem Geist nach widersprüchlich zu betrachten, wird jeder aufrichtige Sucher bereitwillig gelten lassen, daß sie einander nicht nur ergänzen, sondern gegenseitig bestätigen und untrennbare Teile eines vollendeten Ganzen sind. Auch ein Vergleich ihres Textes mit den anderen heiligen Schriften des Bahá'í-Glaubens wird die Übereinstimmung ihres gesamten Inhalts sowohl mit dem Geist als auch mit dem Buchstaben der bestätigten Schriften und Aussprüche Bahá'u'lláhs und 'Abdu'l-Bahás ergeben. Wer das Buch Aqdas sorgfältig und aufmerksam liest, wird in der Tat unschwer entdecken, daß dieses Heiligste Buch an mehreren Stellen diejenigen Institutionen vorwegnimmt, die 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen einsetzt, indem Er gewisse Angelegenheiten in Seinem Buch der Gesetze unbestimmt und ungeregelt ließ, scheint Bahá'u'lláh absichtlich eine Lücke im allgemeinen System Seiner Fügungen offen gelassen zu haben, eine Lücke, die die unzweideutigen Vorkehrungen des Meisters in seinem Testament ausgefüllt haben. Der Versuch, das eine vom anderen zu scheiden, oder der zweifelnde Gedanke, 'Abdu'l-Bahá habe die Lehren Bahá'u'lláhs mit dem, was Er in Seinem Letzten Willen offenbarte, nicht zur Gänze und mit absoluter Unversehrtheit aufrechterhalten - all dies wäre eine unverzeihliche Beleidigung für die unerschütterliche Treue, die das Leben und Wirken unseres geliebten Meisters ausgezeichnet hat.

#17

Ich will keineswegs versuchen, die Glaubwürdigkeit des Testaments 'Abdu'l-Bahás zu verteidigen oder zu beweisen ; denn dies würde eine Besorgnis meinerseits um das einmütige Vertrauen der Gläubigen in die Echtheit der letzten schriftlichen Wünsche unseres heimgegangenen Meisters verraten. Vielmehr will ich meine Betrachtungen auf diejenigen Punkte beschränken, die den Gläubigen helfen könnten, die Wesenseinheit der geistigen, menschenfreundlichen und administrativen Grundsätze, die vom Urheber und vom Ausleger des Bahá'í-Glaubens dargelegt wurden, zu würdigen.

#18

Ich kann mir jene seltsame Geisteshaltung nicht erklären, die dazu neigt, das als einziges Merkmal für die Wahrheit der Bahá'í-Lehren anzusehen, was anerkanntermaßen nur die unklare, unbestätigte Übersetzung einer mündlichen Erklärung 'Abdu'l-Bahás ist, und dies alles trotz und ungeachtet aller Seiner weltweit anerkannten Schriften. Aufrichtig beklage ich die unglücklichen Sinnverdrehungen, die in vergangenen Tagen aufkamen durch die Unfähigkeit des Übersetzers, die Bedeutung der Worte 'Abdu'l-Bahás zu begreifen und diejenigen Wahrheiten richtig wiederzugeben, die ihm in den Erklärungen des Meisters offenbart worden sind. Viel von der Verwirrung, die das Verständnis der Gläubigen verdunkelt, ist dieser zweifachen Fehlerquelle der ungenauen Wiedergabe einer nur teilweise verstandenen Erklärung zuzuschreiben. Oft hat der Dolmetscher nicht einmal den genauen Sinn der Fragen, die an 'Abdu'l-Bahá gerichtet wurden, übermitteln können, und seine mangelhafte Aufnahme und Wiedergabe der Antwort 'Abdu'l-Bahás wurde verantwortlich für Berichte, die dem wahren Geist und Zweck der Sache Gottes völlig widersprechen. Hauptsächlich deshalb, weil die Berichte über zwanglose Unterhaltungen 'Abdu'l-Bahás mit Pilgern oft in die irre führen, habe ich die Gläubigen im Westen nachdrücklich gebeten, solche Äußerungen nur als persönliche Eindrücke von den Worten ihres Meisters anzusehen und nur solche Übersetzungen als verbürgt zu betrachten und zu zitieren, die auf dem beglaubigten Text Seiner in der Originalsprache aufgezeichneten Äußerungen beruhen.

Jeder Anhänger der Sache Gottes sollte sich bewußt sein, daß das System der Bahá'í-Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung keine Neuerung ist, die den Bahá'í der ganzen Welt seit dem Hinscheiden des Meisters willkürlich auferlegt worden wäre; vielmehr leitet dieses System seine Amtsgewalt aus dem Testament 'Abdu'l-Bahás ab, es ist in unzähligen Sendschreiben ins einzelne gehend verordnet und beruht in einigen Wesenszügen auf den ausdrücklichen Vorkehrungen des Kitáb-i-Aqdas. So vereint dieses System die Grundsätze, die Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá, jeder für sich, niedergelegt haben ; es bezieht diese Grundsätze wechselseitig aufeinander und ist unlöslich mit den wesentlichen Wahrheiten unseres Glaubens verbunden. Die Verwaltungsgrundsätze der Sache Gottes von den rein geistigen und menschenfreundlichen Lehren trennen zu wollen, würde eine leibliche Verstümmelung der Sache Gottes bedeuten. Eine solche Trennung könnte nur zu einer Auflösung in ihre Bestandteile und zum Erlöschen des Glaubens selbst führen.



+1:3 #19
Die örtlichen und die nationalen Häuser der Gerechtigkeit

Wir sollten uns sorgsam merken, daß die örtlichen Häuser der Gerechtigkeit ebenso wie das internationale Haus der Gerechtigkeit ausdrücklich im Kitáb-i-Aqdas anbefohlen worden sind. Die Institution des Nationalen Geistigen Rates als Zwischeninstanz, auf die in des Meisters Testament als »Sekundäres Haus der Gerechtigkeit« Bezug genommen wird, hat die ausdrückliche Bestätigung 'Abdu'l-Bahás, und das Verfahren für die Wahl des internationalen und der nationalen Häuser der Gerechtigkeit hat Er sowohl in Seinem Testament als auch in einer Reihe von Sendschreiben niedergelegt. Überdies sind die Einrichtungen der örtlichen und nationalen Fonds, die heute die notwendigen Ergänzungen aller örtlichen wie nationalen Geistigen Räte sind, nicht nur in den Sendschreiben begründet, die 'Abdu'l-Bahá für die Bahá'í des Ostens offenbarte; ihre Wichtigkeit und Notwendigkeit hat Er auch wiederholt in Seinen Äußerungen und Schriften betont. Die Zusammenfassung der Amtsgewalt in den Händen der gewählten Vertreter der Gläubigen, die notwendige Unterordnung jedes Anhängers unseres Glaubens unter das wohlüberlegte Urteil der Bahá'í-Räte, Seine Vorliebe für einstimmige Beschlüsse, der Entscheidungscharakter der Stimmenmehrheit, ja selbst wie wünschenswert es sei, alle Bahá'í-Veröffentlichungen genau zu überwachen - all dies hat 'Abdu'l-Bahá den Gläubigen emsig eingeschärft, wie es Seine beglaubigten und weit verbreiteten Sendschreiben bezeugen. Seine umfassenden, menschenfreundlichen Lehren auf der einen Seite anzunehmen, andererseits aber Seine noch herausfordernderen, noch einzigartigeren Gebote nachlässig und gleichgültig zu verwerfen und abzulehnen - das wäre ein Akt offenbarer Untreue jenen Werten gegenüber, die Er in Seinem Leben am meisten schätzte.

#20

Daß die Geistigen Räte von heute zu gegebener Zeit durch die Häuser der Gerechtigkeit ersetzt werden, daß es sich im Grunde um dieselben und keine besonderen Körperschaften handelt, hat 'Abdu'l-Bahá selbst vollauf bestätigt, in einem Sendschreiben an die Mitglieder des ersten Geistigen Rates von Chikago, der ersten gewählten Bahá'í-Körperschaft in den Vereinigten Staaten, hat Er sie als die Mitglieder des »Hauses der Gerechtigkeit« für jene Stadt angesprochen und so mit Seiner eigenen Feder über jeden Zweifel hinaus die Identität der gegenwärtigen Geistigen Räte und der Häuser der Gerechtigkeit, von denen Bahá'u'lláh sprach, bestätigt. Aus Gründen, die unschwer zu durchschauen sind, wurde es als ratsam erachtet, den gewählten Vertretern der Bahá'í-Gemeinden in aller Welt die vorübergehende Bezeichnung Geistige Räte zu geben - eine Benennung, die in dem Maße, wie die Bedeutung und die Ziele des Bahá'í-Glaubens besser verstanden und umfassender anerkannt werden, nach und nach durch die bleibende, passendere Bezeichnung Häuser der Gerechtigkeit ersetzt werden wird. Die heutigen Geistigen Räte werden in der Zukunft nicht nur anders benannt werden; sie werden auch in die Lage versetzt sein, ihren gegenwärtigen Aufgaben diejenigen Machtbefugnisse, Pflichten und Hoheitsrechte hinzuzufügen, welche die Anerkennung des Glaubens Bahá'u'lláhs nicht nur als eines der anerkannten religiösen Systeme der Welt, sondern als die Staatsreligion einer unabhängigen, souveränen Macht erfordern. Und in dem Maße, wie der Bahá'í-Glaube die Völkermassen des Ostens und des Westens durchdringt, wie seine Wahrheit von der Mehrheit der Völker in einer Reihe von souveränen Staaten dieser Welt angenommen wird, erlangt das Universale Haus der Gerechtigkeit die Fülle seiner Macht, um als oberstes Organ des Bahá'í-Gemeinwesens alle die Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen, die dem künftigen Welt-Überstaat obliegen.

#21

Es muß jedoch in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß im Gegensatz zu der Erwartung, die hier zuversichtlich ausgedrückt wurde, die Errichtung des obersten Hauses der Gerechtigkeit keineswegs davon abhängig ist, daß die breiten Massen der Völker dieser Welt den Bahá'í-Glauben annehmen, noch setzt sie die Annahme des Glaubens durch die Bevölkerungsmehrheit irgendeines Landes voraus. Tatsächlich erwog 'Abdu'l-Bahá in einem Seiner frühesten Sendschreiben die Möglichkeit, das Universale Haus der Gerechtigkeit zu Seinen eigenen Lebzeiten zu errichten, und wären die Umstände unter dem türkischen Regime nicht so ungünstig gewesen, hätte Er mit großer Wahrscheinlichkeit die ersten Vorkehrungen dafür getroffen. Daraus erhellt, daß unter günstigen Umständen, wenn die Bahá'í Persiens und der benachbarten Länder unter sowjetischer Herrschaft ihre nationalen Vertreter nach den Grundsätzen, die in den Schriften 'Abdu'l-Bahás niedergelegt sind, wählen können, das letzte Hindernis auf dem Weg zur endgültigen Bildung des Internationalen Hauses der Gerechtigkeit beseitigt sein wird. Denn den Nationalen Häusern der Gerechtigkeit im Osten wie im Westen fällt nach den ausdrücklichen Bestimmungen des Testaments die Aufgabe zu, die Mitglieder des internationalen Hauses der Gerechtigkeit direkt zu wählen. Erst wenn sie selbst die Gesamtheit der Gläubigen in ihren jeweiligen Ländern voll repräsentieren, erst wenn sie die Geltung und die Erfahrung erworben haben, die sie befähigen, tatkräftig am organischen Leben der Sache Gottes teilzunehmen, können sie an ihre heilige Aufgabe gehen und die geistige Grundlage für die Bildung einer so erhabenen Körperschaft in der Bahá'í-Welt schaffen.



+1:4 #22
Die Institution des Hütertums

Jeder Gläubige muß auch voll begreifen, daß die Institution des Hütertums die Gewalten, die Bahá'u'lláh dem Universalen Haus der Gerechtigkeit im Kitáb-i-Aqdas verliehen und die 'Abdu'l-Bahá wiederholt und feierlich in Seinem Testament bestätigt hat, unter keinen Umständen aufhebt oder sie im geringsten schmälert. Das Hütertum stellt auf keinen Fall einen Widerspruch zu dem Testament und den Schriften Bahá'u'lláhs dar, noch hebt es irgendeine Seiner offenbarten Weisungen auf. Es steigert das Ansehen jener erhabenen Ratsversammlung, festigt ihren höchsten Rang, sichert ihre Einheit, wahrt die Beständigkeit ihrer Bemühungen, ohne sich im mindesten einen Verstoß gegen die Unverletzlichkeit ihres klar bestimmten Rechtsbereichs anzumaßen. Wir stehen einer derart gewaltigen Urkunde wirklich noch zu nahe, um für uns selbst ein volles Verständnis aller in ihr verborgenen Wirkkräfte beanspruchen oder behaupten zu können, wir hätten die mannigfachen Geheimnisse begriffen, die sie ohne Zweifel enthält.

#23

Erst künftige Geschlechter können den Wert und die Bedeutung dieses göttlichen Meisterwerkes fassen, das die Hand des Weltenschöpfers für die Einigung und für den Triumph des weltweiten Glaubens Bahá'u'lláhs entworfen hat.

Erst jene, die nach uns kommen, werden in der Lage sein, die überraschend starke Betonung, die auf die Institutionen des Hauses der Gerechtigkeit und des Hütertums gelegt wurde, voll in ihrem Wert abzuschätzen. Erst sie werden die Bedeutung der energischen Sprache würdigen, die 'Abdu'l-Bahá für die Bande von Bündnisbrechern verwendet, die sich ihm zu Seinen Lebzeiten widersetzt haben.

Erst ihnen wird die Eignung der von 'Abdu'l-Bahá begründeten Institutionen für das Wesensbild der künftigen Gesellschaft offenbar werden, einer Gesellschaft, die aus den chaotischen Wirren unserer Zeit auftauchen wird. Nur belustigen kann mich in diesem Zusammenhang die widersinnige, phantastische Idee, Muhammad-Alí, der Anstifter und Brennpunkt der hartnäckigen Feindseligkeiten gegen die Person 'Abdu'l-Bahás, habe sich unbefangen mit den Familienmitgliedern 'Abdu'l-Bahás zusammengetan, um ein Testament zu fälschen, das nach den Worten der Verfasserin nur eine »Wiedergabe der Ränke« sei, mit denen sich Muhammad-'Alí dreißig Jahre lang beschäftigte. Einem so hoffnungslosen Opfer verwirrter Vorstellungen kann ich wohl am besten mit dem aufrichtigen Ausdruck meines Mitleids erwidern und hoffen, sie möge aus derart tiefsitzenden Wahnideen befreit werden. Wegen der vorerwähnten Beobachtungen habe ich auch nach der unglücklichen, unvermeidlichen Verzögerung infolge meines schlechten Gesundheitszustandes und meiner Abwesenheit vom Heiligen Land zur Zeit des Hinscheidens unseres Meisters zunächst Bedenken gehabt, von der Möglichkeit einer allgemeinen Veröffentlichung des Testamentes Gebrauch zu machen, ich war mir voll bewußt, daß es sich in erster Linie an die anerkannten Gläubigen wandte und nur mittelbar den weiteren Kreis der Freunde und Sympathisanten der Sache Gottes anging.



+1:5 #24
Das Daseinsziel der Bahá'í-Institutionen

Und nun geziemt es uns, über Daseinsziel und Hauptaufgaben dieser von Gott eingesetzten Institutionen nachzudenken. Wie heilig ihre Wesensart und wie allumfassend ihre Wirksamkeit ist, kann sich nur durch den Geist beweisen, den sie verbreiten, und durch die Leistungen, die sie bereits vollbringen, ich brauche mich nicht bei dem aufzuhalten, was ich schon wiederholt und nachdrücklich betont habe:

daß die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung der Sache Gottes als Werkzeug, nicht aber als Ersatz für den Glauben Bahá'u'lláhs zu verstehen ist,

daß sie als ein Kanal für Seinen uns verheißenen Segen betrachtet werden sollte,

daß sie uns vor jener Glaubensstrenge bewahren sollte, welche die befreienden Kräfte, die Seiner Offenbarung entströmen, hemmen und binden würde. Auch brauche ich mich hier und heute nicht über das zu verbreiten, was ich in der Vergangenheit erklärt habe:

daß Beiträge zu den örtlichen und nationalen Fonds durch und durch freiwillig sind,

daß keinerlei Zwang, keine direkte Aufforderung zugunsten der Fonds in der Sache Gottes geduldet werden darf,

daß allgemeine Aufrufe, die sich an die Gemeinden als Ganzes wenden, die einzige Form sein sollen, in welcher der Finanzbedarf unseres Glaubens gedeckt wird,

daß die finanzielle Unterstützung, die einzelnen wenigen Mitarbeitern auf den Gebieten des Lehrens und der Verwaltung gewährt wird, vorübergehender Natur ist,

daß die gegenwärtigen Einschränkungen der Veröffentlichung von Bahá'í-Literatur gewiß wegfallen werden,

daß die Kampagne für die Welteinheit als Versuch für die Wirksamkeit der mittelbaren Lehrmethode durchgeführt wird,

daß der ganze Apparat von Räten, Ausschüssen und Nationaltagungen als Mittel und nicht als Zweck zu betrachten ist,

daß sie stehen und fallen mit ihrer Fähigkeit, die Interessen des Bahá'í-Glaubens zu fördern, seine Tätigkeiten zu koordinieren, seine Grundsätze anzuwenden, seine Ideale zu verkörpern und seine Aufgaben zu erfüllen.

#25

Wie könnte man, so darf ich wohl fragen, auch nur für einen Augenblick die Notwendigkeit eines Verwaltungsapparats in irgendeiner Form bezweifeln, eines Apparats, der inmitten des Sturms und Drangs einer ringenden Zivilisation die Einheit dieses Glaubens, die Beständigkeit seines Wesens, den Schutz seiner Interessen wahrt, wenn man den internationalen Charakter der Sache Gottes sieht, ihre weit ausholenden Verzweigungen, die zunehmende Verflechtung ihrer Angelegenheiten, die Mannigfaltigkeit ihrer Anhänger und die Wirrsal, die den noch jugendschwachen Glauben Gottes von allen Seiten bestürmt? Die Rechtsgültigkeit der Räte aus gewählten Dienern des Glaubens Bahá'u'lláhs zu verwerfen, würde die Abweisung jener zahllosen Sendschreiben bedeuten, in denen Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá die Vorrechte und Pflichten dieser Räte gepriesen, die Herrlichkeit ihrer Sendung betont, die Unermeßlichkeit ihrer Aufgabe offenbart und sie vor den Angriffen gewarnt haben, die sie von der Torheit ihrer Freunde und der Niedertracht ihrer Feinde zwangsläufig gewärtigen müssen. Jene, in deren Hände ein so kostbares Erbe gelegt wurde, haben fürwahr andächtig darüber zu wachen, daß nicht das Werkzeug den Glauben ersetze, daß keine übertriebene Sorge um unbedeutende Einzelheiten, die sich aus der Verwaltung der Sache Gottes ergeben, ihren Verfechtern den Blick trübe, daß nicht Parteilichkeit, Ehrgeiz und Weltsinn im Laufe der Zeit den Strahlenglanz des Glaubens Bahá'u'lláhs umwölken, seine Reinheit besudeln und seine Wirksamkeit beeinträchtigen.



+1:6 #26
Die Lage in Ägypten

Bereits in meinen früheren Mitteilungen vom 10. Januar 1926 und vom 12. Februar 1927 ging ich auf die verwirrende, aber höchst bedeutsame Lage ein, die sich in Ägypten aus einem rechtsgültigen Urteil des muslimisch-geistlichen Gerichtshofes jenes Landes ergeben hat. Unsere ägyptischen Brüder wurden darin als Ketzer gebrandmarkt und aus dem Kreis der gläubigen Muslime ausgestoßen; die Anwendung islámischen Rechtes und seine Vorteile wurden ihnen verwehrt. ich habe Sie auch mit den Schwierigkeiten bekanntgemacht, denen sie gegenüberstehen, ebenso mit ihren Plänen, von den ägyptischen Zivilbehörden eine Anerkennung der Unabhängigkeit ihres Glaubens zu erlangen. Dazu muß erläutert werden, daß in den muslimischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens - ausgenommen die Türkei, die kürzlich alle religiösen Gerichte unter ihrer Herrschaft abgeschafft hat - jede religiöse Gemeinschaft in Sachen des Personenstandes wie Eheschließungen, Scheidungen, Erbangelegenheiten ihr eigenes geistliches Gerichtswesen hat, das von den Zivil- und Strafgerichten völlig unabhängig ist. Es gibt für solche Fälle kein bürgerliches Gesetzbuch, das vom Staat verkündet ist und die verschiedenen Religionsgemeinschaften umfaßt. Bislang wurden die Bahá'í in Ägypten als eine Sekte des Islám betrachtet, zumal sie größtenteils muslimischen Hintergrund haben. Sie waren deshalb außerstande, sich in Ehe- und Scheidungssachen an die anerkannten religiösen Gerichte eines anderen Bekenntnisses zu wenden. Nunmehr sehen sie sich demzufolge in einer heiklen und ungewöhnlichen Rechtsstellung. Natürlich haben sie den Entschluß gefaßt, ihren Fall der ägyptischen Regierung zu unterbreiten, und haben zu diesem Zweck eine Petition verfaßt, die sich an den Kabinettschef wendet, in dieser Urkunde haben sie die Gründe dargelegt, die sie dazu zwingen, von ihrer Obrigkeit Anerkennung zu verlangen ; ferner haben sie ihre Bereitschaft und ihre Befähigung bestätigt, die Amtspflichten eines unabhängigen Bahá'í-Gerichts auszuüben, und haben jene ihres unbedingten Gehorsams und ihrer Loyalität dem Staat gegenüber sowie ihrer Nichteinmischung in die politischen Angelegenheiten ihres Landes versichert. Auch haben sie sich entschlossen, ihrer Petition eine Abschrift des muslimischen Gerichtsurteils, eine Auswahl aus den Bahá'í-Schriften sowie das Dokument beizufügen, das die Grundsätze ihrer nationalen Satzung darstellt und mit wenigen Ausnahmen der Treuhandschaftserklärung und Satzung ihres eigenen Rates entspricht.

#27

Ich habe darauf bestanden, daß die Vorschriften ihrer Satzung in allen Einzelheiten mit dem Text der von ihnen in den USA beschlossenen Treuhandschaftserklärung und Satzung übereinstimmen. Auf diese Weise hin ich bestrebt, die Einheitlichkeit zu wahren, die ich für alle nationalen Bahá'í-Satzungen als notwendig erachte. Deshalb möchte ich Sie in diesem Zusammenhang um das bitten, was ich bereits dem ägyptischen Rat zu verstehen gegeben habe: Jedwede Änderung, die Sie am Text der Treuhandschaftserklärung und der Satzung beschließen mögen, sollte mir tunlichst mitgeteilt werden, damit ich die notwendigen Schritte für die Herbeiführung entsprechender Änderungen in den Texten aller anderen nationalen Bahá'í-Satzungen einleiten kann.

#28

In Anbetracht der besonderen Vorrechte, die den anerkannten Glaubensgemeinschaften in den islámischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens gewährt sind, versteht es sich, daß das Gesuch des Nationalen Rates der Bahá'í von Ägypten an die Regierung des Landes umfassender und weitreichender ist als das, was die dortigen Bundesbehörden ihrem Rat eingeräumt haben, handelt es sich doch in Ägypten darum, daß die höchsten Zivilbehörden den Nationalen Geistigen Rat als verbindlichen, unabhängigen Bahá'í-Gerichtshof anerkennen, einen Gerichtshof, der die Freiheit und die Befähigung hat, die von Bahá'u'lláh im Kitáb-i-Aqdas verkündeten Gesetze und Gebote in allen Angelegenheiten des Personenstandes auszuführen und anzuwenden.

Ich habe gebeten, man möge zunächst formlos an die zuständigen Behörden herantreten und sich so eingehend wie möglich erkundigen, ehe man dieses historische Gesuch in aller Form einbringt. Jede Unterstützung, die ihr Rat nach sorgfältiger Beratung den tapferen Vorkämpfern unseres Glaubens in jenem Land zweckmäßigerweise gewähren kann, wird aufs wärmste begrüßt werden und die Solidarität bestätigen, die die Bahá'í-Gemeinden des Ostens und des Westens kennzeichnet. Was immer das Ergebnis dieses gewaltigen Vorhabens sein mag - jeder muß die unschätzbaren Möglichkeiten der gegenwärtigen Lage anerkennen, und wir können sicher sein, daß Er, dessen Hand der Führung diese Kräfte entfesselt hat, in Seiner unergründlichen Weisheit und in Seiner Allmacht weiterhin deren Lauf bestimmen und auf den Ruhm, die endgültige Befreiung und die uneingeschränkte Anerkennung Seines Glaubens hinlenken wird ...

Ihr wahrer Bruder (gez.) Shoghi

Haifa, Palästina 27. Februar 1929









#31

2
Die Weltordnung Bahá'u'lláhs: weitere Betrachtungen

An die Geliebten des Herrn und die Dienerinnen des Barmherzigen in der westlichen Welt

+2:1
Innig geliebte Mitarbeiter,

die meisten Berichte, die in letzter Zeit das Heilige Land erreichten, bezeugen den triumphalen Vormarsch der Sache Gottes. Einige wenige scheinen jedoch eine bestimmte Auffassung von der Gültigkeit jener Institutionen zu verraten, die untrennbar mit dem Glauben Bahá'u'lláhs verbunden sind. Die dabei ausgedrückten Bedenken scheinen verstärkt zu werden durch Geflüster aus Kreisen, die entweder über die Grundlagen der Bahá'í-Offenbarung völlig falsch unterrichtet sind oder es bewußt darauf anlegen, die Saaten der Zwietracht in die Herzen der Gläubigen zu streuen.



+2:2 #32
Ein Glück im Unglück

Betrachtet man solche vergeblichen Angriffe im Lichte vergangener Erfahrungen, so ist ihr unausbleibliches Ergebnis, so hartnäckig und böswillig sie auch sein mögen, daß sie zu einer breiteren und tieferen Anerkennung der Wesenszüge des von Bahá'u'lláh verkündeten Glaubens, sowohl bei Gläubigen wie bei Ungläubigen, beitragen. Ob solche Kritik, solche Herausforderung von böser Absicht diktiert ist oder nicht, sie kann nur dazu dienen, die Seelen der leidenschaftlichen Verfechter dieses Glaubens aneinanderzuschweißen und die Reihen seiner aufrichtigen Verkünder zu schließen. Kritik von außen wird den Glauben von solchen schädlichen Elementen reinigen, deren fortdauernde Verbindung mit den Gläubigen den guten Namen der Sache Gottes in Mißkredit zu bringen und die Reinheit ihres Geistes zu beflecken droht. Deshalb sollten wir nicht nur die offenen Attacken, die verschworene Feinde hartnäckig gegen unsere Sache reiten, willkommen heißen, sondern jeden Sturm des Unheils, den Abtrünnige, aber auch solche auslösen, die treue Vertreter unserer Sache zu sein beanspruchen, als ein Glück im Unglück betrachten. Statt den Glauben zu untergraben, stärken solche Angriffe von innen oder außen seine Grundlagen und fachen seine Flamme an. Ausgeheckt, um seinen Strahlenglanz zu verdunkeln, verkünden Angriffe aller Welt die erhabene Wesensart seiner Gebote, seine vollkommene Einheit, seinen einzigartigen Rang, seinen durchdringenden Einfluß.

Keinen Augenblick lang habe ich das Empfinden, solches Geschrei, wie es zumeist einer ohnmächtigen Wut über den unaufhaltsamen Vormarsch der Sache Gottes zuzuschreiben ist, könne die tapferen Soldaten des Glaubens jemals betrüben. Denn diese heldenmütigen Seelen haben bereits ihre Glaubenstreue und den bleibenden Wert ihrer Überzeugung vollauf bewiesen, ob sie nun in Amerikas uneinnehmbarer Feste stehen, im Herzen Europas oder fern über dem Meer auf dem australischen Erdteil kämpfen.



+2:3 #33
Die Wesenszüge der Bahá'í-Weltordnung

Ich fühle mich jedoch kraft der Verantwortung, die dem Hüteramt des Glaubens beigelegt ist, verpflichtet, den eigentümlichen Charakter und die Wesenszüge einer Weltordnung, wie sie Bahá'u'lláh erdacht und verkündet hat, noch ausführlicher zu behandeln. Zum gegenwärtigen Entwicklungsstand der Bahá'í-Offenbarung sehe ich mich gedrängt, offen und ohne jeden Vorbehalt auszuführen, was meiner Auffassung nach die keimenden Institutionen unseres Glaubens schützen und unversehrt erhalten wird. Besonders stark empfinde ich die Notwendigkeit, gewisse Tatsachen zu erhellen, die jedem ehrlichen Betrachter sogleich den einzigartigen Charakter jener göttlichen Kultur enthüllen, deren Grundlagen die unfehlbare Hand Bahá'u'lláhs gelegt hat und deren wesentliche Bestandteile im Testament 'Abdu'l-Bahás erschlossen sind. Dabei halte ich es für meine Pflicht, jeden Anfänger in unserem Glauben von vornherein darauf aufmerksam zu machen, daß die verheißene Herrlichkeit jener Oberherrschaft, die die Bahá'í-Lehren erahnen lassen, erst in der Fülle der Zeit offenbar werden kann, und daß ferner die Folgerungen aus dem Aqdas und dem Willen 'Abdu'l-Bahás als den beiden zueinandergehörigen Schatzkammern für die Bauteile jener Oberherrschaft zu weitreichend sind, als daß sie unsere Generation bereits begreifen und voll würdigen könnte. Auch kann ich nicht umhin, alle aufrechten Bekenner dieses Glaubens aufzufordern, die vorherrschende Begriffswelt und die flüchtigen Modeströmungen der Gegenwart außer acht zu lassen und sich wie nie zuvor bewußt zu werden, daß die verblasenen Theorien und die wankenden Institutionen der heutigen Unkultur unvermeidlich in scharfem Kontrast zu jenen göttlich eingesetzten Institutionen, die sich auf ihren Ruinen erheben werden, erscheinen müssen. Ich bete darum, daß die Gläubigen aus ganzem Herzen und mit ganzer Seele den unbeschreiblichen Ruhm ihrer Berufung, die überwältigende Verantwortung ihrer Mission und die ehrfurchtgebietende Grenzenlosigkeit ihrer Aufgabe erkennen mögen.

#34

Denn jeder ernsthafte Verteidiger der Sache Bahá'u'lláhs sollte einsehen, daß die Stürme, die den Glauben Gottes in seinem Kampf umtoben, mit wachsender Auflösung der Gesellschaft schlimmer werden als alles, was er bisher erfahren hat. Jeder sollte sich bewußt sein, daß mit dem Tag, da jene altgedienten, machtvollen Burgfesten der Orthodoxie, deren wohlbedachtes Ziel es ist, Gedanken und Gewissen der Menschen in ihrem Würgegriff zu halten, den ungeheueren Anspruch des Glaubens Bahá'u'lláhs in vollem Umfang wahrnehmen, dieser jugendschwache Glaube mit Feinden zu kämpfen haben wird, die weit mächtiger, weit heimtückischer sind als die grausamsten Folterknechte und die fanatischsten Geistlichen, die ihm in der Vergangenheit nachgestellt haben. Was mag nicht noch alles an Feinden auf uns zukommen im Laufe der Erschütterungen, die eine sterbende Zivilisation ergreifen! Wer wird nicht noch alles die Schmach mehren, die bereits auf den Glauben Gottes gehäuft worden ist!



+2:4 #35
Ein Angriff aller Völker und Geschlechter

Wir müssen uns nur der Warnungen 'Abdu'l-Bahás erinnern, um Art und Ausmaß derjenigen Kräfte, die mit Gottes heiligem Glauben im Streit liegen werden, zu verstehen. In den dunkelsten Stunden Seines Lebens, als Er unter 'Abdu'l-Hamíds Herrschaft vor der Verbannung in die unwirtlichsten Gegenden Nordafrikas stand, zu einer Zeit, als das glückverheißende Licht der Bahá'í-Offenbarung erst gerade anfing, über dem Westen aufzusteigen, äußerte Er in Seiner Abschiedsbotschaft an den Vetter des Báb diese prophetischen Worte voll schlimmer Vorbedeutung:

»Wie groß, wie überaus groß ist diese Sache! Wie heftig wird der Angriff aller Völker und Geschlechter der Erde. Bald wird nah und fern das Geschrei der Massen in ganz Afrika, ganz Amerika, der Kampfruf der Europäer und der Türken, das Murren Indiens und Chinas zu hören sein. Wie ein Mann und mit all ihrer Macht werden sie sich erheben, um Seiner Sache zu widerstehen. Dann werden die Ritter des Herrn mit dem Beistand Seiner Gnade aus der Höhe, gestählt im Glauben, unterstützt durch die Macht der Erkenntnis und verstärkt durch die Legionen des Bündnisses, sich erheben und die Wahrheit des Verses offenbaren: `Sehet die Verwirrung, die die Scharen der Besiegten befallen hat!`«

So ungeheuer der Kampf auch ist, den seine Worte erahnen, bezeugen sie auch den vollständigen Sieg, den die Vorkämpfer des Größten Namens letztlich erreichen werden. Völker, Nationen, Gläubige verschiedener Bekenntnisse - alle werden sich zusammen und nacheinander erheben, um die Einheit unseres Glaubens zu erschüttern, seine Kraft zu schwächen, seinen heiligen Namen zu entwürdigen. Nicht nur gegen seinen Geist werden sie anstürmen, sondern auch gegen die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die der Kanal, das Werkzeug, die Verkörperung dieses Geistes ist. Denn je deutlicher die Amtsgewalt, welche Bahá'u'lláh in das künftige Bahá'í-Gemeinwesen gelegt hat, hervortritt, desto grimmiger wird die Herausforderung sein, die seinen Wahrheiten aus allen Richtungen entgegenstürmt.



+2:5#36
Der Unterschied zwischen der Bahá'í-Religion und geistlichen Organisationen

Nicht nur obliegt es uns, liebe Freunde, uns um Vertrautheit mit den Wesenszügen dieser erhabensten Schöpfung Bahá'u'lláhs zu mühen. Wir müssen auch den grundlegenden Unterschied zwischen dieser weltumspannenden, göttlich eingesetzten Ordnung und den wichtigsten geistlichen Organisationen dieser Welt begreifen, ob sie nun der Kirche Christi oder der Ordnung der muhammadanischen Sendung zuzurechnen sind.

Werden sich doch alle, deren unschätzbares Vorrecht es ist, über diesen Bahá'í-Institutionen zu wachen, ihre Angelegenheiten zu verwalten und ihre Interessen zu fördern, früher oder später solchen eindringlichen Fragen gegenübersehen: »Wo und wie unterscheidet sich diese Ordnung Bahá'u'lláhs von den Institutionen des Christentums und des Islám, wenn sie doch dem äußeren Anschein nach nur eine Nachbildung davon ist? Sind die beiden Institutionen des Hauses der Gerechtigkeit und des Hütertums, die Institution der Hände der Sache Gottes, die Institution der nationalen und örtlichen Räte, die Institution des Mashriqu'l-Adhkár nicht nur andere Namen für die Institutionen des Papsttums und des Kalifats mit all ihren zugehörigen Kirchenordnungen, wie sie die Christen und die Muslime vertreten und verteidigen? Was könnte möglicherweise die Wirkkraft sein, die diese Bahá'í-Institutionen, die in manchen Zügen denjenigen der Kirchenväter und der Apostel Muhammads zum Verwechseln ähnlich sind, vor demselben Verderb ihres Charakters, demselben Bruch ihrer Einheit, demselben Erlöschen ihres Einflusses bewahrt, wie sie alle organisierten religiösen Hierarchien befallen haben? Warum sollten sie nicht letztlich dasselbe Schicksal erleiden, das die von den Nachfahren Christi und Muhammads aufgebauten Institutionen ereilt hat?«

#37

Von der Antwort auf diese herausfordernden Fragen wird in hohem Maß der Erfolg aller Bemühungen abhängen, denen sich die Gläubigen aller Länder heute für die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden unterziehen. Fast jeder wird anerkennen, daß der Geisteshauch Bahá'u'lláhs auf diese Welt, wie er sich mit unterschiedlicher Stärke durch die bewußten Anstrengungen Seiner erklärten Anhänger, mittelbar durch gewisse menschendienliche Organisationen offenbart, die Menschheit nur durchdringen und einen dauernden Einfluß auf sie nur ausüben kann, sofern und sobald er sich in einer sichtbaren Ordnung verkörpert, die Seinen Namen trägt, sich völlig mit Seinen Grundsätzen verbindet und in Übereinstimmung mit Seinen Gesetzen arbeitet. Daß Bahá'u'lláh in Seinem Buch Aqdas und später 'Abdu'l-Bahá in Seinem Testament - einer Urkunde, die die Vorkehrungen des Aqdas bestätigt, ergänzt und aufeinander bezieht - jene Wesenselemente für die Verfassung des Bahá'í-Weltgemeinwesens vollständig dargetan haben, wird keiner leugnen, der diese Urkunden gelesen hat. Nach diesen göttlich verordneten Verfassungsnormen muß die Sendung Bahá'u'lláhs, die Arche menschlicher Errettung, notwendigerweise gestaltet werden. Aus ihnen muß aller künftige Segen strömen, auf ihnen muß seine unverletzliche Amtsgewalt im Grunde ruhen.

#38

Bahá'u'lláh hat nämlich nicht nur - das sollten wir bereitwillig anerkennen - die Menschheit mit einem neuen Geist der Wiedergeburt erfüllt. Er hat nicht nur gewisse allgemeine Grundsätze ausgesprochen, nicht nur eine bestimmte Philosophie entwickelt, wie machtvoll, richtig und umfassend sie auch sein mögen. Er hat vielmehr, wie auch 'Abdu'l-Bahá nach Ihm, im Gegensatz zu den Sendungen der Vergangenheit klar und bestimmt ein Gesetzeswerk niedergelegt, klar umgrenzte Institutionen geschaffen und das Wesentliche für eine göttliche Ökonomie besorgt. All dies ist dazu bestimmt, Modell für die künftige Gesellschaft zu sein, höchsterhabenes Werkzeug für die Errichtung des Größten Friedens, die Wirkkraft für die Einigung der Welt, die Verkündigung des Reiches der Tugend und Gerechtigkeit auf Erden. Keineswegs haben beide alle Anweisungen offenbart, deren es für die praktische Verwirklichung jener Ideale bedarf, die die Propheten Gottes geschaut haben und die seit unvordenklichen Zeiten die Einbildungskraft der Seher und Dichter aller Zeiten entflammt haben. Sie haben auch in eindeutiger und eindringlicher Sprache die Zwillingsinstitutionen des Hauses der Gerechtigkeit und des Hütertums als ihre erwählten Nachfolger eingesetzt und ihnen die Aufgabe übertragen, die Grundsätze anzuwenden, die Gesetze zu verkünden, die Institutionen zu schützen, den Glauben bündnistreu und vernunftgemäß den Erfordernissen einer fortschreitenden Gesellschaft anzupassen und das unverbrüchliche Erbe zu vollenden, das die Begründer dieses Glaubens der Welt hinterlassen haben.

Wenn wir auf die Vergangenheit zurückschauen, wenn wir das gesamte Evangelium und den Qur'án durchforschen, werden wir bereitwillig anerkennen, daß weder die christliche noch die islámische Sendung eine Parallele zu bieten haben, ob man nun das göttliche Ordnungssystem nimmt, das Bahá'u'lláh so sorgfältig begründet hat, oder die Vorsichtsmaßnahmen, die Er für dessen Schutz und Fortschritt getroffen hat. Darin liegt nach meiner festen Überzeugung die Antwort auf jene Fragen, die ich angeführt habe.

#39

Niemand wird, meine ich, die Tatsache anzweifeln, daß der Hauptgrund, warum die Einheit der Kirche Christi auf nicht wiedergutzumachende Weise erschüttert und ihr Einfluß im Laufe der Zeit untergraben wurde, darin liegt, daß das Bauwerk, das die Kirchenväter nach dem Hinscheiden Seines Ersten Apostels errichtet hatten, nicht auf Christi eigenen und ausdrücklichen Weisungen ruhte. Die Amtsgewalt und die Merkmale ihrer Verwaltung sind nur gefolgert und mittelbar, mehr oder minder berechtigt, aus einigen ungenauen, bruchstückhaften Hinweisen abgeleitet, die sie unter Seinen im Evangelium aufgezeichneten Worten verstreut fanden. Keines der kirchlichen Sakramente, keiner der Riten und keine der Zeremonien, welche die Kirchenväter kunstvoll ausgearbeitet und prunkvoll zelebriert haben, keine der Maßregeln harter Zucht, die sie den einfachen Christen unerbittlich auferlegten - nichts davon beruht unmittelbar auf der Vollmacht Christi oder ging von Seinen ausdrücklichen Worten aus. Nichts davon hat Christus geschaffen, noch hat Er eine dieser Institutionen besonders mit der hinreichenden Vollmacht belehnt, Sein Wort auszulegen oder dem, was Er nicht ausdrücklich geboten hat, etwas hinzuzufügen.

Das ist der Grund, warum sich unter späteren Geschlechtern Stimmen des Protests erhoben gegen eine selbsternannte Amtsgewalt, die sich Vorrechte und Vollmachten, welche nicht aus dem klaren Text des Evangeliums Jesu Christi hervorgingen, anmaßte und damit eine schwerwiegende Abweichung vom Geist dieses Evangeliums darstellte. Mit aller Macht und vollem Recht führten diese Stimmen des Protestes aus, die kanonischen Schriften, wie sie von den Kirchenkonzilien verkündet wurden, seien keine gottgegebenen Gesetze, vielmehr nur menschliche Vorkehrungen, die nicht einmal auf tatsächlichen Äußerungen Jesu beruhten. Ihre Beweisführung kreiste um die Tatsache, daß die ungenauen, kaum beweiskräftigen Worte Christi an Petrus: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will Ich Meine Kirche bauen«, niemals die extremen Zwangsmittel, das kunstvolle Zeremoniell, die einengenden Dogmen und Glaubenssätze rechtfertigen könnten, mit denen Seine Nachfolger Schritt für Schritt Seinen Glauben überbürdet und verfinstert haben. Wäre es den Kirchenvätern, deren ungerechtfertigte Autorität so von allen Seiten heftig angegangen wurde, möglich gewesen, die auf ihr Haupt gehäuften Anklagen dadurch zu widerlegen, daß sie bestimmte Äußerungen Christi zur künftigen Verwaltung Seiner Kirche oder zum Wesen der Amtsmacht Seiner Nachfolger hätten anführen können, dann wären sie sicherlich in der Lage gewesen, die Flammen des Streites zu löschen und die Einheit der Christenheit zu erhalten. Das Evangelium aber, die einzige Schatzkammer der Äußerungen Christi, bot den gequälten Kirchenführern keinen derartigen Schutz. Hilflos standen sie dem unbarmherzigen Angriff ihrer Feinde gegenüber, und schließlich mußten sie sich den Kräften der Spaltung, die in ihre Reihen eindrangen, beugen.

#40

Obwohl in der Offenbarung Muhammads die Frage der Verwaltung Seiner Sendung wesentlich vollständiger und genauer durch Vorkehrungen geregelt ist, verglichen mit dem Glauben Christi, gab es doch in der Frage der Nachfolge keine schriftliche, keine bindende und schlüssige Anweisung an jene, die Seine Sache zu verkünden hatten. Im Text des Qur'án stehen zwar Verordnungen über Gebet, Fasten, Eheschließung und Ehescheidung, Erbschaft, Pilgerfahrt und dergleichen, Verordnungen, die auch nach Ablauf von dreizehnhundert Jahren noch unversehrt wirksam sind. Hingegen gibt dieser Text des Qur'án keine schlüssige Führung zum Gesetz der Nachfolge, der Quelle aller Meinungsverschiedenheiten, Streitigkeiten und Spaltungen, die den Islám zerstückelt und seinen Ruf untergraben haben.

#41

Nicht so die Offenbarung Bahá'u'lláhs! Anders als in der Sendung Christi, anders als in der Sendung Muhammads, anders als in allen Sendungen der Vergangenheit haben die Apostel Bahá'u'lláhs in allen Landen, wo immer sie arbeiten und sich mühen, vor sich in klarer, eindeutiger, eindringlicher Sprache alle die Gesetze und Regeln, die Grundsätze, die Institutionen und die Führung, derer sie für die Verfolgung und Vollendung ihrer Aufgabe bedürfen. Ob es um die Verwaltungsregeln der Bahá'í-Sache oder um die Frage der Nachfolge geht, wie sie in den Zwillingsinstitutionen des Hauses der Gerechtigkeit und des Hütertums verkörpert wird, immer können die Nachfolger Bahá'u'lláhs unwiderlegliche Beweise göttlicher Führung zu Hilfe rufen, denen keiner widerstehen, die keiner schmälern oder leugnen kann. Darin liegt das unterscheidende Merkmal der Bahá'í-Offenbarung. Darin liegt die machtvolle Einheit dieses Glaubens, die zwingende Kraft einer Offenbarung, die mit dem Anspruch auftritt, frühere Offenbarungen nicht zu zerstören oder herabzusetzen, sondern sie zu verbinden, zu vereinen und zu erfüllen. Dies ist der Grund, warum sowohl Bahá'u'lláh als auch 'Abdu'l-Bahá gewisse Einzelheiten im Zusammenhang mit dem uns, ihren Nachfolgern, hinterlassenen göttlichen Ordnungssystem offenbart, ja mit besonderem Gewicht versehen haben. Das ist es auch, warum in ihrem Willen und Testament solcher Nachdruck auf die Vollmachten und Hoheitsrechte der Diener ihres Glaubens gelegt wurde.

Denn nur die ausdrücklichen Anweisungen ihres Buches, nur die erstaunlich eindringliche Sprache, in die sie die Vorkehrungen ihres Testamentes gekleidet haben, können diesen Glauben, für den sie sich beide so ruhmreich ihr ganzes Leben lang mühten, letzten Endes schützen. Nur dieses kann ihn vor den Ketzereien und Verleumdungen bewahren, mit denen ihn Bekenntnisse, Völker und Regierungen anzufallen versuchten und in gesteigertem Maße weiterhin zu bestürmen suchen werden.

#42

Auch sollten wir uns bewußt sein, daß das Unterscheidungsmerkmal der Bahá'í-Offenbarung nicht allein in der Vollständigkeit und der unzweifelhaften Rechtsgültigkeit des Glaubenssystems besteht, das Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá mit ihren Lehren begründet haben. Ihre Vortrefflichkeit liegt auch in der Tatsache des wirksamen Ausschlusses solcher Elemente, die in vergangenen Sendungen ohne die geringste Vollmacht der jeweiligen Religionsstifter Quelle des Verderbs waren und dem Glauben Gottes unabsehbaren Schaden zufügten. Durch den klaren Text der Schriften Bahá'u'lláhs sind sie beseitigt worden. Unberechtigte Bräuche in Verbindung mit dem Sakrament der Taufe, dem Abendmahl, der Beichte, der Askese, der Priesterherrschaft, kunstvollem Zeremoniell, dem heiligen Krieg und der Vielweiberei sind allesamt durch die Feder Bahá'u'lláhs streng untersagt worden. Andererseits sind gewisse Vorschriften wie das Fasten, die für das Glaubensleben des einzelnen unerläßlich sind, in ihrer Strenge beträchtlich gemildert worden.



+2:6 #43
Ein lebendiger Organismus

Der Verwaltungsapparat der Sache Gottes, des sollten wir uns gleichfalls bewußt sein, ist so gestaltet worden, daß ihm nach den Vorkehrungen Bahá'u'lláhs all das, was als notwendig erachtet wird, um diese Sache an der Spitze aller fortschrittlichen Bewegungen zu halten, getrost einverleibt werden kann. Dies bezeugen die Worte Bahá'u'lláhs, wie sie auf dem Achten Blatt des Erhabenen Paradieses aufgezeichnet sind: »Die Vertrauensleute des Hauses der Gerechtigkeit haben die Pflicht, über jene Dinge zu beraten, die nicht ausdrücklich im Buche offenbart sind, und durchzusetzen, was ihnen genehm ist. Gott wird ihnen wahrlich eingeben, was Er will, und Frist, wahrlich, der Versorger, der Allwissende.« Dem Haus der Gerechtigkeit wurde von Bahá'u'lláh nicht nur die Gewalt verliehen, Gesetze über alle Gegenstände zu erlassen, die nicht ausdrücklich und buchstäblich in Seinen heiligen Schriften verzeichnet sind. Im Testament 'Abdu'l-Bahás ist ihm überdies das Recht und die Gewalt übertragen, alles, was von einem früheren Haus der Gerechtigkeit an Gesetzen erlassen und durchgeführt wurde, den Veränderungen und Erfordernissen der Zeit entsprechend aufzuheben. In diesem Zusammenhang offenbarte Er folgendes in Seinem Letzten Willen: »... und da das Haus der Gerechtigkeit die Gewalt hat, Gesetze zu erlassen, die nicht ausdrücklich im Buch verzeichnet sind und sich auf alltägliche Angelegenheiten beziehen, so hat es auch die Gewalt, diese Gesetze aufzuheben. So wird zum Beispiel heute das Haus der Gerechtigkeit ein Gesetz erlassen und vollziehen; in hundert Jahren, wenn die Verhältnisse sich grundlegend gewandelt und die äußeren Bedingungen sich geändert haben, wird ein anderes Haus der Gerechtigkeit die Gewalt haben, jenes Gesetz den Zeiterfordernissen entsprechend zu ändern. Es kann dies tun, da jenes Gesetz keinen Teil des ausdrücklichen göttlichen Textes bildet. Das Haus der Gerechtigkeit ist sowohl Urheber als auch Aufheber seiner Gesetze«. So lautet unveränderlich 'Abdu'l-Bahás offenbartes Wort. So weit geht die Anpassungsfähigkeit, die die Tätigkeit Seiner ernannten Diener kennzeichnet. Die Unveränderlichkeit wahrt die Identität Seines Glaubens und schützt die Unversehrtheit Seines Gesetzes. Die Anpassungsfähigkeit ermöglicht diesem Glauben, sich wie ein lebendiger Organismus auszudehnen und auf die Bedürfnisse und Erfordernisse einer ewig sich wandelnden Gesellschaft einzustellen.

#44

Liebe Freunde! Mag unser Glaube den Augen der Menschen, die ihn entweder als einen Ableger des Islám schmähen oder ihn verächtlich als eine von jenen zahlreichen obskuren Sekten im heutigen Westen abtun, auch kraftlos erscheinen - diese kostbare Perle göttlicher Offenbarung, heute noch im Zustand des Embryos, wird sich in der Muschel ihrer Gesetze entwickeln. Ungeteilt und ungeschwächt wird dieser Glaube vorwärts drängen, bis er die ganze Menschheit umspannt. Nur diejenigen, welche bereits die überragende Stufe Bahá'u'lláhs anerkannt haben, nur sie, deren Herzen Seine Liebe berührt hat und die mit der Macht Seines Geistes vertraut geworden sind, können den Wert dieses göttlichen Ordnungssystems - Seiner unschätzbaren Gnadengabe an die Menschheit - angemessen würdigen.

Religionsführer, Vertreter politischer Theorien, Verwalter menschlicher Institutionen, die heutzutage verwirrt und bestürzt den Bankrott ihrer Ideen, den Zusammenbruch ihrer Lebensarbeit feststellen - sie alle täten gut daran, ihren Blick auf die Offenbarung Bahá'u'lláhs zu richten und über die Weltordnung nachzudenken, die in Seinen Lehren beschlossen ist und sich langsam, kaum merklich aus dem Wirrwarr und Chaos der gegenwärtigen Zivilisation erhebt. Was die Natur, den Ursprung oder die Gültigkeit der Institutionen anlangt, die die Anhänger dieses Glaubens in aller Welt errichten, so brauchen sich jene keinen Ängsten und Zweifeln auszusetzen ; in die Lehren selbst sind diese Institutionen eingebettet, unverfälscht und unverfinstert durch unhaltbare Einmischungen oder durch unrechtmäßige Auslegungen Seines Wortes.

#45

Wie dringlich, wie heilig ist die Verantwortung, die jetzt auf allen lastet, die bereits mit den Lehren Bahá'u'lláhs vertraut sind! Wie ruhmreich ist die Aufgabe derer, die ihre Wahrheit zu verteidigen, ihre Durchführbarkeit einer ungläubigen Welt zu erweisen berufen sind! Nur die unerschütterliche Gewißheit ihres göttlichen Ursprungs und ihrer Einmaligkeit in den Annalen der Religion, nur der beharrliche Vorsatz, sie auf den Verwaltungsapparat der Sache Gottes anzuwenden, kann dazu hinreichen, ihre Wirklichkeit unter Beweis zu stellen und ihren Erfolg zu sichern. Wie unermeßlich ist die Offenbarung Bahá'u'lláhs! Wie groß ist das Ausmaß Seiner Segnungen für die Menschheit an diesem Tage! Und doch, wie armselig, wie unzureichend ist unser Verständnis ihrer Bedeutung und ihrer Herrlichkeit. Unser Geschlecht steht einer so gewaltigen Offenbarung zu nahe, um die unendlichen Möglichkeiten Seines Glaubens, den einmaligen Charakter Seiner Sache, die geheimnisvollen Fügungen Seiner Vorsehung voll zu würdigen.

Im Íqán wünscht Bahá'u'lláh den alles überragenden Charakter dieses neuen Tages Gottes zu betonen ; Er verstärkt die Kraft Seiner Beweisführung, indem Er sich auf den Text einer gültigen und anerkannten Überlieferung bezieht, die folgendes offenbart: »Wissen ist siebenundzwanzig Buchstaben. Alle Propheten haben zwei Buchstaben davon offenbart. Kein Mensch hat bis heute mehr als diese zwei Buchstaben gekannt. Wenn aber der Qá'ím sich erheben wird, dann wird Er die übrigen fünfundzwanzig Buchstaben offenbar machen«. Und unmittelbar darauf diese bestärkenden, aufklärenden Worte Bahá'u'lláhs: »Bedenke: Er hat dargelegt, daß das Wissen aus siebenundzwanzig Buchstaben besteht und daß alle Propheten von Adam bis zu Muhammad, dem `Siegel`, nur zwei dieser Buchstaben erklärt haben. Und Er sagt dazu, daß der Qá'im alle übrigen fünfundzwanzig Buchstaben enthüllen werde. Entnimm diesem Ausspruch, wie groß und erhaben Seine Stufe ist! Sein Rang übertrifft den aller Propheten, Seine Offenbarung geht über das Erkennen und Begreifen aller ihrer Auserwählten. Eine Offenbarung, von der die Propheten Gottes, Seine Heiligen und Erwählten entweder nicht unterrichtet worden sind oder die sie nach Gottes unerforschlichem Ratschluß nicht enthüllt haben - eine solche Offenbarung sucht dieses nichtswürdige, gemeine Volk mit seinem mangelhaften Geist, seiner mangelhaften Bildung und Erkenntnis zu messen.«

#46

An einer weiteren Stelle dieses Buches befaßt sich Bahá'u'lláh mit der Wandlung, die jede Offenbarung in den Wegen, Gedanken und Sitten des Volkes hervorruft, und offenbart diese Worte: »Ist es nicht das Ziel jeder Offenbarung, eine Wandlung und Änderung in der ganzen Wesensart der Menschheit zu erreichen, eine Wandlung, die sich äußerlich wie innerlich erweisen und das innere Leben wie die äußeren Verhältnisse betreffen soll? Denn wenn nicht der Charakter der Menschheit gewandelt würde, wären Gottes allumfassende Manifestationen offensichtlich sinnlos.«

Wandte sich nicht Christus selbst an Seine Jünger mit den Worten: »Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber Er, der Geist der Wahrheit, kommt, wird Er euch in alle Wahrheit führen«?

Aus dem Text jener anerkannten Überlieferung ebenso wie aus den Worten Christi, die das Evangelium bezeugt, wird jeder vorurteilslose Betrachter die Bedeutung des von Bahá'u'lláh offenbarten Glaubens begreifen und das überwältigende Gewicht Seines Anspruchs erkennen. Kein Wunder, daß 'Abdu'l-Bahá die heftige Agitation, die die keimenden Institutionen dieses Glaubens in künftigen Tagen auf sich ziehen werden, in so grellen Farben geschildert hat. Erst in Umrissen können wir heute die Anfänge jenes Aufruhrs erkennen, den der Aufstieg und die Überlegenheit der Sache Gottes unweigerlich in die Welt bringen werden.



+2:7 #47
Das größte Drama der Geistesgeschichte

In der grausamen, heimtückischen Unterdrückungskampagne der Beherrscher Rußlands gegen die Verteidiger unseres Glaubens unter ihrer Gewalt, in der hartnäckigen Feindseligkeit, mit der im islámischen Bereich die Shí'iten auf den geheiligten Rechten der Anhänger der Sache Gottes herumtreten, was Bahá'u'lláhs Haus in Baghdád angeht, in der ohnmächtigen Wut, welche die geistlichen Führer der sunnitischen Sekte des Islám dazu getrieben hat, unsere ägyptischen Brüder aus ihrer Mitte auszustoßen - in allen diesen Erscheinungen können wir die Offenbarungen des unbarmherzigen Hasses wahrnehmen, den Völker, Religionen und Regierungen für einen so reinen, so schuldlosen, so ruhmreichen Glauben hegen.

Unser ist die Pflicht, diese Dinge in unseren Herzen zu bewegen, uns um ein erweitertes Weltbild zu mühen, unser Verständnis für die Sache Gottes zu vertiefen und uns dann entschlossen und rückhaltlos aufzumachen, um unsere Rolle, wie klein sie auch sei, in diesem größten Drama in der Geistesgeschichte der Welt zu spielen.

Ihr Bruder und Mitarbeiter Shoghi

Haifa, Palästina, 21. März 1930









#49
3
Das Ziel: Die neue Weltordnung

+3:1
Gefährten im Glauben Bahá'u'lláhs!

Der unerbittliche Lauf der jüngsten Ereignisse trägt die Menschheit dem Ziel, das Bahá'u'lláh erahnen ließ, so nahe, daß kein verantwortungsbewußter Anhänger Seines Glaubens, der die Welt überall in schmerzlichen Wehen sieht, bei dem Gedanken an ihre kommende Erlösung ungerührt bleiben kann.

Es erscheint angebracht, zu einer Zeit, da wir das erste Jahrzehnt seit dem plötzlichen Heimgang 'Abdu'l-Bahás aus unserer Mitte beschließen, im Lichte der Lehren, die Er der Welt vermacht hat, über jene Ereignisse nachzudenken, die dazu beitragen, das stufenweise Sichtbarwerden der von Bahá'u'lláh vorausgeschauten Weltordnung zu beschleunigen.

Vor zehn Jahren, an eben diesem Tage, eilte die Nachricht vom Heimgang Dessen um die Welt, der allein ihr in den vielen Trübsalen, die sie zu erleiden bestimmt war, durch den veredelnden Einfluß Seiner Liebe, Kraft und Weisheit hätte Halt und Trost geben können.

#50

Wie gut können wir, die kleine Schar Seiner erklärten Anhänger, die wir beanspruchen, das Licht, das in Ihm strahlte, erkannt zu haben, uns der wiederholten Anspielungen erinnern, die Er am Abend Seines Erdenlebens auf die Trübsale und den Aufruhr machte, von denen eine verderbte Menschheit in steigendem Maße befallen würde. Wie schmerzlich haben sich manchem von uns die gedankenschweren Bemerkungen eingeprägt, die Er in Gegenwart von Pilgern und Besuchern machte, als sie nach den Jubelfeiern zur Beendigung des Weltkriegs wieder zu Seiner Tür strömten - am Ende eines Krieges, der durch das Grauen, das er wachgerufen, die Verluste, die er hinterlassen, und die Verwicklungen, die er mit sich gebracht hat, einen so weitreichenden Einfluß auf die Geschicke der Menschheit üben sollte. Wie gelassen und doch wie machtvoll brandmarkte Er die grausame Täuschung, die ein Pakt, den die Völker und Nationen als jubelnde Verkörperung der Gerechtigkeit, als unfehlbares Werkzeug dauerhaften Friedens priesen, für eine unbußfertige Menschheit bereithielt: «Friede, Friede!« hörten wir Ihn oft sagen, »unaufhörlich verkünden die Lippen der Machthaber und der Völker `Frieden, Frieden`, während das Feuer ungestillten Hasses noch in ihren Herzen schwelt.« Wie oft hörten wir Ihn Seine Stimme erheben, als triumphale Begeisterung noch Wellen schlug, lange bevor die leisesten Bedenken empfunden oder ausgedrückt wurden! Mit Entschiedenheit erklärte Er, das als die Charta einer befreiten Menschheit gepriesene Dokument berge Saaten bitterster Enttäuschungen, die die Welt nur noch schlimmer versklaven werden. Wie überreich sind jetzt die Beweise, die den Scharfblick Seines unfehlbaren Urteils bezeugen!

Zehn Jahre endloser Unruhe, angefüllt von Ängsten und von unabschätzbaren Folgen für die Zukunft der Zivilisation, haben die Welt an den Rand eines Unheils geführt, zu schrecklich, um darüber nachzudenken. Traurig ist der Kontrast zwischen den Kundgebungen zuversichtlicher Begeisterung, denen sich die Bevollmächtigten in Versailles so freimütig hingaben, und dem Schrei unverhohlener Not, den nun Sieger und Besiegte gleichermaßen in der Stunde bitterer Ernüchterung erheben.



+3:2 #51
Eine kriegsmüde Welt

Weder die Macht, die die Gestalter und Bürgen der Friedensverträge aufboten, noch die stolzen Ideale, die den Verfasser der Völkerbundsatzung ursprünglich beseelten, erwiesen sich als ausreichendes Bollwerk gegen die Kräfte innerer Zersetzung, die eine so mühsam ausgedachte Struktur ständig angreifen. Weder die Vorkehrungen des sogenannten Verständigungsfriedens, den die Siegermächte durchsetzen wollten, noch die Maschinerie einer Institution, die Amerikas berühmter und weitsichtiger Präsident ersonnen hatte, erwiesen sich in Theorie oder Praxis als ausreichende Mittel, die Unverletzlichkeit der angestrebten Ordnung zu sichern. »Die Krankheiten, an denen die Welt jetzt leidet«, schrieb 'Abdu'l-Bahá im Januar 1920, »werden sich vervielfachen; die Dunkelheit, die sie umschließt, wird sich vertiefen. Der Balkan wird unzufrieden bleiben. Seine Ruhelosigkeit wird wachsen. Die besiegten Mächte werden weiterwühlen. Sie werden zu jeder Maßnahme greifen, die die Flamme des Krieges wieder entzündet. Neugeschaffene Bewegungen von weltweiter Bedeutung werden alle Kräfte für den Fortschritt ihrer Pläne aufbieten. Die Bewegung der Linken wird große Bedeutung erlangen. Ihr Einfluß wird sich ausbreiten.«

#52

Seitdem jene Worte geschrieben wurden, scheint sich wirtschaftliche Not mit politischer Verwirrung, finanziellen Umwälzungen, religiöser Ruhelosigkeit und Rassenhaß verschworen zu haben, die Last unermeßlich zu vergrößern, unter der eine verarmte, kriegsmüde Welt ächzt. Die kumulative Wirkung dieser Krisen, die mit so bestürzender Schnelligkeit aufeinander folgen, ist derart, daß die Gesellschaft in ihren Grundfesten erzittert. Welchen Kontinent wir auch betrachten, welches noch so abgelegene Gebiet wir in den Blick fassen, überall sehen wir die Welt von Mächten bedrängt, die sie weder erklären noch zügeln kann.

Europa, bis jetzt als die Wiege einer hochgepriesenen Zivilisation, als Fackelträger der Freiheit, als Triebfeder der Kräfte des Handels und der Industrie betrachtet, steht bestürzt und gelähmt beim Anblick eines so ungeheueren Umsturzes. Lang gehegte Ideale, auf politischem nicht weniger als auf wirtschaftlichem Gebiet menschlicher Tätigkeit, werden einerseits unter dem Druck reaktionärer Mächte, andererseits von einem heimtückischen und hartnäckigen Radikalismus schwer geprüft. Aus dem Herzen Asiens kündet fernes, unheildrohendes, beharrliches Grollen den steten Vormarsch einer Weltanschauung, die durch ihre Leugnung Gottes, Seiner Gesetze und Leitsätze die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft aufzubrechen droht. Der Lärm eines wachsenden Nationalismus, gepaart mit dem Wiederaufleben von Skeptizismus und Unglauben, kommt als zusätzliches Unglück über einen Kontinent, der bis jetzt als das Symbol Jahrhundertelanger Stabilität und ungestörter Entsagung galt. Im dunkelsten Afrika kann man die ersten Regungen einer bewußten, entschlossenen Revolte gegen die Ziele und Methoden des politischen und wirtschaftlichen Imperialismus in steigendem Maße erkennen, einer Revolte, die ihr Teil zu den wachsenden Veränderungen eines geplagten Zeitalters beiträgt. Nicht einmal Amerika, das bis vor kurzem stolz auf seine traditionelle Politik der Abgeschiedenheit und seine wirtschaftliche Selbstversorgung, auf die Unverletzbarkeit seiner Institutionen und die Beweise seines wachsenden Wohlstands und Ansehens war, konnte den Triebkräften standhalten, die es in den Strudel eines wirtschaftlichen Wirbelsturms zogen, der nun die Grundlagen seines eigenen industriellen und wirtschaftlichen Lebens zu entkräften droht. Selbst das entlegene Australien, das dank seiner Entfernung von den Sturmzentren Europas gegen die Prüfungen und Plagen eines leidenden Kontinents gefeit scheinen konnte, wurde von diesem Wirbel der Leidenschaft und des Kampfes erfaßt, unfähig, sich aus den Verstrickungen zu lösen.



+3:3 #53
Die Zeichen des drohenden Chaos

In der Tat gab es nie zuvor so weit verbreitete, so tiefgreifende soziale, wirtschaftliche oder politische Umwälzungen, wie sie jetzt in verschiedensten Teilen der Welt vor sich gehen. Nie gab es so viele, so verschiedenartige Gefahrenherde, wie sie jetzt die Struktur der Gesellschaft bedrohen. Bedeutsam sind wahrlich die folgenden Worte Bahá'u'lláhs, wenn wir innehalten, um über den gegenwärtigen Zustand einer seltsam verwirrten Welt nachzudenken:

»Wie lange wird die Menschheit in ihrem Eigensinn verharren? Wie lange wird das Unrecht fortbestehen? Wie lange sollen Chaos und Verwirrung unter den Menschen herrschen? Wie lange wird Zwietracht das Antlitz der Gesellschaft zerwühlen? Ach, die Winde der Verzweiflung wehen aus jeder Richtung, und der Hader, der das Menschengeschlecht spaltet und peinigt, nimmt täglich zu. Die Zeichen drohender Erschütterungen und des Chaos sind jetzt deutlich zu sehen, zumal die bestehende Ordnung erbärmlich mangelhaft erscheint.«

#54

Der Unruhefaktor von über 30 Millionen Menschen, die auf dem europäischen Kontinent als Minderheiten leben; die große, noch weiter wachsende Armee der Arbeitslosen mit ihren erdrückenden Lasten und ihrem demoralisierenden Einfluß auf Regierungen und Völker, das niederträchtige, zügellose Wettrüsten, das den bereits verarmten Nationen immer größere Teile ihrer Substanz wegzehrt, die völlige Demoralisierung, unter der die internationalen Finanzmärkte in steigendem Maße leiden, die Verweltlichung, die alles, was bis jetzt als die unbezwingbaren Stützen des Christentums und des Isláms erachtet wurde, angreift und durchdringt - diese Erscheinungen stechen als die ernstesten Symptome hervor, als unheilvolles Omen, was die künftige Stabilität der modernen Zivilisation anbelangt. Kein Wunder, daß einer der führenden Denker Europas, der ob seiner Weisheit und Zurückhaltung geschätzt wird, sich zu der kühnen Feststellung gezwungen sah: »Die Welt macht die schlimmste Krise der Kulturgeschichte durch.« »Wir stehen«, schreibt ein anderer, »entweder vor einer Weltkatastrophe oder aber am Tagesanbruch eines größeren Zeitalters der Wahrheit und der Weisheit.« »Gerade in solchen Zeiten«, fügt er hinzu, »sind Religionen untergegangen und geboren worden.«

Können wir nicht, wenn wir den politischen Horizont absuchen, schon die Trennlinien jener Kräfte erkennen, die von neuem den europäischen Kontinent in mögliche Kriegslager teilen, jedes zu einem Kampf entschlossen, der ungleich dem letzten Krieg das Ende einer Epoche, einer gewaltigen Epoche in der Geschichte der menschlichen Entwicklung, darstellen würde? Sind wir, die bevorrechtigten Bewahrer eines unschätzbaren Glaubens, dazu berufen, Zeugen einer sintflutartigen Umwälzung zu sein, politisch so tiefgreifend und geistig so segensreich wie der Untergang des weströmischen Reiches? Könnte es nicht dazu kommen - jeder wachsame Anhänger des Glaubens Bahá'u'lláhs sollte wohl innehalten, um dies zu überdenken -, daß aus dieser Welteruption Kräfte von einer geistigen Energie strömen, wie sie den Glanz jener Zeichen und Wunder, welche die Errichtung des Glaubens Jesu Christi begleiteten, in Erinnerung rufen oder gar in den Schatten stellen? Könnte nicht aus dem Todeskampf dieser erschütterten Welt eine religiöse Erneuerung von solchem Umfang und solcher Macht hervorgehen, daß sie sogar die weltbewegende Wirkkraft übertrifft, mit der die früheren Religionen, in bestimmten Zeitabständen und einer unergründlichen Weisheit gemäß, gefallenen Völkern und Zeiten neue Lebensschicksale eröffneten? Könnte nicht der Bankrott der gegenwärtigen, hochgepriesenen materialistischen Zivilisation als solcher das rankende Unkraut hinwegreißen, das heute Gottes ringenden Glauben an der Entfaltung und an der nachfolgenden Blüte hindert?

#55

Lassen Sie Bahá'u'lláh selbst die Leuchtkraft Seiner Worte auf unsere Bahn ergießen, während wir unseren Kurs zwischen den Fallgruben und Trübsalen dieses gequälten Zeitalters hindurchsteuern. Vor über fünfzig Jahren (um 1880) und in einer Welt, der die übel und Anfechtungen, die sie jetzt peinigen, noch ferne lagen, entflossen Seiner jeder die folgenden prophetischen Worte:

»Die Welt liegt in Wehen, und ihre Erregung wächst von Tag zu Tag. Ihr Antlitz ist auf Eigensinn und Unglauben gerichtet. Ihr Zustand wird so werden, daß es nicht angemessen und schicklich wäre, ihn jetzt zu enthüllen. Lange wird ihre Verderbtheit währen. Und wenn die festgesetzte Stunde kommt, wird plötzlich erscheinen, was der Menschheit Glieder zittern macht. Dann und erst dann wird das göttliche Banner entfaltet, und die Nachtigall des Paradieses wird ihr Lied singen.«



+3:4 #56
Die Unfähigkeit der Staatskunst

Innig geliebte Freunde! Ob wir die Menschheit im Lichte der persönlichen Lebensführung oder der Beziehungen zwischen den organisierten Gemeinschaften und Nationen betrachten, sie ist leider zu weit abgeirrt, hat einen zu tiefen Niedergang erlitten, als daß sie allein durch die unbeholfenen Anstrengungen selbst der besten unter ihren anerkannten Herrschern und Staatsmännern - wie uneigennützig ihre Beweggründe, wie wohlabgestimmt ihr Handeln, wie rückhaltlos ihr Eifer und ihre Hingabe an ihre Sache auch seien - erlöst werden könnte. Kein Plan, den die Berechnungen höchster Staatskunst noch ersännen, kein Lehrgebäude, das die hervorragendsten Vertreter der Wirtschaftstheorie noch errichteten, kein Grundsatz, den der glühendste Moralist noch aufimpfen wollte, können letzten Endes ausreichende Grundlagen bieten, auf die die Zukunft einer verwirrten Welt gebaut werden kann.

#57

Kein Aufruf zu gegenseitiger Duldsamkeit, den die Weltweisen erheben, wie zwingend und nachdrücklich er auch sein mag, kann die Leidenschaften dieser Welt beruhigen oder ihr helfen, ihre Lebenskraft zurückzugewinnen. Auch hat kein rein organisatorischer Gesamtplan internationaler Zusammenarbeit, auf welchem Gebiet menschlichen Wirkens er sich immer bewegt, wie geistreich er erdacht und wie umfassend er auch aufgefaßt wird, den gewünschten Erfolg, wenn es darum geht, die Grundursache des Übels zu beseitigen, das die heutige Gesellschaft so hart aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Ja, ich wage zu behaupten, daß nicht einmal das Ersinnen eines Ordnungsgefüges, wie es für die politische und wirtschaftliche Vereinigung der Menschheit erforderlich ist - eine Grundforderung, die in letzter Zeit immer stärker vertreten wird, - daß nicht einmal dieser Vorgang aus sich selbst heraus das Heilmittel gegen das Gift bieten könnte, welches ständig die Kraftreserven der entwickelten Völker und Nationen auszehrt. Was sonst, so können wir getrost fragen, als die vorbehaltlose Annahme des göttlichen Programms, das Bahá'u'lláh vor bereits sechzig Jahren (um 1870) mit solcher Macht und Schlichtheit verkündet hat, eines Programms, das in seinen Wesenszügen Gottes Plan für die Vereinigung der Menschheit in diesem Zeitalter zum Ausdruck bringt, kann in Verbindung mit der unüberwindlichen Gewißheit der sicheren Wirkung aller seiner Vorkehrungen schließlich den Kräften innerer Auflösung widerstehen, die sich, wenn ihnen kein Einhalt geboten wird, immer tiefer in das Mark einer verzweifelten Gesellschaft hineinfressen? Diesem Ziel - dem Ziel einer neuen Weltordnung, göttlich im Ursprung, allumfassend in der Reichweite, unparteiisch im Grundsatz, herausfordernd im Charakter - muß eine gequälte Menschheit zustreben. Zu behaupten, alle Zusammenhänge von Bahá'u'lláhs gewaltigem Plan weltweiter Solidarität erfaßt oder seine Bedeutung ergründet zu haben, wäre selbst von selten der erklärten Anhänger Seines Glaubens vermessen. Ja, der Versuch, sich diesen Plan mit all seinen Möglichkeiten vorzustellen, seine künftigen Vorteile abzuschätzen, sich seine Größe auszumalen, wäre sogar in dem heute so fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung der Menschheit verfrüht.



+3:5 #58
Die Leitsätze der Weltordnung

Das einzige, was wir vernünftigerweise versuchen können, ist, uns zu bemühen, einen Schimmer der ersten Lichtstreifen der verheißenen Dämmerung zu erhaschen, die, wenn die Zeit gekommen ist, das die Menschheit umschließende Dunkel verjagen wird. Lediglich in groben Zügen können wir herausstellen, was uns als die leitenden Prinzipien erscheint, die der Weltordnung Bahá'u'lláhs zugrunde liegen, wie sie 'Abdu'l-Bahá, der Mittelpunkt Seines Bündnisses mit der ganzen Menschheit und ernannte Ausleger und Erklärer Seines Wortes, ausführlich dargestellt und erläutert hat.

Daß die Unruhe und das Leid, die die Masse der Menschheit peinigen, in einem nicht geringen Maße die unmittelbaren Folgen des Weltkriegs sind, daß sie der Unklugheit und Kurzsichtigkeit der Gestalter der Friedensverträge zugeschrieben werden müssen, kann nur ein voreingenommener sich weigern zuzugeben. Daß die finanziellen Verpflichtungen, die im Laufe des Krieges eingegangen wurden, wie auch die erdrückende Bürde der Reparationen, die auf den Besiegten lastet, in grellem Maße verantwortlich sind für die schlechte Verteilung und die daraus folgende Verknappung der Vorräte an Währungsgold in der Welt, was hinwieder die noch nie dagewesenen Preisstürze wesentlich verschlimmerte und dabei die Lasten der verarmten Länder unbarmherzig erhöhte, wird kein Unparteiischer in Frage stellen. Daß die zwischenstaatlichen Schulden die Massen der Bevölkerung in Europa gefährlich überbeanspruchten, das Gleichgewicht der Staatshaushalte umwarfen, die nationalen Industrien lähmten und die Arbeitslosenzahlen steigerten, ist dem vorurteilsfreien Beobachter nicht weniger offensichtlich. Daß der Geist der Rache, des Argwohns, der Furcht und der Rivalität, den der Krieg hervorrief und den die Bestimmungen der Friedensverträge verewigen und fördern halfen, zu einem enormen Anwachsen des internationalen Wettrüstens führte, was im letzten Jahr (1930) Gesamtausgaben von nicht weniger als einer Milliarde Pfund ausmachte und die weltweite Depression verschärfte, ist eine Wahrheit, die sogar der oberflächlichste Beobachter bereitwillig zugeben wird. Daß ein engstirniger, brutaler Nationalismus, den die Nachkriegstheorie des Selbstbestimmungsrechts verstärken half, hauptverantwortlich ist für die Politik überhöhter, ja prohibitiver Zölle, die dem heilsamen Strom des internationalen Handels ebenso schaden wie dem Mechanismus des internationalen Finanzwesens, ist eine Tatsache, die nur wenige anzufechten wagen.

#59

Die Behauptung wäre jedoch müßig, allein der Krieg mit all seinen Folgeschäden, seinen entfesselten Leidenschaften und seiner Hinterlassenschaft an Leid sei verantwortlich für die beispiellose Verwirrung, in die fast jeder Lebensbereich der zivilisierten Welt gegenwärtig gestürzt ist. ist es nicht eine Tatsache - und das ist der Kerngedanke, den ich hier betonen möchte -, daß die grundlegende Ursache dieser weltweiten Unruhe nicht so sehr den Auswirkungen dessen zuzuschreiben ist, was man früher oder später als eine vorübergehende Gewichtsverlagerung in den Angelegenheiten einer sich ständig wandelnden Welt betrachten wird, sondern vielmehr dem Versäumnis jener, die die unmittelbaren Schicksale von Völkern und Nationen in Händen halten, - dem Versäumnis, ihr System wirtschaftlicher und politischer Institutionen den zwingenden Notwendigkeiten eines Zeitalters stürmischer Entwicklung anzupassen? Gehen diese immer wiederkehrenden Krisen, die die heutige Gesellschaft durchzucken, nicht hauptsächlich zu Lasten der bedauerlichen Unfähigkeit der anerkannten Führer in der Welt, die Zeichen der Zeit richtig zu lesen, sich ein für allemal von ihren vorgefaßten Meinungen, ihren engen Glaubensvorstellungen zu lösen und das Räderwerk ihrer jeweiligen Regierungen nach den Maßstäben zu erneuern, die sich aus Bahá'u'lláhs Verkündigung der Einheit der Menschheit, dem hauptsächlichen und hervorragenden Merkmal Seines Glaubens, zwingend ergeben? Denn dieses Prinzip der Einheit der Menschheit, Eckstein der weltumspannenden Herrschaft Bahá'u'lláhs, erfordert nicht mehr und nicht weniger als die Durchführung Seines Planes zur Vereinigung der Welt - des Planes, den wir bereits erwähnt haben. »In jeder Sendung«, schreibt 'Abdu'l-Bahá, »war das Licht göttlicher Führung brennpunktartig auf ein zentrales Thema gerichtet ... In dieser wundersamen Offenbarung, diesem herrlichen Jahrhundert, ist die Grundlage des Glaubens Gottes und das hervorstechende Merkmal Seines Gesetzes das Bewußtsein der Einheit der Menschheit.«

#60

Wie kläglich sind doch die Bemühungen jener Führer menschlicher Institutionen, welche in völliger Mißachtung des Zeitgeistes bestrebt sind, nationale Verfahrensweisen, die längst vergangenen Tagen selbstgenügsamer Nationen entsprachen, einem Zeitalter anzupassen, das entweder, wie von Bahá'u'lláh vorgezeichnet, die Einheit der Welt erreichen oder aber zugrunde gehen muß. In einer so kritischen Stunde der Kulturgeschichte geziemt es den Führern aller Nationen der Erde, groß und klein, im Osten wie im Westen, Sieger oder Besiegte, dem Posaunenruf Bahá'u'lláhs Beachtung zu schenken und, völlig durchdrungen von einem Empfinden der Weltsolidarität, dem sine qua non der Treue zu Seiner Sache, sich mannhaft zu erheben, um den einen Heilsplan, den Er, der göttliche Arzt, für eine gequälte Menschheit verordnet hat, zur Gänze durchzuführen. Mögen sie ein für allemal jede vorgefaßte Meinung, jedes nationale Vorurteil ablegen und den erhabenen Rat 'Abdu'l-Bahás, des autorisierten Erklärers Seiner Lehren, beachten: »Sie können Ihrem Land am besten dienen«, erwiderte 'Abdu'l-Bahá einem hohen Beamten im Dienste der Bundesregierung der vereinigten Staaten von Amerika auf die Frage, wie er die Interessen seiner Regierung und seines Volkes am besten fördern könnte, »indem Sie in Ihrer Eigenschaft als Weltbürger bestrebt sind mitzuhelfen, daß das Prinzip des Föderalismus, das der Regierung Ihres eigenen Landes zugrunde liegt, endlich auf die Beziehungen angewandt wird, die jetzt zwischen den Völkern und Nationen der Welt bestehen.«

#61

In Das Geheimnis göttlicher Kultur, jenem hervorragenden Beitrag 'Abdu'l-Bahás zur künftigen Neuordnung der Welt, lesen wir folgendes:

»Wahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen und hochgesinnten Herrscher - leuchtende Vorbilder der Ergebenheit und Entschlossenheit - mit festem Entschluß und klarem Blick zu Nutz und Glück der ganzen Menschheit daran geht, den Weltfrieden zu stiften. Sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand gemeinsamer Beratung machen und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, einen Weltvölkerbund zu schaffen. Sie müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen eindeutig, unverletzlich und bestimmt sind. Sie müssen ihn der ganzen Welt bekannt geben und die Bestätigung der gesamten Menschheit für ihn erlangen.«

»Dieses erhabene und edle Unterfangen - der wahre Quell des Friedens und Wohlergehens für alle Welt - sollte allen, die auf Erden wohnen, heilig sein. Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und den Bestand dieses größten aller Bündnisse zu sichern. In diesem allumfassenden Vertrag sollten die Grenzen jedes einzelnen Landes deutlich festgelegt, die Grundsätze, die den Beziehungen der Regierungen untereinander zugrunde liegen, klar verzeichnet und alle internationalen Vereinbarungen und Verpflichtungen bekräftigt werden. In gleicher Weise sollte der Umfang der Rüstungen für jede Regierung genauestens umgrenzt werden, denn wenn die Zunahme der Kriegsvorbereitungen und Truppenstärken in irgendeinem Land gestattet würde, so würde dadurch das Mißtrauen anderer geweckt werden. Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so festgelegt werden, daß bei späterer Verletzung einer Bestimmung durch eine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die gesamte Menschheit sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu stürzen. Sollte dieses größte aller Heilmittel auf den kranken Weltkörper angewandt werden, so wird er sich gewiß wieder von seinen Leiden erholen und dauernd bewahrt und heil bleiben.«

#62

»Einzelne«, fügt Er weiter hinzu, »welche die im menschlichen Streben ruhende Kraft nicht kennen, halten diese Gedanken für völlig undurchführbar, ja für jenseits dessen, was selbst die äußersten Anstrengungen des Menschen je erreichen können; doch dies ist nicht der Fall. Im Gegenteil kann dank der unerschöpflichen Gnade Gottes, der Herzensgüte Seiner Begünstigten, den beispiellosen Bemühungen weiser und fähiger Seelen und den Gedanken der unvergleichlichen Führer dieses Zeitalters nichts, was es auch sei, als unerreichbar angesehen werden. Eifer, unermüdlicher Eifer ist nötig. Nur unbezähmbare Entschlußkraft kann das Werk vollbringen. Manches hat man in vergangenen Zeiten als reines Hirngespinst betrachtet; heute ist es leicht durchführbar geworden. Warum sollte diese wichtigste und erhabenste Sache - das Tagesgestirn am Himmelszelt wahrer Kultur und die Ursache des Ruhmes, des Fortschrittes, des Wohlergehens und Erfolges der ganzen Menschheit - unmöglich sein? Der Tag wird sicher kommen, an dem ihr klares Licht Erleuchtung über die gesamte Menschheit gießen wird.«



+3:6 #63
Die sieben Lichtstrahlen der Einheit

Um Sein hehres Thema weiter zu erläutern, offenbarte 'Abdu'l-Bahá in einem Seiner Sendschreiben folgendes:

»Ob wohl in vergangenen Religionszyklen Einklang begründet wurde, war in Ermangelung der Mittel die Einheit der Menschheit unerreichbar. Die Kontinente blieben weit voneinander getrennt, ja sogar unter den Völkern eines und desselben Kontinents waren Verbindung und Austausch nahezu unmöglich. Infolgedessen waren der Umgang, die Verständigung und die Einheit zwischen allen Völkern und Geschlechtern der Erde fast unerreichbar. Heute jedoch haben sich die Kommunikationsmittel vervielfacht, und die fünf Kontinente der Erde sind zu einem Ganzen verschmolzen ... Ebenso sind alle Glieder der menschlichen Familie, ob Völker oder Regierungen, Städte oder Dörfer, in steigendem Maße voneinander abhängig geworden. Keiner kann mehr in Selbstgenügsamkeit leben, weil politische Bindungen alle Völker und Nationen vereinen und die Bande des Handels und der Industrie, der Landwirtschaft und des Bildungswesens Tag für Tag stärker werden. Folglich ist die Einheit der ganzen Menschheit heutzutage erreichbar geworden. Wahrlich, dies ist nichts anderes als eines der Wunder dieses wunderbaren Zeitalters, dieses ruhmreichen Jahrhunderts. Die vergangenen Zeitalter waren all dessen beraubt, denn dieses Jahrhundert - das Jahrhundert des Lichtes - ist mit einzigartiger, unvergleichlicher Herrlichkeit, mit Macht und Erleuchtung ausgestattet worden. Schließlich wird man sehen, wie hell seine Lichtstrahlen in der Gemeinschaft der Menschen leuchten werden.«

#64

»Seht, wie dieses Licht nun am dunklen Horizont der Welt zu dämmern beginnt! Der erste Lichtstrahl ist die Einheit im politischen Bereich; der allererste Schimmer davon laßt sich nunmehr erkennen. Der zweite Lichtstrahl ist die Einheit des Denkens in weltweiten Unternehmungen, die bald vollzogen werden wird. Der dritte Lichtstrahl ist die Einheit in der Freiheit, die sicherlich eintreten wird. Der vierte Lichtstrahl ist die Einheit in der Religion, der Eckstein, auf dem die Grundlage ruht; auch sie wird durch die Macht Gottes in ihrer ganzen Strahlenfülle offenbar werden. Der fünfte Lichtstrahl ist die Einheit der Nationen - eine Einheit, die in diesem Jahrhundert sicher begründet werden wird, so daß sich alle Völker der Welt als Bürger eines gemeinsamen Vaterlandes betrachten. Der sechste Lichtstrahl ist die Einheit der Rassen, die alle, die auf Erden wohnen, zu Völkern und Geschlechtern einer Rasse macht. Der siebte Lichtstrahl ist die Einheit der Sprache, d. h. die Wahl einer universalen Sprache, in der alle Menschen unterrichtet werden und miteinander verkehren. All dies wird unvermeidlich eintreten, weil die Macht des Reiches Gottes seine Verwirklichung fördern und unterstützen wird.«



+3:7 #65
Ein Welt-Überstaat

In Seinem Sendschreiben an Königin Viktoria wandte sich Bahá'u'lláh vor über 60 Jahren (um 1870) an die »Schar der Herrscher auf Erden« und offenbarte folgende Worte:

»Beratet miteinander und laßt euch nur das angelegen sein, was der Menschheit nützt und ihre Lage bessert ... Betrachtet die Welt wie einen menschlichen Körper. Obwohl er bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, ist er aus verschiedenen Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen worden. Keinen einzigen Tag lang wurde ihm Linderung zuteil, nein, im Gegenteil, sein Übel verschlimmerte sich, weil er in die Behandlung unwissender Ärzte fiel, die ihren persönlichen Wünschen nachgaben und sich schmählich irrten. Wenn einmal durch die Sorgfalt eines fähigen Arztes ein Glied des Körpers geheilt wurde, so blieb dennoch der übrige Teil so leidend wie zuvor. So unterrichtet euch der Allwissende, der Allweise ... Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt verordnet hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Dies kann nicht anders erreicht werden als durch die Macht eines befähigten, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, dies ist die Wahrheit, und alles andere ist nichts als Irrtum.«

In einem weiteren Abschnitt fügt Bahá'u'lláh diese Worte hinzu: »Wir sehen euch jedes Jahr eure Ausgaben vermehren und deren Lasten euren Untertanen aufbürden. Das ist, wahrlich, höchst ungerecht. Fürchtet die Seufzer und Tränen dieses Unterdrückten und ladet nicht übermäßige Lasten auf eure Völker ... versöhnt euch miteinander, so daß ihr nicht mehr Kriegsrüstungen benötigt, als dem Schutz eurer Gebiete und Länder angemessen ist. Hütet euch, den Rat des Allwissenden, des Glaubwürdigen, zu mißachten. Seid einig, o Herrscher der Erde, denn dadurch wird der Sturm des Haders gestillt, und eure Völker finden Ruhe. Sollte einer unter euch gegen einen anderen die Waffen ergreifen, so erhebt euch alle gegen ihn, denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.«

#66

Was anderes können diese schwerwiegenden Worte bedeuten als den Hinweis, daß die Einschränkung der vollen nationalen Souveränität als unerläßlicher erster Schritt zur Bildung des künftigen Gemeinwesens aller Nationen der Erde unumgänglich geworden ist? Ein Welt-Überstaat, an den alle Nationen der Erde willig den Anspruch, Krieg zu führen, gewisse Rechte der Erhebung von Steuern und alle Rechte auf Kriegsrüstung außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihren Gebieten abtreten - ein solcher Staat muß notwendigerweise in irgendeiner Form entwickelt werden. Sein Organisationsrahmen wird eine internationale Exekutive einschließen müssen, die jedem widerspenstigen Mitglied der Gemeinschaft ihre höchste und unantastbare Autorität aufzwingen kann; ein Weltparlament, dessen Mitglieder durch das Volk aller Länder gewählt werden und in ihrer Amtsübernahme von den jeweiligen Regierungen bestätigt werden, sowie einen Obersten Gerichtshof, dessen Urteil bindende Gültigkeit haben wird, selbst in Fällen, in denen die Parteien ihren Streit nicht freiwillig seiner Rechtsfindung unterwerfen. Eine Weltgemeinschaft, in der alle wirtschaftlichen Schranken für immer niedergerissen werden, in der die gegenseitige Abhängigkeit von Kapital und Arbeit ausdrücklich anerkannt wird, in der das Geschrei religiösen Eifers und Streites endgültig verstummt ist, in der die Flamme des Rassenhasses ein für allemal gelöscht ist, deren einheitliches System internationalen Rechts als Ergebnis der wohlüberlegten Entscheidung der weltweit vereinigten Volksvertreter durch das sofortige, zwingende Eingreifen der vereinten Streitkräfte der verbündeten sanktioniert wird; und schließlich: eine Weltgemeinschaft, in der der Sturm eines tollkühn-militanten Nationalismus in ein dauerhaftes Bewußtsein des Weltbürgertums verwandelt ist - so wahrlich sieht, in groben Zügen gezeichnet, die von Bahá'u'lláh vorausgeschaute Ordnung aus, eine Ordnung, die einmal als die edelste Frucht eines langsam heranreifenden Zeitalters betrachtet werden wird.

»Das Tabernakel der Einheit«, verkündet Bahá'u'lláh in Seiner Botschaft an die ganze Menschheit, »ist errichtet worden; betrachtet euch nicht gegenseitig als Fremde ... Ihr seid alle die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges... Die Erde ist nur ein Land und alle Menschen sind seine Bürger ... Der Mensch rühme sich nicht dessen, daß er sein Land liebt, eher dessen, daß er die Menschheit liebt.«



+3:8 #67
Einheit in der Mannigfaltigkeit

Der belebende Sinn des weltweiten Gesetzes Bahá'u'lláhs darf keine Befürchtungen hervorrufen. Weit davon entfernt, auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung abzuzielen, sucht es ihre Grundlage zu erweitern, ihre Institutionen in einer Weise umzugestalten, die mit den Bedürfnissen einer stets sich wandelnden Welt in Einklang steht. Es kann mit keiner rechtmäßigen Untertanenpflicht in Widerspruch sein, noch kann es wirkliche Treue untergraben. Seine Absicht ist weder, die Flamme einer vernünftigen Vaterlandsliebe in den Herzen der Menschen zu ersticken, noch den Grundsatz nationaler Selbständigkeit abzuschaffen, der so wesentlich ist, wenn die Übel übertriebener Zentralisation vermieden werden sollen. Es übersieht weder die Verschiedenheiten der völkischen Herkunft, des Klimas, der Geschichte, Sprache und Überlieferung, des Denkens und der Gewohnheit, die die Völker und Länder der Welt unterschiedlich gestalten, noch versucht es, sie auszumerzen. Es ruft nach größerer Treue, stärkerem Bemühen als irgendein anderes, das je die Menschenwelt beseelt hat. Es besteht auf der Unterordnung nationaler Regungen und Belange unter die zwingenden Ansprüche einer geeinten Welt. Es verwirft einerseits die übersteigerte Zentralisation und entsagt zum andern allen versuchen der Gleichmacherei. Seine Losung ist Einheit in der Mannigfaltigkeit, wie 'Abdu'l-Bahá selbst erklärte:

#68

»Betrachtet die Blumen eines Gartens. Obwohl sie nach Art, Farbe, Form und Gestalt verschieden sind, werden sie doch vom Wasser einer Quelle erfrischt, vom selben Windhauch belebt und von den Strahlen einer Sonne gestärkt, und so erhöht die Verschiedenheit ihren Reiz und steigert ihre Schönheit. Wie unerfreulich wäre es für das Auge, wenn alle Blumen und Pflanzen, Blätter und Blüten, Fruchte, Zweige und Bäume jenes Gartens die gleiche Form und Farbe hätten! Verschiedenheit in Farbe, Form und Gestalt bereichert und verschönert den Garten und erhöht dessen Ausdruck. Werden verschiedene Schattierungen von Gedanken, Temperamenten und Charakteren unter der Macht und dem Einfluß einer zentralen Kraftquelle zusammengeführt, so wird in gleicher Weise die Schönheit und der Glanz menschlicher Vollkommenheit offenbar und sichtbar werden. Nichts als die himmlische Macht des Wortes Gottes, die die Wirklichkeit aller Dinge beherrscht und übersteigt, ist fähig, die auseinandergehenden Gedanken, Gefühle, Ideen und Überzeugungen der Menschenkinder in Einklang zu bringen.«

#69

Der Ruf Bahá'u'lláhs ist in erster Linie gegen jede Art von Provinzialismus, jede Engstirnigkeit, jedes Vorurteil gerichtet. Wenn lang gehegte Ideale, wenn altehrwürdige Institutionen, wenn gesellschaftliche Postulate und religiöse Glaubensbekenntnisse das Wohl der Gesamtheit aller Menschen nicht mehr fördern, wenn sie den Bedürfnissen einer sich ständig entwickelnden Menschheit nicht länger gerecht werden, dann fegt sie hinweg und verbannt sie in die Rumpelkammer veralteter und vergessener Doktrinen! Warum sollten sie in einer Welt, die dem unabänderlichen Gesetz des Wandels und des Verfalls unterliegt, von der Entartung verschont bleiben, die alle menschlichen Einrichtungen zwangsläufig ereilt? Rechtsnormen, politische und wirtschaftliche Theorien sind nur dazu da, die Interessen der Menschheit als Ganzes zu schützen; nicht aber ist die Menschheit dazu da, für die unversehrte Aufrechterhaltung eines bestimmten Gesetzes oder Lehrsatzes gekreuzigt zu werden.



+3:9 #70
Das Prinzip der Einheit

Hier darf sich kein Denkfehler einschleichen! Der Grundsatz der Einheit der Menschheit - der Angelpunkt, um den alle Lehren Bahá'u'lláhs kreisen - ist kein bloßer Ausdruck unkundiger Gefühlsseligkeit oder unklarer frommer Hoffnung. Sein Ruf ist nicht gleichbedeutend mit einer bloßen Wiedererweckung des Geistes der Brüderlichkeit und des guten Willens unter den Menschen, noch geht es nur um die Förderung harmonischer Zusammenarbeit zwischen einzelnen Völkern und Ländern. Die Folgerungen gehen tiefer, der Anspruch ist höher als alles, was den früheren Propheten zu äußern erlaubt war. Die Botschaft gilt nicht nur dem einzelnen, sondern befaßt sich in erster Linie mit der Natur jener notwendigen Beziehungen, die alle Staaten und Nationen als Glieder einer menschlichen Familie verbinden müssen. Der Grundsatz der Einheit stellt nicht nur die Verkündigung eines Ideals dar, sondern ist unzertrennlich mit einer Institution verbunden, die seine Wahrheit verkörpert, seine Gültigkeit bekundet und seinen Einfluß dauernd zur Geltung bringt. Er verlangt eine organische, strukturelle Veränderung der heutigen Gesellschaft, eine Veränderung, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat. Er stellt eine Herausforderung, kühn und weltumfassend, für die nationalen Glaubensparolen dar, deren Zeit vorüber ist und die im normalen Verlauf der Ereignisse, wie die Vorsehung sie formt und fügt, einem neuen Evangelium Platz machen müssen, das grundlegend anders und unendlich höherwertig ist als das, was die Welt bis jetzt begriffen hat. Er fordert nichts Geringeres als den Wiederaufbau und die Entmilitarisierung der ganzen zivilisierten Welt, einer Welt, die in allen Grundfragen des Lebens, in ihrem politischen Mechanismus, ihren geistigen Bestrebungen, in Handel und Finanzwesen, Schrift und Sprache organisch zusammengewachsen und doch in den nationalen Eigentümlichkeiten ihrer verbündeten Staatenglieder von einer unendlichen Mannigfaltigkeit ist.

Er stellt die Vollendung der menschlichen Entwicklung dar, einer Entwicklung, die ihren Uranfang in der Geburt des Familienlebens hat, deren weitere Entfaltung zur Stammeseinheit und zur Bildung des Stadtstaates führte, und die sich später zur Bildung unabhängiger, souveräner Nationen erweiterte.

#71

Das Prinzip der Einheit der Menschheit, wie Bahá'u'lláh es verkündet, bringt nicht mehr und nicht weniger als die heilige Versicherung mit sich, daß der Durchbruch zu dieser letzten Stufe einer unendlich langen Entwicklung nicht nur notwendig, sondern unumgänglich ist, daß sich seine Verwirklichung rasch nähert und daß nichts außer einer Kraft, die aus Gott geboren ist, ihn erfolgreich herbeiführen kann.

Dieser wundervolle Plan findet seine ersten Kundgebungen in dem bewußten Bemühen und den bescheidenen praktischen Erfolgen der erklärten Anhänger Bahá'u'lláhs, die, der Erhabenheit ihrer Berufung eingedenk und in die veredelnden Grundsätze Seiner Gemeinschaftsordnung eingeweiht, voranstreben, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Mittelbar drückt sich dieser Plan in der allmählichen Verbreitung des Geistes der Weltsolidarität aus, der spontan aus dem Wirrwarr einer ungeordneten Gesellschaft aufsteigt.

Es wäre anregend, das geschichtliche Wachstum und die Entfaltung dieses erhabenen Gottesplanes, der in steigendem Maße die Aufmerksamkeit der für das Schicksal von Völkern und Nationen verantwortlichen auf sich ziehen muß, zu verfolgen. Den Staaten und Fürstentümern, die aus den Wirren der großen napoleonischen Umwälzung ans Licht traten und deren Hauptziel es war, ihre Rechte auf selbstbestimmte Existenz wiederzugewinnen oder aber ihre nationale Einheit zu erlangen, schien ein Plan der Weltsolidarität nicht nur ferne Phantasie, sondern schlechthin unbegreiflich. Erst als die Kräfte des Nationalismus die Grundlagen der Heiligen Allianz, die ihre aufkommende Macht zu zügeln suchte, umgestoßen hatten, wurde die Möglichkeit einer Weltordnung, die in ihrer Reichweite die politischen Einrichtungen dieser Nationen überragt, ernsthaft erwogen. Erst nach dem Weltkrieg begannen diese Vertreter eines hochmütigen Nationalismus damit, eine solche Weltordnung als Gegenstand einer verderblichen Lehre zu betrachten, die nur darauf abzielte, die Loyalität, von der ihr nationales Leben abhängt, zu untergraben. Mit demselben Nachdruck, mit dem die Mitglieder der Heiligen Allianz den aufkommenden Nationalismus in den vom napoleonischen Joch befreiten Völkern zu ersticken suchten, kämpften und kämpfen diese Verfechter einer uneingeschränkten nationalen Souveränität, um Grundsätze unglaubwürdig zu machen, von denen ihre eigene Rettung letztlich abhängen muß.

#72

Die hitzige Opposition, die dem mißlungenen Versuch des Genfer Protokolls¹ entgegenprallte, der Spott, mit dem man den nachfolgenden Vorschlag der Vereinigten Staaten von Europa überschüttete, und der Fehlschlag des Rahmenplanes für eine europäische Wirtschaftsunion können als Rückschläge in den Bemühungen betrachtet werden, die eine Handvoll weitsichtiger Menschen ernsthaft unternimmt, um diesem edlen Ideal näher zu kommen. Und doch: Haben wir nicht das Recht, neuen Mut zu schöpfen, wenn wir feststellen, daß bereits die Diskussion solcher Vorschläge ein Beweis für ihr ständiges Wachstum in den Gedanken und Herzen der Menschen ist? Können wir nicht in den organisierten Versuchen, einen so erhabenen Plan zu verunglimpfen, auf einer breiteren Ebene die Wiederholung jener aufwühlenden Kämpfe und hitzigen Kontroversen sehen, die der Geburt der geschlossenen Nationalstaaten des Westens vorangingen und zu ihrem Wiederaufbau beitrugen?

¹ Genfer Protokoll über die Ächtung des Angriffskrieges 1924



+3:10 #73
Die Föderation der Menschheit

Nehmen wir nur ein Beispiel : Wie überzeugt klangen die Erklärungen, die in den Tagen vor der Vereinigung der Staaten des nordamerikanischen Kontinents über die unüberwindlichen Schranken auf dein Weg zu diesem Zusammenschluß abgegeben wurden! Hat man nicht ausführlich und nachdrücklich dargelegt, die widersprüchlichen Interessen, das gegenseitige Mißtrauen, die Unterschiede in Amtsführung und Brauchtum zwischen den Staaten seien so stark, daß keine geistliche oder weltliche Macht jemals hoffen dürfe, sie zu harmonisieren oder zu beherrschen? Und doch, wie verschieden waren die vor 150 Jahren (um 1870) herrschenden Bedingungen von denen, die für die heutige Gesellschaft bezeichnend sind! Ohne Übertreibung kann man sagen, daß das Fehlen jener Erleichterungen, die der neueste wissenschaftliche Fortschritt der heutigen Menschheit dienstbar machte, das Problem, die amerikanischen Staaten zu einem Bund zu verschweißen, weit komplizierter machte als es die Aufgabe ist, der eine gespaltene Menschheit bei ihrem bemühen um Welteinheit gegenübersteht.

Wer weiß andererseits, ob nicht für die Verwirklichung eines so erhabenen Planes noch schlimmere Leiden über die Menschheit kommen müssen als alle, die sie bis jetzt ausgestanden hat? Konnte etwas Geringeres als das Feuer eines Bürgerkrieges mit all seiner Gewalttätigkeit und seinen Wechselfällen - ein Krieg, der die große amerikanische Republik fast gespalten hätte - die Staaten nicht nur zu einem Bund unabhängiger Einheiten, sondern zu einer Nation verschmelzen, trotz all der völkischen Unterschiede, die ihre Bestandteile charakterisieren? Daß eine so grundlegende Umwälzung mit einem so weitreichenden Wandel in der Gesellschaftsstruktur auf dem gewöhnlichen Weg der Diplomatie und der Erziehung erreicht werden kann, scheint höchst unwahrscheinlich, Wir brauchen nur die blutgetränkte Menschheitsgeschichte zu betrachten, um festzustellen, daß allein die heftigste geistige und körperliche Pein imstande war, derart epochemachende Wandlungen, wie sie die wichtigsten Wahrzeichen der Kulturentwicklung bilden, rasch herbeizuführen.



+3:11 #74
Das Feuer des Gottesgerichts

So groß und weitreichend jene früheren Veränderungen auch gewesen sind - in ihrer richtigen Perspektive betrachtet, können sie doch nur als zweitrangige Anpassungsvorgänge erscheinen, als Vorspiel für diese Wandlung von unvergleichlicher Majestät und Reichweite, die die Menschheit in unserem Zeitalter erdulden muß. Daß nur die Kräfte einer Weltkatastrophe eine derart neue Phase menschlichen Denkens vorantreiben können, wird leider immer deutlicher. Daß nichts Geringeres als das Feuer eines harten Gottesgerichts, heftiger als je zuvor, die uneinigen Elemente der heutigen Zivilisation zu sich ergänzenden Bestandteilen des künftigen Weltgemeinwesens verschweißen und verschmelzen kann, ist eine Wahrheit, die künftige Ereignisse immer mehr beweisen werden.

Die prophetische Stimme Bahá'u'lláhs warnte in den abschließenden Sprüchen der verborgenen Worte »die Völker der Welt«, daß »unerwartete Trübsal sie verfolgt und schmerzhafte Vergeltung ihrer harrt«. Dies wirft in der Tat ein gespenstisches Licht auf die unmittelbaren Geschicke einer bekümmerten Menschheit. Nur eine Feuerprobe, aus der diese Menschheit geläutert und vorbereitet wiederersteht, kann ihr ein Gefühl für die Verantwortung einbrennen, welche die Führer eines neugeborenen Zeitalters auf ihre Schultern nehmen müssen.

#75

Zum wiederholten Male möchte ich ihre Aufmerksamkeit auf jene bedeutenden Worte Bahá'u'lláhs lenken, die ich bereits angeführt habe: »Und wenn die festgesetzte Stunde kommt, wird plötzlich erscheinen, was der Menschheit Glieder zittern macht.«

Hat nicht 'Abdu'l-Bahá selbst in unzweideutiger Sprache versichert, daß »ein zweiter Krieg, grimmiger als der letzte, sicherlich ausbrechen wird«?

Von der Vollendung dieses kolossalen, dieses unsagbar ruhmreichen Unternehmens - eines Unternehmens, das die Erfindergabe römischer Staatskunst in Verwirrung stürzte, vor dem die verzweifelten Kraftakte eines Napoleon versagten - wird die endgültige Verwirklichung jenes Tausendjährigen Reiches abhängen, von dem die Dichter aller Zeiten sangen und die Seher seit alters träumten. Von dieser Vollendung wird es abhängen, daß die Verheißungen der alten Propheten sich erfüllen, wonach die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden und der Löwe und das Lamm beisammen ruhen. Allein diese Vollendung kann zum Reich des Himmlischen Vaters führen, wie es der Glaube Jesu Christi verheißen hat. Allein diese Vollendung kann das Fundament für die neue Weltordnung, wie sie Bahá'u'lláh vor Augen stand, legen - eine Weltordnung, die, wenn auch nur schwach, auf Erden den unbeschreiblichen Strahlenglanz des Reiches 'Abhá widerspiegeln wird.

#76

Ein weiteres Wort zum Beschluß: Die Verkündigung der Einheit der Menschheit - der Eckstein der allumfassenden Herrschaft Bahá'u'lláhs - kann unter keinen Umständen mit solchen Verlautbarungen frommer Hoffnung verglichen werden, wie sie früher geäußert wurden, Bahá'u'lláh hat nicht nur einen Ruf erschallen lassen, allein und ohne Hilfe im Angesicht des hartnäckigen, vereinten Widerstandes zweier der mächtigsten orientalischen Herrscher Seiner Zeit, während Er selbst ein verbannter und Gefangener in ihren Händen war. Sein Ruf enthält zugleich eine Warnung und ein versprechen: eine Warnung, daß in ihm selbst das einzige Mittel zum Heil einer grausam leidenden Welt liegt, und ein versprechen, daß die Verwirklichung dieses Heils nahe bevorsteht.

Verkündet zu einer Zeit, als man seine Möglichkeit noch in keinem Teil der Erde ernstlich ins Auge faßte, wird dieser Ruf kraft der himmlischen Macht des Geistes Bahá'u'lláhs heute von einer wachsenden Zahl denkender Menschen nicht nur als eine sich anbahnende Möglichkeit betrachtet, sondern als das notwendige Ergebnis der Kräfte, die in unserer Welt am Werke sind.



+3:12 #77
Das Sprachrohr Gottes

Sicherlich hat es diese Welt - durch den erstaunlichen Fortschritt im Reich der Physik sowie durch die weltweite Ausdehnung von Handel und Industrie zusammengeschrumpft und in einen eng verflochtenen Organismus verwandelt, unter dem lastenden Druck der weltwirtschaftlichen Mächte und inmitten der Fallgruben einer materialistischen Zivilisation - bitter nötig, daß ihr die Wahrheit, die allen Offenbarungen der Vergangenheit zugrunde liegt, neu dargereicht wird, und zwar in einer Sprache, die ihren wesentlichen Bedürfnissen entspricht. Und welche Stimme außer Bahá'u'lláh, dem Sprachrohr Gottes für dieses Zeitalter, ist imstande, eine Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen, so radikal wie die Veränderung, die Er bereits in den Herzen jener Männer und Frauen bewirkte, die aus ihrer scheinbaren Verschiedenartigkeit und Unversöhnlichkeit zur Körperschaft Seiner erklärten Anhänger auf der ganzen Erde zusammengewachsen sind?

Daß eine so mächtige Idee im menschlichen Denken rasch aufblühen wird, daß sich Stimmen zu ihrer Unterstützung erheben werden, daß ihre wesentlichen Strukturen im Bewußtsein der Machthaber rasch kristallisieren müssen, kann in der Tat kaum jemand bezweifeln. Daß ihre bescheidenen Anfänge in der weltweiten Gemeinschaftsordnung, die das Wesen der Anhängerschaft Bahá'u'lláhs ausmacht, bereits Gestalt annehmen, können nur jene, deren Herzen vom Vorurteil vergiftet sind, übersehen.

Uns, geliebte Mitarbeiter, fällt die alles andere überragende Pflicht zu, mit klarer Schau und unablässigem Eifer weiter zur Vollendung jenes Bauwerks beizutragen, dessen Grundmauern Bahá'u'lláh in unsere Herzen gelegt hat. Uns obliegt es, gesteigerte Hoffnung und Kraft aus dem allgemeinen Trend der Ereignisse abzuleiten, wie dunkel ihre unmittelbaren Auswirkungen auch sein mögen, und mit unverminderter Inbrunst zu beten, Er möge die Verwirklichung jener wunderbaren Vision beschleunigen, jener strahlendsten Ausgießung Seines Geistes, jener edelsten Frucht der edelsten Kultur, die die Welt je gesehen hat.

Könnte nicht der hundertste Jahrestag der Erklärung Bahá'u'lláhs¹ den feierlichen Beginn eines so gewaltigen Zeitalters in der Menschheitsgeschichte kennzeichnen?

Ihr wahrer Bruder Shoghi

Haifa, Palästina 28. November 1931

¹ 1863









#81
4
Das Goldene Zeitalter der Sache Bahá'u'lláhs

An die Geliebten Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen
in den Vereinigten Staaten und in Kanada

+4:1

Freunde und Mitverteidiger des Glaubens Bahá'u'lláhs, wie bedeutsam die Veränderungen einer rasch erwachenden Menschheit in dieser Übergangsphase ihrer wechselvollen Geschichte auch sind, die beständige Festigung der Institutionen, welche in jenem Land zu errichten die Verwalter des Glaubens Bahá'u'lláhs sich mühen, sollten selbst jenen, die bislang nur unvollkommen mit den zu überwindenden Hindernissen oder den kargen Hilfsquellen bekannt sind, ebenso bedeutsam erscheinen.

Daß ein Glaube, der vor zehn Jahren (1921) durch den plötzlichen Tod eines unvergleichlichen Meisters schwer erschüttert wurde, im Angesicht furchtbarer Hindernisse seine Einheit bewahrte, dem boshaften Angriff seiner Feinde widerstand, seine Verleumder zum Schweigen brachte, die Grundlagen seiner ausgedehnten Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung verbreiterte und Institutionen, die seine ideale der Andacht und des Dienstes versinnbildlichen, auf diesen Grundlagen errichtete - das alles sollte als voller Beweis für die unbesiegbare Macht gelten, mit welcher der Allmächtige diesen Glauben von seinen Uranfängen an auszustatten beliebte.

#82

Daß die mit dem Namen Bahá'u'lláhs verknüpfte Sache sich aus verborgenen Quellen himmlischer Kraft versorgt, die keine noch so machtvolle menschliche Persönlichkeit von noch so zauberhaftem Glanz ersetzen kann; daß sie voll auf jenen mystischen Born vertraut, mit dem kein weltlicher Vorzug, kein Reichtum, kein Ruhm, keine Gelehrsamkeit wetteifern kann ; daß sie sich auf eine geheimnisvolle Weise verbreitet, die den von aller Welt angenommenen Maßstäben völlig widerspricht - all dies wird, soweit noch nicht ersichtlich, in wachsendem Maße offenbar werden, während die Sache Gottes in ihrem Kampf um die geistige Wiedergeburt der Menschheit zu immer neuen Siegen voranstürmt.

Wie hätte diese Sache auch, ohne jede Unterstützung durch den Rat und die Hilfsquellen der Weisen, der Reichen und der Gelehrten ihres Vaterlandes, so erfolgreich die Ketten brechen können, die zur Stunde ihrer Geburt auf ihr lasteten, wie hätte sie unversehrt den Stürmen entrinnen können, die ihre Kindheit durchwühlten, wäre ihr Lebensodem nicht von jenem Geist getragen, der aus Gott geboren ist und von dem jeder Erfolg, wie und wo er auch angestrebt wird, letzten Endes abhängt?

Ich brauche hier nicht, auch nicht im kürzesten Umriß, an die herzzerreißenden Einzelheiten jenes entsetzlichen Trauerspiels um die Geburt unseres geliebten Glaubens erinnern, inszeniert in einem Lande, das für seinen ungezügelten Fanatismus, seine krasse Unbildung, seine ungezähmte Grausamkeit berüchtigt ist. Auch brauche ich nicht bei dem Heldenmut zu verweilen, der hehren Seelenstärke, welche den grausamen Folterknechten jenes Volkes Trotz bot, oder die große Zahl, die reine Lebensführung derjenigen zu betonen, die bereitwillig starben, damit ihre Sache lebe und gedeihe. Notwendig ist es auch nicht, auf die Entrüstung und die Gefühle uneingeschränkter Bewunderung einzugehen, die jene unbeschreiblichen Greueltaten in den Herzen von zahllosen Männern und Frauen weit entfernt von ihrem Schauplatz auslösten. Es genüge zu sagen, daß diesen Helden im Geburtsland Bahá'u'lláhs das unschätzbare Vorrecht verliehen wurde, die frühen Triumphe ihres zärtlich gehegten Glaubens mit ihrem Lebensblut zu besiegeln und den Weg für seinen bevorstehenden Sieg zu bereiten. Im Blute jener ungezählten persischen Märtyrer lag die Saat der göttlich bestimmten Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, welche jetzt, aus ihrem Heimatboden wegverpflanzt, unter ihrer liebenden Fürsorge zu einer neuen Ordnung aufblüht, um letztlich die ganze Menschheit in ihrem Schatten zu vereinen.



+4:2 #83
Amerikas Beitrag zur Sache Gottes

Denn so groß die Errungenschaften, so unvergeßlich die Dienste jener persischen Pioniere im heroischen Zeitalter der Sache Gottes waren, der Beitrag, den ihre geistigen Nachkommen, die amerikanischen Gläubigen, als Baumeister der organischen Struktur dieser Sache heute für die Erfüllung eines Planes leisten, der das Goldene Zeitalter eben dieser Sache einleiten soll - dieser Beitrag ist in dem gegenwärtigen, einsatzheischenden Abschnitt der Glaubensgeschichte um nichts weniger verdienstvoll. Kaum einer, das wage ich zu behaupten, kaum einer der bevorrechtigten Gestalter und Wächter der Verfassung des Glaubens Bahá'u'lláhs hat die Hauptrolle, die der nordamerikanischen Erdteil in der künftigen Ausrichtung ihres weltumspannenden Glaubens zu spielen bestimmt ist, auch nur in Umrissen erkannt. Auch scheint sich noch keine merkliche Anzahl von ihnen des entscheidenden Einflusses genügend bewußt zu sein, den sie bereits jetzt auf die Führung und Leitung der Belange dieses Glaubens ausüben.

#84

»Der Erdteil Amerika«, schrieb 'Abdu'l-Bahá im Februar 1917, »ist in den Augen des einen wahren Gottes dasjenige Land, in dem der Strahlenglanz Seines Lichtes offenbart, die Geheimnisse Seines Glaubens entschleiert, die Rechtschaffenen wohnen und die Freien sich versammeln werden.«

Daß die Anhänger der Sache Bahá'u'lláhs in den ganzen vereinigten Staaten und in Kanada zunehmend die Wahrheit dieser feierlichen Bestätigung erweisen, wird selbst einem oberflächlichen Betrachter der Berichte über ihre mannigfachen Dienste, ihre persönlichen wie gemeinschaftlichen Bemühungen, deutlich. Die spontanen Treuebekundungen, die ihre Antwort auf die ausdrücklichen Wünsche unseres heimgegangenen Meisters kennzeichneten, die Großzügigkeit, mit der sie bei mehr als einer Gelegenheit den Bedürftigen und Bedrängten unter ihren persischen Brüdern hilfreich die Hand reichten, die Tatkraft, mit der sie sich der schamlosen Angriffe erwehrten, welche unbeugsame Feinde von innen und außen immer häufiger gegen sie richteten, das Beispiel, das die Körperschaft ihrer nationalen Vertreter den Schwesterräten mit der Gestaltung der Werkzeuge für die wirksame Erledigung ihrer gemeinsamen Pflichten gab, ihr erfolgreiches Einstehen für ihre unterdrückten Mitarbeiter in Rußland, die moralische Unterstützung für ihre ägyptischen Glaubensbrüder in einem gefährlichen Abschnitt des dortigen Kampfes um die Befreiung von den Fesseln Islámischer Orthodoxie, die historischen Dienste jener wackeren Pioniere, die, dem Ruf 'Abdu'l-Bahás getreu, Heim und Herd verließen, um in den äußersten Ecken des Erdballs das Banner Seines Glaubens aufzupflanzen, und nicht zuletzt die ganze Pracht ihrer Selbstaufopferung, wie sie in der Vollendung des Außenaufbaus des Mashriqu'l-Adhkár gipfelte - jede dieser Errungenschaften ist ein beredtes Zeugnis für den unbezwinglichen Glauben, den Bahá'u'lláh in ihren Herzen entzündet hat.

#85

Wer kann bezweifeln, wenn er über einen so herrlichen Bericht des Dienens nachsinnt, daß diese gläubigen Sachwalter der erlösenden Gnade Gottes das kostbare ihnen anvertraute Erbe ungeteilt und unvermindert bewahrt haben? Sind sie nicht, so könnte man wohl überlegen, dem hohen Maßstab, der die unauslöschlichen Ruhmestaten ihrer Vorgänger kennzeichnete, auf eine Art und Weise, die erst künftige Geschichtsforscher werden zeigen können, bereits recht nahegekommen?

Nicht die materiellen Hilfsquellen, welche die Mitglieder dieser jugendschwachen Gemeinde heute heranziehen können, nicht die zahlenmäßige Stärke ihrer gegenwärtigen Anhänger, kein wie auch immer gearteter greifbarer Nutzen, den ihre Jünger jetzt schon den Massen der Mühseligen und Beladenen unter ihren Volksgenossen stiften könnten - nichts von alledem sollte Prüfstein für ihre Möglichkeiten oder Maßstab für ihren Wert sein. Nur in ihren reinen Geboten, nur in ihren erhabenen Normen, ihren unversehrbaren Gesetzen, ihren vernünftigen Ansprüchen, ihrem weiten Weltbild, ihrem umfassenden Programm, ihren anpassungsfähigen Institutionen, nur im Leben ihrer Begründer, im Heldenmut ihrer Märtyrer und in der verwandelnden Macht ihres Einflusses sollte der vorurteilslose Betrachter die wahren Maßstäbe suchen, die es ihm ermöglichen, die Geheimnisse dieser Gemeinschaft auszuloten oder ihre Tugenden abzuschätzen.



+4:3 #86
Der Niedergang sterblicher Herrschaft

Wie unfair, wie unmaßgeblich wäre das Wagnis eines Vergleiches zwischen der langsamen, schrittweisen Festigung des von Bahá'u'lláh verkündeten Glaubens und jenen von Menschen geschaffenen Bewegungen, die ihren Ursprung in menschlichen Begierden haben, ihre Hoffnungen auf sterbliche Herrschaft richten und demzufolge unausweichlich niedergehen und verderben müssen! Einem begrenzten Geist entsprungen, aus menschlichem Wahn gezeugt und oft das Ergebnis schlecht durchdachter Pläne, vermögen solche Bewegungen aufgrund ihrer Neuheit, ihres Appells an die niederen Instinkte im Menschen und ihrer Abstützung auf den Hilfsquellen einer eigennützigen Welt die Augen der Menschen eine Zeitlang zu blenden, aber nur, um schließlich aus den Höhen einer meteorhaften Bahn in das Dunkel des Vergessens zu stürzen, aufgelöst von denselben Kräften, die ihre Bildung unterstützt haben.

Anders die Offenbarung Bahá'u'lláhs! Hineingeboren in eine Umwelt von entsetzlicher Verderbtheit, entsprossen aus einem Untergrund, den Menschenalter hindurch Bestechlichkeit, Haß und Vorurteil aufgeweicht hatten, Grundsätze verkündend, die mit den anerkannten Maßstäben seiner Zeit völlig unvereinbar waren, und von Anbeginn an der gnadenlosen Feindschaft von Regierung, Geistlichkeit und Volk ausgesetzt, vermochte dieser keimende Gottesglaube dank seiner Ausstattung an himmlischer Kraft sich in weniger als neunzig Jahren von den lastenden Ketten Islámischer Vorherrschaft zu befreien, die Selbständigkeit seiner ideale wie auch die Unabhängigkeit und Vollständigkeit seiner Gesetze zu verkünden, sein Banner in nicht weniger als vierzig der höchst entwickelten Länder dieser Welt aufzupflanzen, seine Vorposten in Ländern jenseits der fernsten Meere aufzustellen, seine Glaubensgebäude mitten im Herzen des asiatischen und des amerikanischen Kontinents einzuweihen, zwei der mächtigsten Regierungen des Westens zu veranlassen, die für seine Verwaltungstätigkeiten wesentlichen Instrumente zu ratifizieren, aus königlicher Familie die Vortrefflichkeit seiner Lehren gebührend anerkannt zu erhalten und schließlich die Vertreter des obersten Gerichtes der zivilisierten Welt dazu zu veranlassen, daß sie seinen Beschwerden Aufmerksamkeit zollten und daß die Mitglieder dieses Gerichts schriftliche Bestätigungen abgaben, die einer stillschweigenden Anerkennung seines religiösen Status und einer ausdrücklichen Erklärung, sein Rechtsstandpunkt sei recht und billig, gleichkamen.

#87

So begrenzt seine gesellschaftliche Macht bislang scheinen mag, so augenfällig es auch sein mag, daß das weltumspannende Programm dieses Glaubens gegenwärtig noch unwirksam ist, - wir, die wir uns unter seinem gesegneten Namen scharen, können uns über das Ausmaß seiner Erfolge nur wundern, wenn wir sie mit den mäßigen Ergebnissen zu Beginn vorvergangener Sendungen vergleichen. Wo sonst, wenn nicht einmalig in der Offenbarung Bahá'u'lláhs, kann der unvoreingenommene Student der vergleichenden Religionswissenschaft einen so erstaunlichen Anspruch wie denjenigen des Begründers unseres Glaubens, so gnadenlose Feinde wie jene, denen Er die Stirn bot, eine so vollendete Hingabe wie die, welche Er in den Herzen entzündete, ein so ereignisreiches, so fesselndes Leben wie das, welches Er führte, belegt finden? Haben Christentum und Islám, hat irgendeine ihnen vorangegangene Sendung Gottes Beispiele solcher Verbindungen aus Mut und Zucht, aus Rittertugend und Macht, aus Weitherzigkeit und Grundsatztreue geboten, wie sie die Lebensführung der Helden des Glaubens Bahá'u'lláhs kennzeichnen? Wo sonst finden wir Beweise einer so raschen, so vollständigen, so plötzlichen Wandlung wie derjenigen, die im Leben der Jünger des Báb bewirkt wurde? Spärlich sind fürwahr die in verbürgten Annalen früherer Religionen aufgezeichneten Fälle einer so vollständigen Selbstverleugnung, einer so unerschütterlichen Standhaftigkeit, einer so hehren Großmut, einer so unbeugsamen Glaubenstreue, wie sie in allen ihren Wesenszügen jene unsterbliche Schar erwies, die mit dieser göttlichen Offenbarung, dieser letzten und zwingendsten Manifestation der Liebe und der Allmacht des Allmächtigen, namensgleich sind.



+4:4 #88
Vergleich mit den Religionen der Vergangenheit

Vergebens werden wir in den Aufzeichnungen über die ersten Anfänge irgendeiner der anerkannten früheren Religionen nach Episoden suchen, die so packend in ihren Einzelheiten oder so weitreichend in ihren Folgen sind wie jene, welche das Buch der Geschichte dieses Glaubens zieren. Die fast unglaublichen Umstände beim Märtyrertum jenes jugendlichen Prinzen der Herrlichkeit¹, die Kräfte barbarischer Unterdrückung, welche diese Tragödie in der Folgezeit freisetzte, die Offenbarungen unübertroffenen Heldenmutes, welche sie hervorrief, die Ermahnungen und Warnungen, welche der Feder des göttlichen Gefangenen in Seinen Sendschreiben an die Potentaten der Kirche, an die Monarchen und die Herrscher der Welt entströmten, die furchtlose Glaubenstreue, mit der unsere Brüder in den muslimischen Ländern gegen die Mächte der religiösen Orthodoxie ankämpfen - all dies läßt sich zu den wesentlichsten Zügen eines Geschehens rechnen, das die Welt schließlich als das größte Drama ihrer Geistesgeschichte anerkennen wird.

¹ Der Báb erlitt den Märtyrertod am 9. Juli 1850

#89

Ich brauche in diesem Zusammenhang jene unglücklichen Ereignisse, welche zugegebenermaßen die Frühgeschichte sowohl des Judentums wie des Islám in sehr starkem Maße beeinträchtigt haben, nicht ins Gedächtnis zu rufen. Ebensowenig ist es nötig, die Schadenswirkungen der Ausschweifungen, Rivalitäten und Spaltungen, der Ausbrüche von Fanatismus und Undank zu betonen, wie sie mit der frühen Entwicklung des Volkes Israel und mit dem kriegerischen Aufschwung der grausamen Vorkämpfer für den Glauben Muhammads verknüpft sind.

Für meine Zwecke genügt es, die Aufmerksamkeit auf die große Zahl jener zu lenken, die in den ersten beiden Jahrhunderten des christlichen Zeitalters »sich ein schmähliches Leben erkauften, indem sie die heiligen Schriften den Ungläubigen in die Hand lieferten«, ferner auf das anstößige Verhalten jener Bischöfe, die dadurch als Verräter gebrandmarkt wurden, auf die Zwietracht in der afrikanischen Kirche, das allmähliche Einsickern von Grundzügen des Mithraskultes, der alexandrinischen Denkschule, von Lehren des Zoroastriertums und der griechischen Philosophie in die christliche Lehre, und schließlich darauf, wie die Kirchen Griechenlands und Asiens mit der Institution der Provinzialsynoden den repräsentativen Beratungsgremien ihrer Länder ein Verwaltungsmodell entlehnten.

#90

Wie groß war doch die Hartnäckigkeit, mit der die bekehrten Juden unter den frühen Christen an den Zeremonien ihrer Vorfahren festhielten, und wie brennend war ihr Verlangen, jene Bräuche auch den Heidenchristen aufzuerlegen! Waren nicht die ersten fünfzehn Bischöfe von Jerusalem alle beschnittene Juden, und hatten nicht die Kongregationen, denen sie vorsaßen, die Gesetze Mose mit den Lehren Christi vereinigt? ist es nicht Tatsache, daß nur der zwanzigste Teil der Untertanen im Römischen Reich unter dem Banner Christi versammelt war, ehe Konstantin bekehrt wurde? Bekamen die sogenannten Nazarener nicht die Zerstörung des Tempels in der Stadt Jerusalem und der jüdischen Staatsreligion hart zu spüren, nachdem sie mehr als ein Jahrhundert lang in der Ausübung des mosaischen Gesetzes verharrt waren?

Wie auffallend ist der Gegensatz, wenn wir im Lichte der vorgenannten Tatsachen die Zahl der Anhänger Bahá'u'lláhs ins Gedächtnis rufen, die sich zur Zeit Seines Hinscheidens in Persien und den angrenzenden Ländern als überzeugte Verfechter Seines Glaubens bekannten! Wie ermutigend, die unverbrüchliche Treue zu beobachten, mit der Seine tapferen Jünger die Reinheit und Unversehrtheit Seiner klaren, unzweideutigen Lehren schützen! Wie erbauend der Anblick derjenigen, die mit den Streitkräften einer fest verschanzten Orthodoxie im Kampf um ihre Befreiung von den Fesseln eines veralteten Glaubens liegen! Wie begeisternd das verhalten jener muslimischen Anhänger Bahá'u'lláhs, die - keineswegs mit Bedauern oder Gleichgültigkeit, sondern mit Gefühlen offener Befriedigung - die verdiente Züchtigung beobachten, die der Allmächtige den Zwillingsinstitutionen des Sultanats und des Kalifats zufügte, jenen Triebwerken der Gewaltherrschaft, jenen verschworenen Feinden der Sache Gottes!



+4:5 #91
Der Leit- und Grundsatz religiöser Wahrheit

Aber niemand möge meine Absicht mißverstehen. Die Offenbarung, deren Quelle und Mittelpunkt Bahá'u'lláh ist, hebt keine der Religionen auf, die ihr vorangegangen sind, noch versucht sie im geringsten, deren Wesenszüge zu verdrehen oder deren Wert herabzusetzen. Sie distanziert sich von jedem Vorhaben Propheten der Vergangenheit in den Schatten zu stellen oder die ewige Wahrheit ihrer Lehren zu beschneiden. Mit dem Geist, der deren Anspruch beseelt, kann die Offenbarung Bahá'u'lláhs in keinerlei Konflikt geraten, noch sucht sie das Treuebekenntnis eines Menschen zu deren Sache zu untergraben. Ihr erklärtes, ihr vorrangiges Ziel ist es, jeden Anhänger dieser Bekenntnisse zu befähigen, ein umfassendes Verständnis für seine angestammte Religion und einen klareren Begriff vom Ziel derselben zu gewinnen. Bahá'u'lláhs Offenbarung ist weder eklektisch in der Darlegung ihrer Wahrheiten noch anmaßend in der Bekräftigung ihres Anspruchs. Ihre Lehren drehen sich um den Leit- und Grundsatz, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ, göttliche Offenbarung fortschreitend und nicht endgültig ist. Unzweideutig, ohne den geringsten Vorbehalt bekennt sie, daß alle anerkannten Religionen göttlich im Ursprung, identisch in ihren Zielen, einander ergänzend in ihren Aufgaben, kontinuierlich in ihrer Zielsetzung und unabdingbar in ihrem Wert für die Menschheit sind.

»Alle Propheten Gottes«, bekräftigt Bahá'u'lláh im Kitábi-Íqán, »wohnen im selben Tabernakel, schweben im selben Himmel, sitzen auf dem selben Thron, sprechen dieselbe Sprache und verkünden denselben Glauben«. Von dem »Anfang an, der keinen Anfang hat«, haben diese Vertreter der Einheit Gottes, diese Kanäle Seiner fortgesetzten Äußerung, das Licht der unsichtbaren Schönheit auf die Menschheit ergossen, und bis zum »Ende, das kein Ende hat«, werden sie fortfahren, neue Offenbarungen Seiner Macht und zusätzliche Erfahrungen Seiner unbegreiflichen Herrlichkeit darzureichen. Die Behauptung, eine bestimmte Religion sei endgültig, »alle Offenbarung sei beendet, die Tore göttlicher Gnade seien geschlossen, vom Dämmerort ewiger Heiligkeit gehe keine Sonne mehr auf, das Weltmeer immerwährenden Segens ruhe für immer still und aus dem Tabernakel altehrwürdiger Herrlichkeit werden keine Boten Gottes mehr offenbar«, wäre in der Tat nichts Geringeres als schiere Gotteslästerung.

#92

»Sie unterscheiden sich«, erläutert Bahá'u'lláh im selben Lehrbrief, »nur durch den Stärkegrad ihrer Offenbarung und durch die vergleichsweise Strahlkraft ihres Lichtes«, und dies nicht wegen der ihm eigenen Unfähigkeit eines von ihnen, die ihm anvertraute Botschaft und deren Herrlichkeit in höherem Maße zu offenbaren, sondern wegen der Unreife und der mangelnden Vorbereitung des Zeitalters jedes Propheten, der Unfähigkeit, die vollen Möglichkeiten des jeweiligen Glaubens einzuschätzen und aufzunehmen.

»Wisse mit Sicherheit«, lehrt Bahá'u'lláh, »daß in jeder Sendung das Licht göttlicher Offenbarung den Menschen in unmittelbarem Verhältnis zu ihrer geistigen Fassungskraft dargereicht wird. Betrachte die Sonne! Wie schwach sind ihre Strahlen in dem Augenblick, da sie am Horizont aufgeht. Wie nehmen ihre Wärme und Kraft allmählich zu, während sie sich dem Zenit nähert und unterdessen alles Erschaffene befähigt, sich der zunehmenden Stärke ihres Lichtes anzupassen. Wie gleichmäßig nimmt sie wieder ab, bis sie den Punkt ihres Untergangs erreicht. Würde sie plötzlich alle in ihr verborgenen Kräfte offenbaren, so wurde dies zweifellos allem Erschaffenen Schaden zufügen ... Wenn nun die Sonne der Wahrheit in den frühesten Graden ihrer Offenbarung plötzlich das volle Maß der Kräfte, die ihr die Vorsehung des Allmächtigen verliehen hat, enthüllte, wurde die Erde menschlichen Begreifens verdorren und vergehen, denn die Menschenherzen würden weder die Stärke ihrer Offenbarung ertragen noch fähig sein, den Glanz ihres Lichtes weiterzuspiegeln. Bestürzt und überwältigt würden sie aufhören zu bestehen«.

#93

Aus diesem Grunde - und nur aus diesem - beanspruchen jene, die das Licht Gottes in unserem Zeitalter erkannt haben, keine Endgültigkeit für die Offenbarung, zu der sie sich bekennen. Auch sprechen sie dem Glauben, den sie angenommen haben, keine Kräfte und Eigenschaften zu, die denjenigen der vorangegangene Relionssysteme wesenhaft überlegen wären oder sich existentiell von jenen unterschieden.

Spielt nicht Bahá'u'lláh selbst auf das Fortschreiten göttlicher Offenbarung und auf die Begrenzungen an, die eine unerforschliche Weisheit ihm selbst aufzuerlegen beliebte? Was sonst kann diese Stelle in den »Verborgenen Worten« bedeuten, wenn nicht die Aussage, daß Er, ihr Offenbarer, Endgültigkeit für die ihm vom Allmächtigen anvertraute Offenbarung in Abrede stellt?

»O Sohn der Gerechtigkeit! Zur Nachtzeit begab sich die Schönheit des Unsterblichen von der smaragdenen Höhe der Treue zum Sadratu'l-Muntahá und weinte so bitterlich, daß die himmlischen Heerscharen und die Bewohner der Reiche droben in das Klagen einstimmten. Nach dem Grunde des Klagens und Weinens befragt, gab Er zur Antwort: Wie geheißen, weilte Ich erwartungsvoll auf dem Hügel der Treue, ohne von denen, die auf Erden wohnen, den Wohlgeruch der Treue zu atmen. Danach zur Rückkehr aufgefordert, schaute Ich um Mich, und siehe - gewisse Tauben der Heiligkeit mußten schmerzlich in den Fängen irdischer Raubtiere leiden. Daraufhin eilte die Himmelsdienerin entschleiert und strahlend aus ihrer mystischen Wohnstatt hervor und fragte nach ihren Namen, und alle wurden genannt bis auf einen. Als auf dringendes Bitten der erste Buchstabe erklang, strömten die Bewohner der himmlischen Gemächer aus ihrer Wohnstatt der Herrlichkeit herbei. Und da der zweite Buchstabe ausgesprochen wurde, fielen sie allesamt nieder in den Staub. In diesem Augenblick erscholl ein Ruf aus dem innersten Heiligtum: `Bis hierher und nicht weiter!` Wahrlich, Wir bezeugen, was sie getan haben und noch tun.«

#94

»Die Offenbarung, deren Träger Ich bin«, erklärt Baháu'lláh ausdrücklich, »ist der geistigen Empfänglichkeit und Aufnahmefähigkeit der Menschheit anpaßt. Anders kann das Licht, das in Mir scheint, weder zu- noch abnehmen. Alles, was Ich offenbare, ist nicht mehr und nicht weniger als das Maß der göttlichen Herrlichkeit, das zu enthüllen Mir Gott geboten hat.«

Wenn das Licht, das heute auf eine zunehmend empfängliche Menschheit flutet, eine Strahlkraft hat, die den Glanz aller von den Kräften der Religion in vergangenen Tagen erreichten Triumphe zu übertreffen verspricht, wenn die Zeichen und Merkmale, die das Kommen dieses Lichtes ankündigten, in vielerlei Hinsicht einzigartig in den Annalen der Offenbarung sind, wenn seine Jünger Wesenszüge und Tugenden dargetan haben, die in der Geistesgeschichte der Menschheit ohne Beispiel sind, dann sollten solche Unterschiede nicht einem höheren Wert zugeschrieben werden, den der Glaube Bahá'u'lláhs als eine von früheren Sendungen völlig getrennte, andersartige Offenbarung besäße. Vielmehr sollten diese Unterschiede als das unvermeidliche Ergebnis jener Kräfte betrachtet und erklärt werden, die das gegenwärtige Zeitalter zu einem Zeitalter machten, das unendlich fortgeschrittener, empfänglicher, unendlich bedürftiger nach einem größeren Maß göttlicher Führung ist, als bislang der Menschheit dargeboten wurde.



+4:6 #95
Die Notwendigkeit einer neuen Offenbarung

Innig geliebte Freunde! Wer kann, wenn er die Hilflosigkeit, die Ängste und Nöte der heutigen Menschheit überdenkt, die Notwendigkeit einer neuen Offenbarung der belebenden Macht göttlicher Erlösung, Liebe und Führung noch länger in Frage stellen? Wer kann, wenn er auf der einen Seite die riesigen Fortschritte im Bereich menschlichen Wissens, menschlicher Macht, Geschicklichkeit und Erfindungsgabe wahrnimmt, auf der anderen Seite aber die noch nie dagewesene Art von Leiden sieht, die Gefahren, welche die moderne Gesellschaft bedrängen - wer kann da so blind sein anzuzweifeln, daß nun endlich die Stunde für das Kommen einer neuen Offenbarung geschlagen hat, die Stunde für eine neue Bekräftigung der göttlichen Absicht und für die daraus folgende Wiederbelebung jener geistigen Kräfte, die in festgesetzten Zeitabständen die Geschicke der menschlichen Gesellschaft immer wieder ins Lot gebracht haben? Bringt es nicht das Wirken der weltvereinenden Kräfte, die in diesem Zeitalter am Werke sind, zwangsläufig mit sich, daß Er, der Träger der Botschaft Gottes an diesem Tage, nicht nur dasselbe erhabene Richtmaß persönlichen Verhaltens, wie sie die vor ihm gekommenen Propheten eingeschärft haben, neu bestätigen muß, daß Er vielmehr in Seinem Aufruf an alle Regierungen und Völker die Wesenszüge jenes gesellschaftlichen Grundgesetzes, jene göttliche Ökonomie vergegenständlichen muß, welche die gemeinsamen Anstrengungen der Menschheit zur Errichtung jenes allumfassenden, das Kommen des Reiches Gottes auf Erden ankündigenden Bundesstaates, lenken und steuern muß?

Wenn wir die Notwendigkeit einer solchen Offenbarung von Gottes erlösender Macht anerkennen, sollten wir da nicht über die unerreichte Großartigkeit des Systems nachsinnen, das die Hand Bahá'u'lláhs an diesem Tage entfaltet hat? Sollten wir nicht trotz der täglich drängenden Aufgaben, die der ständig wachsende Bereich der Verwaltungstätigkeiten Seines Glaubens mit sich bringt, innehalten, um über die Heiligkeit der Verpflichtungen nachzudenken, die zu übernehmen unser Vorrecht ist?



+4:7 #96
Die Stufe des Báb

So unvorstellbar groß auch der Anspruch Bahá'u'lláhs ist, liegt doch die Größe dieser Sendung nicht nur im Charakter Seiner Offenbarung; denn zu den unterscheidenden Merkmalen Seines Glaubens zählt als ein weiterer Beweis der Einzigartigkeit die Grundwahrheit, daß jeder Anhänger Bahá'u'lláhs in der Person Seines Vorläufers, des Báb, nicht nur einen geistbeseelten Vorboten, sondern eine unmittelbare Manifestation Gottes erkennt. Es ist der feste Glaube aller Bahá'í, daß dem Báb- ungeachtet der kurzen Dauer Seiner Sendung und der zeitlich begrenzten Gültigkeit Seiner Gesetze - eine Wirkkraft verliehen war, wie sie die Vorsehung des Allmächtigen keinem Religionsstifter der Vergangenheit zuerkannt hatte. Daß Er nicht nur Vorläufer für die Offenbarung Bahá'u'lláhs war, daß Er mehr war als eine gottbeseelte Persönlichkeit, daß ihm. die Stufe einer unabhängigen, völlig selbständigen Manifestation Gottes zukommt, wird von ihm selbst zur Genüge dargelegt, von Bahá'u'lláh in unmißverständlichen Worten bestätigt und schließlich auch im Willen und Testament 'Abdu'l-Bahás bezeugt.

#97

Nirgends können wir einen klareren Begriff von den machtvollen Wirkkräften erlangen, die jener vorbereitenden, mit Seinem eigenen Glauben unlöslich verbundenen Manifestation Gottes eigen sind, als im Kitáb-i-Íqán, Bahá'u'lláhs meisterlicher Erläuterung der einen allvereinenden Wahrheit, die allen Offenbarungen der Vergangenheit zugrunde liegt. Bahá'u'lláh läßt sich dort über die unergründliche Bedeutung der Zeichen und Merkmale aus, welche die vom Báb, dem verheißenen Qá'im, verkündete Offenbarung begleitet haben. Er ruft dann diese prophetischen Worte in Erinnerung: »Wissen ist siebenundzwanzig Buchstaben. Alle Propheten haben zwei Buchstaben davon offenbart. Kein Mensch hat bis heute mehr als diese zwei Buchstaben gekannt. Wenn aber der Qá'im sich erheben wird, dann wird Er die übrigen fünfundzwanzig Buchstaben offenbar machen«. »Siehe«, fügt Bahá'u'lláh hinzu, »wie groß und erhaben Seine Stufe ist.« »Eine Offenbarung«, ergänzt Er weiter, »von der die Propheten Gottes, Seine Heiligen und Auserwählten, entweder nicht unterrichtet worden sind oder die sie nach Gottes unerforschlichem Ratschluß nicht enthüllt haben.«

Und doch, so unermeßlich erhaben die Stufe des Báb auch ist, so wundersam auch die Ereignisse waren, die das Kommen Seiner Sache anzeigten, kann doch eine so einzigartige Offenbarung nur erblassen vor dem Strahlenglanz jenes Tagesgestirns unübertroffener Lichtfülle, dessen Aufgang Er vorhergesagt und dessen Überlegenheit Er bereits anerkannt hat. Wir brauchen uns nur den Schriften des Báb selbst zuzuwenden, um die Bedeutung jenes Inbegriffs allen Lichtes abzuschätzen, dem gegenüber Er in all der Majestät Seiner Macht nur ein demütiger, erwählter Vorläufer war.

#98

Immer wieder anerkennt der Báb in glühender, unzweideutiger Sprache den überlegenen Charakter eines Glaubens, der unwiderruflich nach ihm selbst offenbar werden und Seine Sache ersetzen sollte. »Der Keim«, so bekräftigt Er im Persischen Bayán, der wichtigsten und besterhaltenen Schatzkammer Seiner Gesetze, »der die Möglichkeiten dieser bald kommenden Offenbarung, in sich birgt, ist mit einer Macht ausgestattet, die den vereinten Kräften aller, die Mir folgen, überlegen ist.« »Von allen Tributen«, verkündet der Báb wiederholt in Seinen Schriften, »die Ich Ihm gezollt habe, der nach Mir kommen wird, ist der größte Mein schriftliches Bekenntnis, daß keines Meiner Worte Ihn angemessen beschreiben, keine Anspielung auf Ihn in Meinem Buche, dem Bayán, Seiner Sache Gerechtigkeit widerfahren lassen kann.« An Siyyid Yahyáy-i-Dárábí, mit Beinamen Vahíd, den gelehrtesten und einflußreichsten unter Seinen Anhängern, wandte Er sich mit den Worten: »Bei der Gerechtigkeit Dessen, Der durch Seine Macht die Saat zum Keimen bringt und der den Odem des Lebens in alle Dinge haucht: Wäre Ich gewiß, daß du Ihn in den Tagen Seiner Manifestation leugnen würdest, Ich würde dich ohne Zögern verstoßen und deinen Glauben verwerfen ... Würde Mir andererseits gesagt, ein Christ, der Meinem Glauben nicht huldigt, werde an Ihn glauben, dann würde Ich ihn wertschätzen wie Meinen Augapfel.«



+4:8 #99
Die Ausgießung göttlicher Gnade

»Wären alle Völker der Welt«, so bestätigt Bahá'u'lláh selbst, »ausgestattet mit den Kräften und Eigenschaften, die den Buchstaben des Lebendigen, den erwählten Jüngern des Báb, vorbehalten sind, deren Stufe zehntausendmal ruhmreicher ist als die der Apostel vergangener Tage, und würden sie, einer wie alle, nur einen Augenblick lang zögern, das Licht Meiner Offenbarung zu erkennen - , ihr Glaube würde ihnen nichts nützen, und sie würden zu den Ungläubigen gezählt.« »So gewaltig«, schreibt Er, »ist die Ausgießung göttlicher Gnade in dieser Sendung, daß, wären menschliche Hände schnell genug, sie aufzuzeichnen, innerhalb des Zeitraums eines einzigen Tages und einer Nacht Verse von solcher Zahl hervorströmten, daß sie dem ganzen Persischen Bayán entsprächen.«

Solcher Art, innig geliebte Freunde, ist die Ausgießung himmlischer Gnade, die der Allmächtige diesem Zeitalter, diesem höchst erleuchteten Jahrhundert, gewährt hat! Wir stehen einer so gewaltigen Offenbarung zeitlich zu nahe, als daß wir erwarten könnten, in diesem ersten Jahrhundert ihres Zeitalters zu einer rechten Abschätzung ihrer erhabenen Größe, ihrer unendlichen Möglichkeiten und ihrer überragenden Schönheit zu gelangen. Wie klein auch unsere gegenwärtige Zahl, wie begrenzt unser Fassungsvermögen oder wie beschränkt unser Einfluß sein mag, immer sollten wir, deren Händen ein so reines, zartes und kostbares Erbe anvertraut ist, mit unermüdlicher Wachsamkeit darnach streben, uns von jedem Gedanken, Wort oder Tun zu enthalten, die seinen Glanz trüben oder sein Wachstum schädigen könnten. Wie ungeheuer groß ist unsere Verantwortung, wie heikel und mühsam die uns aufgegebene Arbeit!

#100

Geliebte Freunde! So klar und nachdrücklich die Weisungen auch sind, die unser heimgegangener Meister in zahllosen Sendschreiben ein ums andere Mal wiederholt hat, sind doch infolge des begrenzten Einflusses der Sache Gottes im Westen einige dieser Weisungen absichtlich von der Gemeinschaft Seiner westlichen Jünger ferngehalten worden. Trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit üben diese aber nunmehr einen vorherrschenden Einfluß auf die Leitung und Verwaltung der Glaubensangelegenheiten aus. Ich fühle mich daher verpflichtet, nun, da die Zeit reif ist, die Bedeutung einer Anweisung hervorzuheben, die im gegenwärtigen Entwicklungsstadium unseres Glaubens, ohne Rücksicht darauf, ob sie auf den Osten oder auf den Westen angewandt wird, in wachsendem Maße betont werden sollte. Dieses Prinzip ist kein anderes als das, welches die Nichtteilnahme der Anhänger des Glaubens Bahá'u'lláhs - gleichviel, ob als einzelne oder gemeinschaftlich als örtliche oder nationale Räte - an jeglicher Art von Betätigung enthält, die mittelbar oder unmittelbar als Einmischung in die politischen Angelegenheiten einer bestimmten Regierung gedeutet werden könnte. Mag es sich um die von ihnen herausgebrachten oder überwachten Veröffentlichungen oder um ihre offiziellen und öffentlichen Beratungen, die von ihnen bekleideten Ämter und Dienste, die an ihre Mitgläubigen gerichteten Mitteilungen, ihren Umgang mit hochgestellten und angesehenen Persönlichkeiten oder um ihre Zusammenarbeit mit verwandten Vereinigungen und Organisationen handeln, immer ist es nach meiner festen Überzeugung ihre erste und geheiligte Pflicht, sich in Wort und Tat von allem zu enthalten, was als Verletzung dieses lebenswichtigen Grundsatzes gedeutet werden könnte. Sie haben die Pflicht, ihre uneingeschränkte Loyalität und ihren unbedingten Gehorsam gegenüber allem zu bekunden, was die wohlüberlegte Auffassung ihrer jeweiligen Regierung ist.



+4:9 #101
Die göttliche Politik

Sie sollten vermeiden, sich in Worten oder in Taten auf die politischen Bestrebungen ihrer jeweiligen Nation, auf die Diplomatie ihrer Regierung, auf die Aktionspläne und Programme von Parteien und Interessengruppen einzulassen, in solchen Auseinandersetzungen sollten sie niemandem an irgend etwas die Schuld geben, keine Partei ergreifen, keinerlei Pläne fördern und sich selbst mit keinem System identifizieren, das den besten Interessen der weltweiten Bruderschaft, die zu behüten und zu fördern ihr eigenes Ziel ist, Abbruch tun könnte. Sie sollten auf der Hut sein, daß sie nicht zu Werkzeugen gewissenloser Politiker werden oder sich in den Fallstricken verfangen, die die Verschwörer und die Verräter unter ihren Landsleuten ausspannen. Ihr Leben sollten sie so gestalten und ihr Verhalten so einstellen, daß keine noch so unbegründete Beschuldigung der Heimlichkeit, Falschheit, Bestechung oder Einschüchterung gegen sie erhoben werden möge. Sie sollten sich über jegliche Absonderung und Parteilichkeit, über den fruchtlosen Wortstreit, die kleinlichen Berechnungen und die vergänglichen Leidenschaften erheben, die das Antlitz einer sich wandelnden Welt erregen und ihre Aufmerksamkeit fesseln. Es ist ihre Pflicht, so klar wie möglich und notfalls mit Hilfe ihrer gewählten Vertreter zu unterscheiden zwischen Stellungen und Aufgaben diplomatischer oder politischer und solchen rein verwaltungsmäßiger Art, die der zwangsläufige Wandel und Wechsel der politischen Tätigkeiten und Parteienregierungen jedes Landes unter keinen Umständen berührt. Sie sollten ihre unbeugsame Entschlossenheit unter Beweis stellen, fest und rückhaltlos für den Weg Bahá'u'lláhs einzustehen, die von den Bestrebungen der Politiker untrennbaren Verwicklungen und Streitigkeiten zu meiden und zu wertvollen Triebkräften jener göttlichen Politik zu werden, welche die Verkörperung von Gottes unwandelbarem Plan für die ganze Menschheit darstellt.

#102

Unmißverständlich muß klargestellt werden, daß eine solche Haltung weder die leiseste Gleichgültigkeit gegenüber den Anliegen und Belangen ihres eigenen Landes noch irgendeine Form von Widerspenstigkeit gegen die Amtsgewalt anerkannter und festbegründeter Regierungen mit sich bringt. Ebensowenig bedeutet sie eine Verleugnung ihrer heiligen Pflicht, die Interessen ihrer Regierung und ihres Volkes auf wirksamste Art zu fördern. Diese Haltung drückt vielmehr den Wunsch jedes wahren, ergebenen Anhängers Bahá'u'lláhs aus, den höchsten Interessen des Landes, dem er angehört, in selbstloser, bescheidener und vaterländischer Weise sowie auf solche Art zu dienen, daß kein Abweichen von den mit den Lehren seines Glaubens verbundenen hohen Grundsätzen der Rechtschaffenheit und der Wahrheitsliebe damit verknüpft ist.

In dem Maße, wie sich die Zahl der Bahá'í-Gemeinden in den verschiedenen Weltteilen vervielfacht und ihre Macht als gesellschaftliche Kraft fortschreitend spürbar wird, werden sie zweifellos dem wachsenden Druck von Machthabern und politisch Einflußreichen ausgesetzt sein - Leuten, die Unterstützung im Verfolgen ihrer eigenen Ziele erwarten, in wachsendem Maße werden die Gemeinden auch das Bedürfnis nach dem Wohlwollen und der Unterstützung ihrer jeweiligen Regierungen spüren, weil sie sich bemühen, die Reichweite der ihrer Obhut unterstellten Institutionen zu erweitern und deren Grundlagen zu festigen. Sie sollten auf der Hut sein, daß sie nicht in ihrem Eifer, die Ziele ihrer geliebten Sache zu fördern, unabsichtlich dazu geführt werden mit ihrem Glauben zu feilschen, ihre wesentlichen Grundsätze Kompromissen auszusetzen oder um irgendwelcher materieller Vorteile für ihre Institutionen willen die Unversehrtheit ihrer geistigen Ideale aufzuopfern. Sie sollten verkünden, daß sie - einerlei, in welchem Land sie wohnen, wie fortgeschritten ihre Institutionen, wie tief ihr verlangen auch sei, die von Bahá'u'lláh verkündeten Gesetze anzuwenden und Seine Grundsätze zu verfolgen - die Anwendung dieser Gesetze und die Verfolgung dieser Grundsätze immer den Anforderungen und den rechtmäßigen Anordnungen ihrer jeweiligen Regierungen ohne Zögern unterordnen werden. Keineswegs haben sie in ihrem Bemühen, die Verwaltungsangelegenheiten ihres Glaubens zu führen und zu vervollkommnen, die Absicht, unter irgendwelchen Umständen die Bestimmungen der Verfassung ihres Landes zu verletzen oder gar mit dem Apparat ihrer Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung die Regierung ihres jeweiligen Landes zu verdrängen.

#103

Auch sollte bedacht werden, daß es gerade durch die gegenwärtige Ausweitung unserer Tätigkeiten und durch die Vielfalt der Gemeinden, die sich unter den verschiedensten Regierungsformen mit wesenhaft unterschiedlichen Maßstäben, Zielen und Methoden mühen, absolut unabdingbar für alle erklärten Mitglieder dieser Gemeinden ist, jedwede Handlung zu vermeiden, die bei einer Regierung Verdacht wecken, Gegenwehr herausfordern, ihre Brüder in neue Verfolgungen verwickeln oder ihnen ihre Aufgaben den Umständen nach erschweren könnte. Wie sonst, möchte ich fragen, könnte ein so weitgesteckter Glaube, der politische und gesellschaftliche Grenzen überschreitet, der eine so große Vielzahl von Rassen und Nationen umgreift und sich bei seinem Vormarsch in wachsendem Maße auf das Wohlwollen und den Beistand der verschiedenartigsten, untereinander zerstrittenen Regierungen der Erde stützen muß - wie sonst könnte es einem solchen Glauben gelingen, seine Einheit zu wahren, seine Interessen zu schützen und die stetige, friedliche Entwicklung seiner Institutionen zu sichern?

#104

Eine derartige Haltung ist jedoch keineswegs von selbstischen Nützlichkeitserwägungen diktiert; vielmehr ist sie zuerst und zuvorderst von dem klaren Grundsatz bestimmt, daß sich die Anhänger Bahá'u'lláhs unter keinen Umständen, weder persönlich noch gemeinschaftlich, in Angelegenheiten verwickeln lassen, die auch nur die geringste Abweichung von den Grundwahrheiten und Idealen ihres Glaubens nach sich zögen. Weder Anschuldigungen der Unwissenden und Böswilligen noch Verlockungen mit Lohn und Ehre können sie dazu verleiten, das ihnen Anvertraute im Stich zu lassen oder von ihrem Pfade abzuirren. Ihre Worte sollten verkünden und ihr verhalten bezeugen, daß die Nachfolger Bahá'u'lláhs, in welchem Land sie auch wohnen, von keiner selbstischen Ehrsucht getrieben sind, daß sie weder nach Macht dürsten noch sich um die Wogen der Unbeliebtheit des Mißtrauens oder Kritik kümmern, die ihr genaues Festhalten an ihren Maßstäben hervorrufen könnte.

Wie schwierig und heikel unsere Aufgabe auch sei, die stützende Macht Bahá'u'lláhs und Seine göttliche Führung werden uns sicherlich beistehen, wenn wir Seinem Pfad unentwegt folgen und die Unversehrtheit Seiner Gesetze zu bewahren trachten. Das Licht Seiner erlösenden Gnade, das keine irdische Macht verdunkeln kann, wird, so wir nur ausharren, unseren Weg erleuchten, während wir mitten durch die Schlingen und Fallen eines unruhigen Zeitalters unseren Kurs steuern, und es wird uns befähigen, unsere Pflichten in solcher Weise zu erfüllen, daß es Seinem gesegneten Namen zu Ruhm und Ehre gereicht.



+4:10 #105
Unser geliebter Tempel

Lassen Sie mich zum Schluß, innig geliebte Brüder, noch einmal ihre Aufmerksamkeit auf die drängenden Erfordernisse des Mashriqu'l-Adhkárs, unseres geliebten Tempels, lenken. Brauche ich Sie überhaupt an die gebieterische Notwendigkeit zu erinnern, dieses große Unternehmen, an das wir in den Augen einer scharf beobachtenden Welt gebunden sind, zu einem erfolgreichen Abschluß zu führen, solange uns dafür die Zeit bleibt? Brauche ich den großen Schaden hervorzuheben, den weiterer Verzug in der Verfolgung dieser göttlich bestimmten Aufgabe gerade unter so kritischen, unvorhergesehenen Umständen dem Ansehen unserer geliebten Sache zufügen muß? Ich bin mir, das kann ich Sie versichern, der knappen Verhältnisse, in denen Sie sich befinden, klar bewußt, ebenso der Schwierigkeiten, unter denen Sie sich mühen, der Sorgen, die auf ihnen lasten, der drängenden Eile der fortgesetzt an ihre erschöpften Hilfsquellen gestellten Ansprüche. Noch tiefer bin ich mir jedoch des unvergleichlichen Range; jener Möglichkeit gewiß, die zu ergreifen und in die Tat umzusetzen ihr Vorrecht ist. Ich bin mir der unabschätzbaren Segnungen gewiß, die den Abschluß eines Gemeinschaftsvorhabens erwarten, welches nach Wert und Umfang der damit verbundenen Opfer unter die hervorragendsten Beispiele von Bahá'í-Solidarität seit den Taten strahlenden Heldentums, wie sie das Gedenken an die Heroen von Nayríz, Zanján und Tabarsí unsterblich macht, gezählt zu werden verdient. Deshalb, Freunde und Mitjünger Bahá'u'lláhs, appelliere ich bei ihnen an ein noch reicheres Maß an Selbstaufopferung, an eine noch höhere Stufe gemeinsamer Anstrengung, an einen noch zwingenderen Beweis für die Wirklichkeit des Glaubens, der in ihnen glüht.

#106

Und bei dieser inbrünstigen Bitte wird meine Stimme noch weiter verstärkt durch das leidenschaftliche, vielleicht das letzte Flehen des Größten Heiligen Blattes¹, deren Geist nun am Übergang zum großen jenseits schwebt und sich danach sehnt, auf seinem Flug in das Reich Abhá, in die Gegenwart eines göttlichen, eines allmächtigen Vaters, ein Zeichen der Gewißheit für die freudige Vollendung eines Unternehmens mit sich zu führen, dessen Fortschritte ihr die letzten Tage ihres Erdenlebens so strahlend erhellt haben. Daß die amerikanischen Gläubigen, jene kühnen, beherzten Pioniere des Glaubens Bahá'u'lláhs, einmütig mit derselben spontanen Großzügigkeit, demselben Maß an Selbstaufopferung antworten werden, wie sie ihre Antworten auf die Appelle des Größten Heiligen Blattes in der Vergangenheit gekennzeichnet haben, daran kann niemand zweifeln, der mit der Lebendigkeit ihres Glaubens vertraut ist.

Wolle Gott, daß mit dem Ausklang des Frühlings im Jahre 1933 die Scharen, die aus den entlegensten Ecken des Erdballs zu den Ausstellungsflächen jener großen Messe in der Nachbarschaft dieses geweihten Heiligtums drängen, als Ergebnis ihres standhaften Geistes der Selbstaufopferung das Vorrecht haben werden, auf den festlichen Glanz seiner Kuppel zu schauen - einer Kuppel, die als flammendes Leuchtfeuer, als Symbol der Hoffnung inmitten des Düsters einer verzweifelnden Welt aufragen wird.

Ihr wahrer Bruder Shoghi

Haifa, Palästina 21. März 1932

¹ vorletzter Absatz: Bahíyyih Khánum (1847-1932), älteste Tochter Bahá'u'lláhs. vgl. Index zu Rúhíyyih Rabbaní, `The Priceless Pearl`, London 1969, und `BAHA'i-BRIEFE` 16/April 1964 S. 390 ff.









#109
5
Amerika und der Größte Friede

An die Geliebten des Herrn und die Dienerinnen des Barmherzigen
in den Vereinigten Staaten und in Kanada

+5:1
Freunde und Mitkämpfer für den Glauben Gottes!

Vierzig Jahre werden vor dem Ende des kommenden Sommers verstrichen sein, seitdem der Name Bahá'u'lláhs zum ersten Mal auf dem amerikanischen Erdteil erwähnt wurde. Seltsam müssen in der Tat jedem Beobachter, der die Bedeutung eines derart wichtigen Wendepunkts in der Geistesgeschichte der großen amerikanischen Republik in seinem Herzen bewegt, die Umstände vorkommen, unter denen diese erste öffentliche Bezugnahme auf den Urheber unseres geliebten Glaubens geschah. Noch seltsamer müssen die Gedankenverbindungen erscheinen, welche die kurzen Worte, die bei dieser historischen Gelegenheit geäußert wurden, in den Gemütern der Zuhörer ausgelöst haben müssen.

Nichts von Pomp und Staat, nichts von Bekundungen öffentlichen Jubels oder volkstümlichen Beifalls bei diesem ersten Hinweis amerikanischer Bürger auf das Bestehen und die Zielsetzung der von Bahá'u'lláh verkündeten Offenbarung¹. Auch bekannte sich er, der das erwählte Werkzeug dafür war, keineswegs selbst als einer, der an die der überbrachten Botschaft innewohnende Gewalt glaubte, noch vermutete er das Ausmaß der Kräfte, die seine beiläufige Erwähnung entfesseln sollte.

¹ Die Erwähnung geschah in einem Vortrag von Dr. Henry H. Jessup vor dem Parlament der Religionen, Columbia-Ausstellung, Chikago 1893.

#110

Angekündigt durch den Mund eines erklärten Verfechters jener engstirnigen Kirchlichkeit, die unser Glaube herausfordert und zu tilgen sucht, zur Stunde ihrer Geburt als obskurer Ableger eines schändlichen Irrglaubens bezeichnet, konnte die Botschaft des Größten Namens doch, gespeist von den Strömen unaufhörlicher Prüfungen und erwärmt vom Sonnenschein der zärtlichen Fürsorge 'Abdu'l-Bahás, ihre Wurzeln tief in den fruchtbaren Boden Amerikas schlagen und in weniger als einem halben Jahrhundert ihre Schößlinge und Ableger bis in die entlegensten Ecken des Erdballs entsenden. Heute steht sie da, gekleidet in die Pracht des geweihten Baus, den sie im Herzen dieses Erdteils aufgerichtet hat, fest entschlossen, ihre Ansprüche zu verkünden und ihre Fähigkeit, ein schwer verwundetes Volk zu erlösen, unter Beweis zu stellen. Ohne sich auf Vorteile wie Talent, Rang und Reichtümer stützen zu können, hat die Gemeinde der amerikanischen Gläubigen trotz ihres zarten Alters, ihrer geringen Zahl, ihrer beschränkten Erfahrung, kraft der begnadeten Weisheit, des vereinten Willens und der unverbrüchlichen Bündnistreue ihrer Verwalter und Lehrer die Würde unbestrittener Führerschaft unter ihren Schwestergemeinden in Ost und West bei der tatkräftigen Beschleunigung des Kommens des von Bahá'u'lláh erwarteten Goldenen Zeitalters erlangt.

#111

Und doch! Wie schwer wogen die Krisen, welche diese jugendliche, diese gesegnete Gemeinde im Verlauf ihrer bewegten Geschichte glücklich überwunden hat! Wie langsam und schmerzlich war der Prozeß, der sie Schritt für Schritt aus einem unbeachteten Dahindämmern ins helle Tageslicht öffentlicher Anerkennung brachte! Wie hart waren die Schläge, die mit dem Abfall der Kleinmütigen, mit der Bosheit der Unheilstifter, mit der Verräterei der Hochmütigen und Ehrgeizigen durch die Reihen ihrer ergebenen Anhänger gingen! Welche Stürme von Spott, Schimpf und Ehrabschneiderei hatten ihre Vertreter zu gewärtigen, während sie die Unversehrtheit ihres erkorenen Glaubens unerschütterlich wahrten und seinen guten Namen tapfer verteidigten! Wie unaufhörlich waren die Wechselfälle, wie verwirrend die Rückschläge, welche ihre bevorrechtigten Mitglieder, junge und alte gleichermaßen, in ihrem heldenhaften Bemühen, jene Höhen zu erstürmen, die ihnen ein liebender Meister zu erreichen gebot, durchzukämpfen hatten!

Zahllos und mächtig waren die Feinde des Glaubens. Kaum hatten diese an seinen erklärten Trägern die Beweise wachsender Überlegenheit entdeckt, da wetteiferten sie miteinander darin, ihnen die gemeinsten Anschuldigungen ins Gesicht zu schleudern und über den Gegenstand ihrer Verehrung die Schale ihres grimmigsten Zornes auszugießen. Wie oft haben sie über die bescheidenen Mittel dieser Gemeinde und über ihr scheinbar stockendes Leben gespöttelt! Wie beißend verlachten sie diese wegen ihres Ursprungs und taten sie in völliger Fehleinschätzung ihrer Ziele als nutzlosen Fortsatz eines welkenden Glaubens ab!

Haben sie nicht in ihren schriftlichen Angriffen die heldische Person des Vorläufers einer so geheiligten Offenbarung als feigen Widerrufler, als verdrehten Abtrünnigen gegeißelt?

Haben sie nicht die gesamte Reihe Seiner umfangreichen Schriften als das leere Geschwätz eines Hirnlosen gebrandmarkt?

Haben sie nicht ihrem göttlichen Begründer die gemeinsten Beweggründe angedichtet, die ein skrupelloser Verschwörer, ein Thronräuber hegen könnte?

Haben Sie nicht den Mittelpunkt Seines Bündnisses als die Verkörperung grausamer Gewaltherrschaft hingestellt, als Unheilstifter, als allbekanntes Beispiel orientalischer List und Tücke?

#112

Die weltvereinenden Grundsätze eines stetig wachsenden Glaubens haben diese ohnmächtigen Feinde immer wieder als von Grund auf mangelhaft abgetan, sein allumfassendes Programm als völlig phantastisch dargestellt, seinen Ausblick auf die Zukunft als Hirngespinst, als mutwilligen Betrug betrachtet. Die grundlegenden Wahrheiten, welche die Lehraussage dieses Glaubens bilden, haben seine törichten Gegner als einen Deckmantel für leere Dogmen ausgegeben; sie haben sich gewehrt, seinen Verwaltungsapparat von seinem innersten Wesen zu unterscheiden, und die Mysterien, die dieser Glaube verehrt und verteidigt, haben sie als reinen Aberglauben abgetan. Den Grundsatz der Einheit, für den dieser Glaube eintritt und mit dem er gleichgesetzt wird, haben sie als einen öden Versuch der Gleichmacherei mißdeutet; seine wiederholten Bekräftigungen, daß es übernatürliche Wirkkräfte gibt, haben sie als hohlen Zauberglauben verurteilt, die Herrlichkeit seines Idealismus als bloße Utopie verworfen. Jeden Reinigungsprozeß, durch den eine unerforschliche Weisheit von Zeit zu Zeit die Körperschaft Seiner erwählten Anhänger vom Schmutz des Unerwünschten und Wertlosen zu läutern beliebte, haben diese Opfer einer unerbittlichen Eifersucht als ein Anzeichen für die einbrechenden Kräfte der Spaltung begrüßt, Kräfte, welche bald die innere Festigkeit dieses Glaubens auszehren, seinen Lebensodem ersticken, seinen Niedergang besiegeln sollten.

#113

Innig geliebte Freunde! Es ist nicht an mir noch scheint es für jemanden aus unserer Generation statthaft zu sein, die genaue und vollständige Geschichte des Aufstiegs und der fortschreitenden Festigung dieses unbesiegbaren Armes, dieses machtvollen Organs der stetig sich entwickelnden Sache Gottes nachzuzeichnen. Zum jetzigen frühen Stand der Entwicklung wäre es voreilig, wollte man eine erschöpfende Analyse versuchen oder zu einer richtigen Einschätzung der Triebkräfte kommen, die diese Gemeinde auf ihren erhabenen Rang unter den zahlreichen Werkzeugen gehoben haben, welche die Hand des Allmächtigen für die Durchführung Seiner göttlichen Absicht bereitet hat und nun weiter verfeinert. Künftige Geschichtsschreiber dieser machtvollen Offenbarung mit kundigeren Federn, als je einer ihrer gegenwärtigen Anhänger sie für sich beanspruchen kann, werden zweifellos der Nachwelt eine meisterliche Darstellung des Ursprungs jener Kräfte hinterlassen, die in einzigartigem Pendelschwung das Verwaltungszentrum unseres Glaubens weit weg von seiner Wiege an die Küsten des amerikanischen Erdteils und in dessen Herz hinein verlagerten, hin zur gegenwärtigen Haupttriebfeder und Hauptbastei ihrer rasch sich entwickelnden Institutionen. Ihnen wird dann auch die Aufgabe zukommen, den Ablauf einer derart grundlegenden Umwälzung in den Geschicken eines langsam reifenden Glaubens aufzuzeichnen und seine Bedeutung abzuschätzen. ihnen wird die Gelegenheit zuteil, die Tugenden jener Männer und Frauen zu preisen, die an der Vollendung dieses Prozesses teilnahmen, und deren Gedächtnis unsterblich zu machen. Sie werden das Vorrecht haben, den Anteil jedes einzelnen dieser Vorkämpfer und Baumeister der Weltordnung Bahá'u'lláhs an der Einleitung jenes Goldenen Zeitalters, dessen Verheißung in Seinen Lehren verwahrt liegt, zu bewerten.

#114

Bietet nicht die Geschichte des frühen Christentums und die des Aufstiegs des Islám, jede auf ihre eigene Art, eine verblüffende Parallele zu der denkwürdigen Erscheinung, deren Anfänge wir jetzt, im ersten Jahrhundert des Bahá'í-Zeitalters, miterleben? Ist nicht der göttliche Impuls, der jedem großen Religionssystem das Leben schenkte, unter der Einwirkung jener Kräfte, die das unaufhaltsame Wachstum des Glaubens entfesselte, aus seinem Geburtsland abgelenkt worden, um sich in günstigeren Himmelsstrichen ein vorbereitetes Feld und bessere Lebensbedingungen für die Verkörperung seines Geistes und die Verkündigung seiner Sache zu suchen? Waren nicht die asiatischen Kirchen von Jerusalem, Antiochia und Alexandrien, die hauptsächlich aus bekehrten Juden bestanden und nach deren Charakter und Temperament dazu neigten, sich auf das überlieferte Zeremoniell der mosaischen Sendung einzustimmen - waren nicht diese Kirchen gezwungen, das wachsende Übergewicht ihrer griechischen und römischen Brüder zur Kenntnis zu nehmen? Mußten sie nicht die Überlegenheit und die geschulte Tüchtigkeit anerkennen, die jene Bannerträger der Sache Jesu Christi befähigte, die Zeichen Seiner Weltherrschaft auf den Ruinen eines zusammenbrechenden Imperiums aufzupflanzen? War nicht der den Islám belebende Geist unter dem Druck ähnlicher Verhältnisse gezwungen, die ungastlichen Wüsten seiner arabischen Heimat, die Schauplätze seiner größten Leiden und Heldentaten, zu verlassen, um in einem fernen Land die köstlichste Frucht seiner langsam reifenden Kultur hervorzubringen?

#115

»Vom Anbeginn der Zeit bis auf den heutigen Tag«, bekräftigt 'Abdu'l-Bahá selbst, »ist das Licht göttlicher Offenbarung im Osten aufgegangen und hat seine Strahlen auf den Westen ergossen. Im Westen aber hat seine Leuchtkraft ungewöhnliches Feuer erlangt. Betrachte den Glauben, den Jesus verkündete. Obgleich er zuerst im Osten erschien, wurde doch das volle Maß seiner Möglichkeiten erst offenbar, als sich sein Licht auf den Westen ergoß.« »Der Tag naht heran«, so versichert Er uns an einer anderen Stelle», da ihr bezeugen werdet, wie durch den Strahlenglanz des Glaubens Bahá'u'lláhs der Westen den Osten abgelöst haben wird und das Licht göttlicher Führung verbreiten wird.« »In den Büchern der Propheten«, bestätigt Er des weiteren, »sind gewisse Frohe Botschaften aufgezeichnet, die völlig wahr und unzweifelhaft sind. Der Osten war allezeit der Aufgangsort für die Sonne der Wahrheit. Im Osten sind alle Propheten Gottes aufgetreten ... Der Westen hat vom Osten Erleuchtung erfahren, aber in mancherlei Hinsicht war die Widerspiegelung des Lichtes im Abendland stärker. Dies gilt besonders für die Christenheit. Jesus Christus erschien in Palästina, Seine Lehren wurden in jenem Land begründet. Aber obwohl die Tore des Königreichs dort zuerst geöffnet und die Gnadengaben Gottes vom Mittelpunkt jenes Landes weithin verbreitet wurden, haben die Menschen des Westens das Christentum umfassender angenommen und verkündet als die Menschen des Ostens.«

#116

Was Wunder, daß nach 'Abdu'l-Bahás denkwürdigem Besuch im Westen aus derselben unfehlbaren Feder folgende oft zitierten Worte strömten, deren Bedeutung ich kaum zu überschätzen vermöchte: »Der amerikanische Erdteil«, so verkündet Er in einem Sendschreiben, das den in den nordöstlichen Staaten der amerikanischen Republik wohnenden Gläubigen Seinen Göttlichen Plan darstellt», ist in den Augen des einen wahren Gottes das Land, wo der Strahlenglanz Seines Lichtes offenbart, die Geheimnisse Seines Glaubens enthüllt, wo die Rechtschaffenen wohnen und die Freien sich versammeln werden.« »Möge diese amerikanische Demokratie«, so hörte man ihn während Seines Aufenthalts in Amerika bemerken, »die erste Nation sein, welche die Grundlage internationaler Verständigung aufbaut. Möge sie die erste Nation sein, die Einheit der Menschheit zu verkünden. Möge sie die erste sein, das Banner des Größten Friedens zu entfalten ... Das amerikanische Volk ist in der Tat würdig, das erste zu sein, um das Tabernakel des großen Friedens aufzurichten und die Einheit der Menschheit aller Welt zu verkünden ... Möge Amerika zum Vertriebszentrum geistiger Erleuchtung werden und alle Welt diese himmlische Gabe aufnehmen! Denn Amerika hat Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, größer und wunderbarer als andere Nationen ... Mögen die Bewohner dieses Landes wie himmlische Engel werden, ihr Angesicht beständig auf Gott gerichtet. Mögen sie alle Diener des Allmächtigen werden. Mögen sie sich über ihre gegenwärtigen materiellen Errungenschaften hinaus zu solchen Höhen erheben, daß himmlische Erleuchtung aus diesem Mittelpunkt zu allen Völkern der Welt ströme ... Die amerikanische Nation ist gerüstet und befähigt, das zu erreichen, was die Seiten im Buch der Geschichte ziert, der Neid aller Welt zu werden und im Osten wie im Westen für die Triumphe ihres Volkes selig gepriesen zu werden ... Der amerikanische Erdteil weist Zeichen und Beweise für überaus große Errungenschaften auf. Seine Zukunft ist noch verheißungsvoller, denn sein Einfluß und seine Erleuchtung sind weitreichend. Er wird alle Nationen geistig führen.«

#117

Wäre es im Lichte so erhabener Äußerungen überspannt zu erwarten, aus der Mitte eines so beneidenswerten Weltteils, aus der Seelenqual und dem Strandgut einer Krise von nie dagewesenem Ausmaß werde eine geistige Wiedergeburt hervorbrechen, die sich vermittels der amerikanischen Gläubigen verkündet und die Geschicke eines niedergegangenen Zeitalters wiederherstellt? 'Abdu'l-Bahá selbst war es, der nach dein Zeugnis Seiner vertrautesten Begleiter bei mehr als einer Gelegenheit andeutete, die Begründung von Seines Vaters Glauben auf dem nordamerikanischen Kontinent rage als das bedeutendste der drei Ziele hervor, die Er zusammen als den Hauptzweck seines Amtes verstand. Er war es auch, der in der Blüte Seines Lebens, fast unmittelbar nach Seines Vaters Heimgang, den Gedanken faßte, Seine Sendung damit einzuleiten, daß er die Bewohner eines so vielversprechenden Landes unter dem Banner Bahá'u'lláhs sammle. In Seiner unfehlbaren Weisheit und aus überquellendem Herzen beliebte Er, Seinen bevorzugten Jüngern bis zum letzten Tag Seines Lebens die Zeichen Seiner unversieglichen Sorge zuzuwenden und sie mit den Zeugnissen Seiner besonderen Gunst zu überschütten. Er war es auch, der in vorgerücktem Alter, kaum von den Ketten langer, grausamer Kerkerhaft befreit, den Entschluß faßte, jenes Land zu besuchen, das schon so viele Jahre hindurch der Gegenstand Seiner unendlichen Liebe und Fürsorge gewesen war. Er war es, der durch die Macht Seiner Gegenwart und den Charme Seiner Äußerung der gesamten Gemeinschaft Seiner Anhänger jene Empfindungen und Grundsätze einflößte, die allein sie durch die mit der Verfolgung ihrer Aufgabe unvermeidlichen Prüfungen aufrechterhalten konnten. Vermachte Er nicht ihnen allen mit den verschiedensten feierlichen Handlungen, die Er während Seines Aufenthalts unter ihnen wahrnahm, ob bei der Grundsteinlegung zu ihrem Haus der Andacht, ob bei dem Fest, das Er ihnen gab Lind bei dem es ihm gefiel, sie persönlich zu bedienen, oder durch die Betonung, die Er bei einer ernsteren Gelegenheit auf die Folgerungen aus Seiner geistigen Stufe legte, - vermachte Er nicht dadurch ihnen allen mit Bedacht die Wesenszüge jenes geistigen Erbes, das sie, wie Er wohl wußte, tüchtig wahren und durch ihre Taten ständig bereichern würden? Und wer könnte schließlich bezweifeln, daß Er sie in dem Göttlichen Plan, den Er in den Abendstunden Seines Lebens ihren Augen enthüllte, mit einem geistigen Vorrang belehnte, auf den sie sich bei der Erfüllung ihrer hohen Bestimmung verlassen konnten?

#118

»O ihr Apostel Bahá'u'lláhs!« so redet Er sie in einem Seiner Sendschreiben an, »Möge mein Leben ein Opfer für euch sein! ... Sehet die Tore, die Bahá'u'lláh vor euch eröffnet hat! Bedenket, wie hehr und erhaben die Stufe ist, die zu erreichen euch bestimmt wurde, wie einzigartig die Gunstbeweise sind, die euch verliehen wurden.« »Meine Gedanken«, sagt Er ihnen an anderer Stelle, »sind euch zu gewandt, und bei eurer Erwähnung hüpft mir das Herz in der Brust. Könntet ihr doch wissen, wie meine Seele in Liebe zu euch erglüht; so großes Glück würde euch da ins Herz fluten, daß ihr ineinander verliebt wäret.« »Das volle Maß eures Erfolges«, erklärt Er in einem weiteren Sendschreiben, »ist noch nicht enthüllt, seine Bedeutung ist noch nicht verstanden. Bald werdet ihr mit eigenen Augen bezeugen, wie leuchtend jeder von euch, einem hellen Sterne gleich, vom Himmelszelt eures Landes das Licht göttlicher Führung herniederstrahlt und allem Volke dort die Herrlichkeit ewigen Lebens verleiht.« »Die Reichweite eurer künftigen Errungenschaften«, bestätigt Er ein anderes Mal, »ist noch verborgen. Ich hoffe inbrünstig, daß die Ergebnisse eurer Errungenschaften in naher Zukunft die ganze Erde bewegen und aufrütteln werden.« »Der Allmächtige«, versichert Er ihnen, »wird euch zweifellos die Hilfe Seiner Gnade gewähren. Er wird euch mit den Zeichen Seiner Macht bekleiden und wird euch mit der stützenden Kraft Seines heiligen Geistes ausstatten.« »Seid nicht besorgt«, so ermahnt Er sie, »über eure geringe Zahl, noch seid niedergedrückt von der Menschenmasse einer ungläubigen Welt ... Mühet euch; denn eure Sendung ist unaussprechlich ruhmreich. Wenn der Erfolg euer Unternehmen krönt, wird sich Amerika sicherlich zu einem Mittelpunkt entwickeln, von dem Wellen geistiger Macht ausstrahlen, und der Thron des Reich es Gottes wird in der Fülle seiner Majestät und Herrlichkeit festgegründet sein.«

#119

»Die Hoffnung, welche 'Abdu'l-Bahá für euch hegt«, so drängt Er sie, »ist, daß derselbe Erfolg, der eure Bemühungen in Amerika begleitete, auch eure Anstrengungen in anderen Teilen der Welt kröne, daß durch euch der Ruhm der Sache Gottes überall im Osten wie im Westen verbreitet und das Kommen des Reich es des Herrn der Heerscharen in allen fünf Teilen des Erdballs öffentlich verkündet werde ... Bisher waret ihr unermüdlich in euren Tätigkeiten. Laßt eure Anstrengungen künftig tausendfach wachsen. Fordert das Volk dieser Länder in ihren Hauptstädten, auf ihren Inseln, in ihren Versammlungen und Kirchen auf zum Eintritt in das Königreich Abhá! Die Reichweite eurer Bemühungen muß unbedingt ausgedehnt werden. Je weiter sie geht, desto eindrucksvoller werden die Beweise göttlichen Beistands sein ... O könnte ich doch diese Gegenden durchreisen, wenn auch zu Fuß und in tiefster Armut, in den Städten, den Dörfern, den Bergen, Wüsten und Meeren den Ruf, Yá Bahá'u'l-Abhá! erheben und die göttlichen Lehren verbreiten! Leider kann ich das nicht! Wie schmerzlich beklage ich dies! So Gott will, könnt ihr es erreichen.« Und schließlich, als wollte Er alle Seine früheren Äußerungen krönen, diese feierliche Bekräftigung Seiner Schau von Amerikas geistiger Bestimmung: »Sobald die amerikanischen Gläubigen diese göttliche Botschaft von den Küsten Amerikas weggetragen und quer durch die Erdteile Europa, Asien, Afrika und Austialasien bis hin zu den Inseln des Stillen Ozeans verbreitet haben, wird sich diese Gemeinde unverrückbar auf dem Thron unsterblicher Herrschaft sitzen sehen. Dann werden alle Völker der Welt bezeugen, daß diese Gemeinde geistig erleuchtet und göttlich geführt ist. Dann wird der ganze Erdball widerhallen vom Lobpreis ihrer Majestät und Größe.«

#120

Im Lichte der vorstehend angeführten Worte 'Abdu'l-Bahás sollte jeder nachdenkliche und gewissenhafte Gläubige die Bedeutung dieser gewichtigen Äußerung Bahá'u'lláhs erwägen: »Im Osten ist das Licht Seiner Offenbarung an gebrochen; im Westen sind die Zeichen Seiner Herrschaft erschienen. Denke tief im Herzen darüber nach, o Volk, und gehöre nicht zu denen, die für Seine, des Allmächtigen, des Allgepriesenen, Ermahnungen taube Ohren haben ... Sollten sie das Licht Seiner Offenbarung auf dem Festland zu verdecken suchen, dann wird es sicherlich sein Haupt mitten im Herzen des Weltmeeres erheben und mit lauter Stimme verkünden: `Ich bin der Lebensspender der Welt!`«

Innig geliebte Freunde! Kann unser Auge so trübe sein, daß es inmitten der Qual und der Unruhe, die heutzutage schlimmer als in jedem anderen Land und in einer durch ihre ganze Geschichte hindurch noch nie dagewesenen Weise die amerikanische Nation heimsuchen, die Anzeichen jener beginnenden geistigen Wiedergeburt verkennen, welche die bedeutungsschweren Worte 'Abdu'l-Bahás so klar voraussagen? Schmerz und Todespein, wie sie die Seele einer in Wehen liegenden Nation nun auszukosten beginnt, verkünden jene Wiedergeburt in überreichem Maße. Setzen Sie gegen die traurige Lage der Nationen dieser Erde und besonders der großen Republik des Westens das wachsende Glück jener Handvoll ihrer Bürger, deren Sendung es ist, wenn sie nur ihrem Erbe treu bleiben, die Wunden dieser Nation zu heilen, ihr Vertrauen neu zu bauen und ihre erschütterten Hoffnungen wiederzubeleben.

#121

Setzen Sie gegen die furchtbaren Zuckungen, die mörderischen Auseinandersetzungen, die kleinlichen Wortstreitereien, die überholten Gegensätze, die endlosen Umwälzungen, welche die Massen aufwühlen - setzen Sie dagegen das ruhige nette Licht des Friedens und der Wahrheit, das die tapferen Erben von Bahá'u'lláhs Gesetzen und Bahá'u'lláhs Liebe umhüllt, führt und erhält. Vergleichen Sie die sich auflösenden Institutionen, die in Mißkredit geratene Staatskunst, die veralteten Theorien, die erschreckende Entartung, die Torheiten und Tollheiten, die Schliche, Kniffe und Kompromisse, welche das gegenwärtige Zeitalter kennzeichnen, mit der stetigen Festigung, der heiligen Selbstzucht, der Einheit und Verbundenheit, der gewissen Überzeugung, der unbeugsamen Bündnistreue, der heldenmütigen Selbstaufopferung, welche das Gütesiegel dieser glaubensstarken Verweser und Vorboten für das Goldene Zeitalter der Religion Bahá'u'lláhs bilden.

Kein Wunder, daß 'Abdu'l-Bahá diese prophetischen Worte offenbart hat: »Der Osten«, so versichert Er uns, »ist wahrlich vom Lichte des Reiches Gottes erleuchtet worden. Bald wird dieses selbe Licht noch größeren Glanz auf den Westen ergießen. Dann werden die Herzen seines Volkes belebt durch die Kraft der Lehren Gottes, und ihre Seelen werden glühen im unvergänglichen Feuer Seiner Liebe.« »Das Ansehen des Glaubens Gottes«, so bestätigt Er, »ist unermeßlich gewachsen. Seine Größe ist nunmehr offenkundig. Der Tag naht, da er entsetzlichen Aufruhr in die Menschenherzen geworfen haben wird. Freuet euch daß über, o ihr Bewohner Amerikas, freuet euch mit jubelnder Freude!«

#122

Meine hochgeschätzten, meine inniggeliebten Brüder! Wenn wir auf die vierzig Jahre zurückblicken, die vergangen sind, seitdem die glückverheißenden Strahlen der Bahá'i-Offenbarung zum ersten Male den Erdteil Amerika erwärmt und erleuchtet haben, dann merken wir, daß diese vierzig Jahre in vier deutlich verschiedene Zeitabschnitte zerfallen, von denen jeder in einem Ereignis von solcher Bedeutung gipfelte, daß es einen Meilenstein auf dem Weg der amerikanischen Gläubigen zu ihrem verheißenen Siege darstellt. Das erste dieser vier Jahrzehnte (1893-1903) ist gekennzeichnet durch einen Vorgang langsamer, stetiger Gärung; wir können sagen, daß dieser Abschnitt in den historischen Pilgerreisen der amerikanischen Jünger 'Abdu'l-Bahás zum Schreine Bahá'u'lláhs gipfelte. Die folgenden zehn Jahre (1903-1913) waren voll von Proben und Prüfungen, welche die Körperschaft der ersten Pioniere des Glaubens dortzulande aufrüttelten, läuterten und kräftigten; ihr glückstrahlender Gipfelpunkt war 'Abdu'l-Bahás denkwürdiger Besuch Amerikas. Die dritte Periode (1913-1923), ein Abschnitt ruhiger, ununterbrochener Festigung, führte unausweichlich zur Geburt jener göttlich bestimmten Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, deren Grundlagen der Letzte Wille des dahingegangenen Meisters unverkennbar gelegt hat. Die letzten zehn Jahre (1923-1933) zeichneten sich durchgehend durch die weitere innere Entwicklung wie auch durch eine beachtliche Ausdehnung der internationalen Tätigkeiten einer wachsenden Gemeinde aus; sie sind Zeuge der Fertigstellung des Überbaus am Mashriqu'l-Adhkár, dem machtvollen Bollwerk jener Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, Sinnbild ihrer Stärke, Kennzeichen ihrer künftigen Herrlichkeit.

Jeder dieser aufeinanderfolgenden Zeitabschnitte hat, so will es mir scheinen, seinen besonderen Teil dazu beigetragen, das geistige Leben dieser Gemeinde zu bereichern und ihre Glieder auf die ungeheuere Verantwortung ihrer einzigartigen Sendung vorzubereiten. Die Pilgerreisen, zu denen sich ihre führenden Vertreter im ersten Abschnitt ihrer Geschichte bewegt fühlten, entflammten die Seelen ihrer Mitglieder mit solcher Liebe und solchem Eifer, daß noch so schlimme Widerwärtigkeiten sie nicht mehr löschen konnten. Die Prüfungen und Trübsale, welche die Gemeinde daraufhin erduldete, vermittelten denen, die sie überstanden, einen Begriff von der Tragweite ihres Glaubens, den kein noch so entschlossener und wohlorganisierter Widerstand mehr schwächen konnte. Die Institutionen, welche die erprobten und geprüften Anhänger dieser Gemeinde später errichteten, gaben ihren Vorkämpfern das stabile Gleichgewicht, das sie bei ihrer wachsenden Zahl und bei der unaufhörlichen Ausweitung ihrer Tätigkeiten dringend brauchten. Und schließlich bot den Vertretern einer bereits festgegründeten Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung der Tempel, den zu errichten ihnen eingegeben worden war, eine Zukunftsschau, welche weder die Stürme innerer Unordnung noch die Wirbelwinde internationaler Unruhe verfinstern konnten.

#123

Es würde zu lange dauern, wollte ich hier versuchen, auch nur eine kurze Beschreibung der ersten Druckwellen zu geben, die die Einführung der Bahá'i-Offenbarung in der Neuen Welt, wie unser geliebter Meister sie plante, einleitete und steuerte, unmittelbar auslöste. Der begrenzte Raum erlaubt mir auch nicht, die Begleitumstände jenes epochemachenden Besuches der ersten amerikanischen Pilger an Bahá'u'lláhs geweihtem Schreine zu erzählen, von den Taten zu berichten, welche die Rückkehr jener Träger eines neugeborenen Evangeliums kennzeichneten, oder die unmittelbaren Folgen ihrer Errungenschaften zu bewerten. Kein Wort aus meiner Feder könnte genügend ausdrücken, wie die enthüllten Hoffnungen, Erwartungen und Ziele 'Abdu'l-Bahás für einen erwachenden Weltteil spontan Geist und Herz derer elektrisierten, die ihm zuzuhören das Vorrecht hatten, die zu Empfängern Seiner kostbaren Segnungen und zu Schatzkammern Seines Vertrauens und Seiner Zuversicht erwählt waren. Nie kann ich hoffen, die in jenen heldenmütigen Herzen wogenden Gefühle angemessen darzustellen, wie sie ihrem Meister zu Füßen saßen, unter dem Obdach Seiner Gefängniswohnung, die Ausgießungen Seiner göttlichen Weisheit eifrig aufsaugend und sorgsam speichernd. Nie kann ich dem Geist unbeugsamer Entschlossenheit hinreichenden Tribut zollen, jenem Geist, den der Aufprall auf eine Persönlichkeit von magnetischer Anziehungskraft, der Zauber einer machtvollen Redeweise bei der ganzen Gesellschaft dieser heimkehrenden Pilger, dieser geweihten Herolde des neuen Gottesbundes, in einem so entscheidenden Abschnitt ihrer Geschichte entzündet hat. Das Gedenken an Namen wie Lua, Chase, MacNutt, Dealy, Goodall, Dodge, Farmer und Brittingham - um nur einige wenige Sterne aus jener unsterblichen, erlesenen Schar zu nennen, die jetzt zur Herrlichkeit Bahá'u'lláhs versammelt ist - wird für alle Zeit mit dem Aufstieg und der Begründung Seines Glaubens auf dem amerikanischen Kontinent verknüpft sein und wird auf dessen Annalen einen Glanz werfen, der nie verblassen kann.

#124

Durch diese Pilgerfahrten, wie sie in den ersten Jahren nach dem Heimgang Bahá'u'lláhs aufeinanderfolgten, trat der Strahlenglanz des Bündnisses, der beim scheinbaren Aufstieg des Erz-Bündnisbrechers vorübergehend in Wolken gehüllt war, sieghaft aus den Wechselfällen, die es heimgesucht hatten, hervor. Die Ankunft dieser Pilger - und nur sie - vertrieb schließlich das Düster, das die untröstlichen Familienangehörigen 'Abdu'l-Bahás umhüllt hatte. Diese nacheinander eintreffenden Besucher bewirkten beim Größten Heiligen Blatt, die mit ihrem Bruder zusammen, allein unter allen Mitgliedern des väterlichen Haushalts, der Auflehnung fast aller Verwandten und Freunde entgegenzutreten hatte, jene Tröstung, die sie bis zum Ende ihres Lebens aufrecht erhielt. Und die Kräfte, welche diese kleine Gruppe heimkehrender Pilger im Herzen Nordamerikas entfesseln konnte, gaben jedem Anschlag jenes Schurken, der die Sache Gottes dort zu zerstören suchte, den Rest.

#125

Die Sendschreiben, welche die nimmermüde Feder 'Abdu'l-Bahás in der Folgezeit offenbarte, verkörperten in leidenschaftlicher, eindeutiger Sprache Seine Anweisungen und Ratschläge, Seine Aufrufe und Anmerkungen, Seine Hoffnungen und Wünsche, Seine Befürchtungen und Warnungen. Bald wurden sie, eines nach dem anderen, übersetzt, veröffentlicht und weit und breit auf dem nordamerikanischen Erdteil in Umlauf gesetzt. Sie versorgten den wachsenden Kreis der ersten Gläubigen mit dem Beistand, der allein sie befähigte, die schweren, bald auf sie zukommenden Prüfungen zu bestehen.

Denn unerbittlich nahte die Stunde einer beispiellosen Krise. Anzeichen von Meinungsverschiedenheiten, wie Stolz und Ehrgeiz sie in Gang setzen, begannen den Strahlenglanz der neugeborenen Gemeinde, welche die apostolischen Lehrer jenes Weltteils arbeitsam begründet hatten, zu verdüstern und ihr Wachstum zu hemmen. Er, der das Werkzeug für die Einleitung eines so glänzenden Abschnitts in der Geschichte des Glaubens war, dem der Mittelpunkt des Bündnisses Bahá'u'lláhs Titel wie »Petrus Bahás«, »Hirte der Herde Gottes«, »Eroberer Amerikas« verliehen hatte, dem das einzigartige Vorrecht zuteil geworden war, 'Abdu'l-Bahá bei der Grundsteinlegung für den Schrein des Báb am Berge Karmel zur Hand zu gehen - dieser Mann, geblendet durch seinen außergewöhnlichen Erfolg und besessen vom Ehrgeiz nach unkontrollierter Herrschaft über den Glauben und die Tätigkeit seiner Mitjünger, pflanzte dreist das Banner des Aufruhrs auf. Er trennte sich von 'Abdu'l-Bahá und tat sich mit dem Erz-Bündnisbrecher des Gottesglaubens zusammen. So suchte dieser irregeleitete Abtrünnige die Lehren zu verdrehen, einen Feldzug übelster Schmähungen gegen die Person 'Abdu'l-Bahás einzuleiten und dadurch den Glauben derjenigen Freunde zu untergraben, die zu bekehren er sich nicht weniger als acht Jahre lang emsig bemüht hatte. Mit den Traktaten, die er veröffentlichte, mit der aktiven Unterstützung von Abgesandten seines Hauptverbündeten und verstärkt durch die Bemühungen der allmählich heranwachsenden kirchenchristlichen Feinde der Bahá'í-Offenbarung gelang es ihm, dem keimenden Glauben Gottes einen Schlag zu versetzen, von dem sich dieser nur langsam unter Schmerzen wieder erholte.

#126

Bei den unmittelbaren Auswirkungen dieser ernsten, aber vorübergehenden Spaltung in den Reihen der amerikanischen Anhänger der Sache Bahá'u'lláhs brauche ich nicht zu verweilen, noch muß ich mich über den Charakter der Schmähschriften auslassen, die auf sie niederströmten. Auch scheint es unnötig, die Maßnahmen aufzuzählen, die ein allzeit wachsamer Meister ergriff, um ihre Befürchtungen zu mildern und schließlich zu zerstreuen. Der künftige Geschichtsschreiber wird die Bedeutung der Sendung jedes der fünf erwählten Botschafter abzuschätzen haben, die 'Abdu'l-Bahá in rascher Aufeinanderfolge absandte, um jene vielgeprüfte Gemeinde zu beruhigen und neu zu stärken. Er wird in den Aufgaben, die jenen Abgesandten 'Abdu'l-Bahás gestellt waren, die Anfänge einer weitgespannten Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung nachzuweisen haben, deren Grundstein diese Botschafter zu legen beauftragt waren, deren symbolisches Bauwerk Er zu einem späteren Zeitpunkt persönlich stiftete und deren Grundlage und Reichweite die Vorkehrungen Seines Letzten Willens ausbreiten sollten.

#127

Es genüge zu sagen, daß die Tätigkeiten eines unbesiegbaren Glaubens auf dieser Stufe seiner Entwicklung bereits einen Umfang angenommen hatten, der auf der einen Seite seine Feinde zwang, neue Waffen für ihre geplanten Angriffe zu ersinnen, auf der anderen Seite aber seinen höchsten Verfechter ermutigte, seine Anhänger durch befähigte Vertreter und Lehrer in die Anfangsgründe einer Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung einzuweisen, die mit fortschreitender Entfaltung den Geist dieses Glaubens zugleich verkörpern, bewahren und hegen sollte. Die Arbeiten von so hartnäckigen Gegnern wie Vatralsky, Wilson, Jessup und Richardson nehmen es in ihren nutzlosen versuchen, die Reinheit dieses Glaubens zu besudeln, seinen Vormarsch aufzuhalten und seine Kapitulation zu erzwingen, eine mit der anderen auf. Den Vorwürfen des Nihilismus, des Ketzertums, des muhammadanischen Gnostizismus, der Unmoral, des Okkultismus und des Kommunismus, die so ungestört gegen sie erhoben wurden, begegneten die unerschrockenen, nach den Anweisungen 'Abdu'l-Bahás vorgehenden Opfer solcher schändlichen Anklagen dadurch, daß sie eine Reihe von Tätigkeiten einleiteten, die ihrer Natur nach Vorläufer von ständigen, offiziell anerkannten Verwaltungseinrichtungen sein sollten. Die feierliche Einsetzung des ersten Hauses der Geistigkeit in Chikago, von 'Abdu'l-Bahá als das »Haus der Gerechtigkeit« jener Stadt bezeichnet; die Gründung der Bahá'í-Veröffentlichungsgesellschaft; die Bildung der Green Acre-Gemeinschaft; die Herausgabe des »Star of the West«; die Abhaltung der ersten Bahá'í-Nationaltagung, die zeitlich mit der Überführung der heiligen Überreste des Báb zu ihrem endgültigen Ruheort am Berge Karmel zusammenfiel, schließlich die gerichtliche Eintragung der »Bahá'í Temple Unity« und die Bildung des Geschäftsführenden Ausschusses für den Mashriqu'l- Adhkár - diese Maßnahmen ragen als die bemerkenswertesten Errungenschaften der amerikanischen Gläubigen hervor und haben den stürmischsten Abschnitt ihrer Geschichte im Gedächtnis aller unsterblich gemacht. Dies waren die Taten, welche die Arche des Bundes Bahá'u'lláhs in die aufgewühlten Wogen unaufhörlicher Drangsale hinein vom Stapel ließen, damit sie, gesteuert vom machtvollen Arm 'Abdu'l-Bahás, bemannt mit einer Schar schwer geprüfter Jünger voll kühnen Wagemuts und überquellender Lebenskraft, seit jenen Tagen stetig ihren Kurs verfolgen konnte, ungeachtet all der Stürme bitteren Mißgeschicks, die sie umtost haben und weiterhin umtosen werden, während sie sich ihren Weg zu dem verheißenen Hafen ungetrübten, gesicherten Friedens bahnt.

#128

Unzufrieden mit den Errungenschaften, welche die gemeinschaftlichen Bemühungen ihrer gewählten Vertreter auf dem amerikanischen Kontinent krönten, und ermutigt von den Anfangserfolgen ihrer Pioniere und Lehrer jenseits der Grenzen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, entschloß sich die Gemeinde der amerikanischen Gläubigen, in fernen Himmelsstrichen neue Rekruten für die vorrückende Heeresmacht Bahá'u'lláhs zu gewinnen. An den Westküsten ihres Vaterlands in See stechend, getrieben von der unbezwinglichen Kraft eines neugeborenen Glaubens, drängten die Reiselehrer für das Evangelium Bahá'u'lláhs zu den Inseln des Stillen Ozeans und weiter bis nach China und Japan, fest entschlossen, auch jenseits der weitesten Meere die Vorposten ihres Glaubens zu errichten. Zu Hause so gut wie in der Ferne hatte diese Gemeinde unterdessen ihre Fähigkeit bewiesen, die Reichweite ihrer ausgedehnten Bemühungen zu steigern und deren Grundlagen zu festigen. Ärgerliche Stimmen, die im Protest gegen den Aufstieg dieser Gemeinde erhoben wurden, übertönte der Beifall, mit dem der Osten ihre neuesten Siege begrüßte, und die häßlichen Gestalten, die so drohend aufgeragt waren, verschwanden allmählich im Hintergrund. So bot sich diesen edlen Kämpen ein noch weiteres Feld für die Erprobung ihrer schlummernden Kräfte.

#129

Der Glaube Bahá'u'lláhs war auf dem amerikanischen Kontinent in der Tat zu neuem Leben erweckt worden. Dem Phönix gleich hatte er sich in ganzer Frische, Kraft und Schönheit erhoben und bat nun durch die Stimme seiner frohlockenden Vertreter 'Abdu'l-Bahá inständig, eine Reise zu den Ufern Amerikas zu unternehmen. Die ersten Früchte der Sendung, die den würdigen Verfechtern dieses Glaubens anvertraut worden war, gaben ihrer Bitte solches Gewicht, daß 'Abdu'l-Bahá, eben erst aus den Fesseln peinvoller Gewaltherrschaft befreit, nicht widerstehen konnte. Seine große, Seine unvergleichliche Liebe zu Seinen eigenen, bevorzugten Kindern trieb ihn an, ihrem Ruf zu antworten. ihr dringendes, ja leidenschaftliches Flehen war überdies durch zahlreiche Einladungen von Vertretern interessierter Organisationen religiösen, erzieherischen und menschenfreundlichen Hintergrunds verstärkt worden. Sie alle hatten heftig danach verlangt, aus Seinem eigenen Munde eine Darlegung der Lehren Seines Vaters zu erhalten.

#130

Obwohl Er vom Alter niedergebeugt war, obwohl Er unter Krankheiten litt, die sich aus der Ansammlung von Sorgen in fünfzig Jahren Verbannung und Gefangenschaft ergeben hatten, machte sich 'Abdu'l-Bahá zu Seiner denkwürdigen Reise über die Meere zu dem Lande auf, wo Er durch Seine Gegenwart und Seine Taten die machtvollen Leistungen, zu deren Vollendung Sein Geist Seine Jünger angeführt hatte, zu segnen und zu heiligen gedachte. Die Umstände zu schildern, welche Seinen Triumphzug durch die wichtigsten Städte der vereinigten Staaten und Kanadas begleiteten, ist meine Feder unfähig. Die Freude, welche die Ankündigung Seines Kommens hervorrief, das öffentliche Ansehen, das Seine Tätigkeiten herbeiführte, die Kräfte, welche Seine Äußerungen auslösten, der Widerstand, den die Folgerungen aus Seinen Lehren schürten, die eindrucksvollen Episoden, zu denen Seine Worte und Taten auf Schritt und Tritt Anlaß gaben - das alles werden künftige Geschlechter ohne Zweifel genau und angemessen beschreiben. Sie werden diese Geschehnisse sorgsam in allen ihren Zügen nachzeichnen, werden sie im Gedächtnis hegen und bewahren und ihren Nachkommen den Bericht selbst über die beiläufigsten Einzelheiten unverkürzt übermitteln. Vermessen wäre es in der Tat, wollten wir jetzt schon versuchen, auch nur die nackten Umrisse eines so umfassenden, so fesselnden Themas aufs Papier zu bannen.

Wenn wir nach Ablauf von mehr als zwanzig Jahren über diesen denkwürdigen Wendepunkt in der Geistesgeschichte Amerikas nachsinnen, müssen wir noch immer unsere Unfähigkeit bekennen, seine Tragweite zu verstehen oder sein Mysterium auszuloten. Ich habe in den vorangehenden Abschnitten auf einige wenige besonders hervorspringende Züge dieses unvergeßlichen Besuches angespielt. Im Rückblick auf die Geschehnisse verkünden sie uns beredsam 'Abdu'l-Bahás besondere Absicht, durch solche symbolischen Handlungen auf die erstgeborene Gemeinde des Westens jenen geistigen Vorrang zu übertragen, der das Geburtsrecht der amerikanischen Gläubigen sein sollte.

#131

Die Saaten, die 'Abdu'l-Bahá, unermüdlich tätig, so freizügig ausstreute, hatten die Vereinigten Staaten und Kanada, nein den ganzen Kontinent, mit Möglichkeiten wie nie zuvor in seiner Geschichte ausgestattet. Der kleinen Schar Seiner geschulten und geliebten Jünger und durch diese deren Nachkommen hatte Er vermittels dieses Besuches ein unschätzbares Erbe vermacht - ein Erbe, das die heilige, vorrangige Pflicht in sich trug, sich aufzumachen und auf jenem fruchtbaren Acker die Arbeit weiterzuführen, die Er so ruhmreich eingeleitet hatte. Nur blaß können wir uns die Wünsche ausmalen, die ihm aus heißem Herzen aufgestiegen sein müssen, als Er jenem verheißungsvollen Lande Sein letztes Lebewohl sagte. Eine unerforschliche Weisheit, so können wir ihn in unserer Vorstellung Seinen Jüngern gegenüber am Vorabend Seines Abschieds bemerken hören, hat in ihrer unendlichen Großmut euer Geburtsland für die Ausführung eines machtvollen Planes auserkoren. Durch die Wirksamkeit des Bündnisses Bahá'u'lláhs bin ich von Anbeginn meines Amtes an dazu berufen gewesen, hier zu erscheinen und diesen Acker umzubrechen. Die machtvollen Bestätigungen, die in den ersten Jahren eurer Laufbahn auf euch herniedergeströmt sind, haben diesen Grund und Boden zubereitet und gekräftigt. Die Prüfungen, die ihr späterhin zu erdulden hattet, haben in den Acker, den meine Hände bereitet hatten, tiefe Furchen gezogen. Die mir anvertrauten Saaten sind nun weithin vor euch ausgestreut. Unter eurer liebenden Fürsorge, durch euren unaufhörlichen Einsatz muß jedes Korn dieser Saaten keimen und seine vorherbestimmte Frucht bringen. Bald wird euch ein Winter, streng wie nie zuvor, überkommen. Seine Wolken ziehen schnell am Horizont zusammen. Stürme werden euch von allen Seiten umtoben. Das Licht des Bündnisses wird durch meinen Weggang verdunkelt werden. Diese mächtigen Windstöße, diese winterliche Öde werden jedoch vergehen. Die schlummernde Saat wird zu frischer Tat aufbrechen. Sie wird ihre Keime treiben, wird in machtvollen Institutionen ihre Blätter und Blüten zeigen. Die Frühlingsschauer, welche die sanften Segnungen meines himmlischen Vaters auf euch herabregnen lassen, werden diese zarte Pflanze befähigen, ihre Zweige weit über die Grenzen eures Heimatlandes hinaus in ferne Gebiete auszubreiten. Und schließlich wird die stetig steigende Sonne Seiner Offenbarung, wenn sie erst in ihrem Mittagsglanz erstrahlt, diesen machtvollen Baum Seines Glaubens in den Stand setzen, zur rechten Zeit auf eurem Felde seine goldenen Früchte zu bringen.

#132

Der tiefere Sinn einer solchen Abschiedsbotschaft konnte 'Abdu'l-Bahás eingeweihten Jüngern nicht lange unentdeckt bleiben. Kaum hatte Er Seine lange, mühsame Reise quer durch Amerika und Europa beendet, da begannen sich bereits die furchtbaren Ereignisse zu offenbaren, auf die Er angespielt hatte. Eine Auseinandersetzung, wie Er sie vorhergesagt hatte, trennte vorübergehend alle Mittel der Verständigung mit jenen, in die Er so grenzenlose Zuversicht gesetzt hatte und von denen Er so viel zurückerwartete. Die winterliche Öde mit all ihren Verheerungen und Blutbädern setzte ihren unbarmherzigen Lauf vier Jahre lang fort, während Er, zurückgezogen in die ruhige Einsamkeit Seines Wohnsitzes, dem heiligen Schreine Bahá'u'lláhs unmittelbar benachbart, fortfuhr, Seine Gedanken und Wünsche denen zu übermitteln, die Er zurückgelassen hatte und denen Er die einzigartigen Zeichen Seiner Gunst hatte zuteil werden lassen. In den unsterblichen Sendschreiben, die Seine Feder in den langen Stunden seelischer Verbindung zu Seinen inniggeliebten Freunden zu offenbaren bewegt wurde, entfaltete Er vor ihren Augen Seine Idee von ihrer geistigen Bestimmung, Seinen Plan für die Sendung, die Er von ihnen übernommen wissen wollte. So bewässerte Er die Saaten, die Seine Hände ausgestreut hatten, mit derselben Fürsorge, derselben Liebe und Geduld, die bereits seine früheren Bemühungen, während Er noch in ihrer Mitte wirkte, gekennzeichnet hatten.

#133

Der Posaunenruf, den 'Abdu'l-Bahá hat erschallen lassen, war das Zeichen für den Ausbruch neuer Aktivitäten, wie sie nach den Beweggründen und den dabei entfalteten Kräften Amerika noch selten erlebt hatte. Diese mächtige Bewegung gab der Arbeit, welche die wagemutigen Botschafter Bahá'u'lláhs in fernen Ländern eingeleitet hatten, neuen Auftrieb. Sie breitete sich bis auf den heutigen Tag weiter aus und gewann neuen Schwung in dem Maße, wie sie ihre Verzweigungen über die ganze Erdoberfläche ausdehnte. So wird sie fürderhin ihren Vormarsch beschleunigen, bis die letzten Wünsche ihres ursprünglichen Begründers vollständig erfüllt sein werden.

Heim und Herd, Familie, Freunde und Beruf verlassend, erhob sich eine Handvoll Männer und Frauen, angefeuert von einem Eifer und von einer Zuversicht, wie sie keine menschliche Organisation bewirken kann. So zogen sie hinaus, den Auftrag 'Abdu'l-Bahás zu erfüllen. Sie fuhren nordwärts bis nach Alaska, stießen nach Westindien vor, durchdrangen den südamerikanischen Erdteil bis zu den Gestaden des Amazonas und quer durch die Anden bis in den südlichsten Zipfel der Republik Argentinien, eilten westwärts zur Insel Tahiti, weiter zum Erdteil Australien und von dort noch weiter nach Neuseeland und Tasmanien. Durch solche Taten gelang es diesen furchtlosen Herolden des Glaubens Bahá'u'lláhs, der lebenden Generation ihrer Mitgläubigen ein Vorbild zu setzen, dem diese wohl nacheifern können. Angeführt von ihrer erleuchteten Vertreterin, die seit dem Rufe 'Abdu'l-Bahás zweimal die Welt umkreiste und heute noch mit wunderbarem Mut und bemerkenswerter Seelenkraft die unvergleichliche Liste ihrer Dienste bereichert, waren diese Männer und Frauen Werkzeuge dafür, daß sich der Einfluß von Bahá'u'lláhs weltumspannender Oberhoheit in einem von der Bahá'í-Geschichte noch unübertroffenen Maße ausdehnte. Angesichts fast unüberwindlicher Schwierigkeiten gelang es ihnen in den meisten Ländern, durch die sie kamen oder in denen sie sich niederließen, die Lehren ihres Glaubens öffentlich zu verkünden, seine Literatur zu verbreiten, seine Sache zu verteidigen, den Grund für seine Institutionen zu legen und die Zahl seiner erklärten Anhänger zu verstärken. Unmöglich kann ich in diesem engen Rahmen den Bericht solcher heldenhaften Leistungen entfalten, noch kann ein Tribut von meiner Seite dem Geiste gerecht werden, der diese Fahnenträger der Religion Gottes in die Lage versetzte, derartige Lorbeeren zu gewinnen und der Generation, der sie angehören, solche Würde zu verleihen.

#134

Unterdessen hatte die Sache Bahá'u'lláhs bereits den Erdball umspannt. ihr Licht, im finstersten Persien geboren, war nacheinander in den europäischen, den afrikanischen und den amerikanischen Erdteil hineingetragen worden. Es durchdrang jetzt das Herz Australiens und umkränzte damit die ganze Erde mit einer Lichterbrücke von strahlender Herrlichkeit. Das Maß, in dem derart würdige und beherzte Jünger 'Abdu'l-Bahás die letzten Tage Seines Erdenlebens erleuchtet haben, hat Er allein wahrhaft erkannt und kann nur Er selbst hinreichend abschätzen. Die einzigartige, ewige Bedeutung dieser Errungenschaften werden die Arbeiten der heranwachsenden Generation sicherlich enthüllen; ihre Werke werden das Andenken daran in geeigneter Weise bewahren und erhöhen. Welch tiefe Befriedigung muß 'Abdu'l-Bahá empfunden haben, wenn Er im Bewußtsein der herannahenden Stunde Seines Abschieds die ersten Früchte des internationalen Dienstes dieser Helden im Glauben Seines Vaters miterlebte! ihrer Obhut hatte Er ein großes, ein stattliches Erbe anvertraut, im Dämmerlicht Seines schwindenden Erdenlebens konnte Er zufrieden, sicher und gewiß sein, daß derart fähige Hände verläßlich die Unversehrtheit dieses Erbes wahren und dessen Vorzüge steigern werden.

#135

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás, so plötzlich nach seinen Ursachen und Umständen, so dramatisch in seinen Auswirkungen, konnte diese dynamische Kraft weder in ihrer Wirksamkeit behindern noch in ihrer Zielsetzung verdunkeln. Die feurigen Appelle, wie sie im Willen und Testament des dahingegangenen Meisters verkörpert sind, konnten vielmehr ihr Ziel nur bestätigen, ihren Charakter näher bestimmen und die Verheißung ihres endgültigen Erfolges verstärken.

Aus dem Schmerz und der Seelenqual, die Seine verwaisten Anhänger erduldeten, wurde inmitten des Staubes und der Hitze, die die Angriffe eines allzeit lauernden Feindes hinterlassen hatten, die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung des unbesiegbaren Glaubens Bahá'u'lláhs geboren. Die mächtigen Kräfte, entfesselt durch die Himmelfahrt des Mittelpunktes Seines Bündnisses, kristallisierten sich in diesem höchsten, diesem unfehlbaren Organ für die Durchsetzung eines göttlichen Zieles. Willen und Testament 'Abdu'l-Bahás entschleierten seinen Charakter, bestätigten seine Grundlagen, ergänzten seine Prinzipien, bekräftigten seine Unerläßlichkeit und zählten seine wichtigsten Institutionen auf. Mit demselben raschen inneren Antrieb, der seinerzeit den ersten Widerhall auf die von Bahá'u'lláh verkündete Botschaft gekennzeichnet hatte, erhob sich nun Amerika aufs neue und trat für die Sache dieser Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung ein, die der Wille und das Testament Seines Sohnes unmißverständlich begründet hatten.

#136

Amerika und nur Amerika war es gegeben, in den bewegten Jahren, die der Offenbarung einer derart bedeutungsschweren Urkunde folgten, zum furchtlosen Vorkämpfer dieser Ordnung, zum Angelpunkt ihrer neugeborenen Institution, zum Führer und Träger ihres Einflusses zu werden. ihren persischen Brüdern, die im heroischen Zeitalter des Glaubens die Krone des Märtyrertums erworben hatten, folgten die amerikanischen Gläubigen, Vorläufer des Goldenen Zeitalters dieses Glaubens, nunmehr würdevoll nach; sie trugen nun ihrerseits die Palme eines hart erkämpften Sieges, über den Schatten eines Zweifels hinaus hat der ungebrochene Rekord ihrer ruhmreichen Taten ihren überwiegenden Anteil an der Gestaltung der Geschicke ihres Glaubens bewiesen, in einer Welt, die sich vor Schmerzen krümmt und immer tiefer ins Chaos sinkt, konnte diese Gemeinde als Vorhut der befreienden Streitkräfte Bahá'u'lláhs in den Jahren nach 'Abdu'l-Bahás Hinscheiden, weit über die Institutionen ihrer Schwestergemeinden in Ost und West hinaus, Institutionen schaffen, die sehr wohl die Hauptsäule jenes künftigen Hauses darstellen können, eines Hauses, welches die Nachwelt als letzte Zuflucht einer wankenden Kultur betrachten wird.

#137

Weder dem Geflüster der Verräter noch den heftigen Angriffen ihrer erklärten Feinde erlaubten sie beim verfolgen ihrer Aufgaben, sie selbst von ihren hohen Zielen abzulenken oder ihren Glauben an die Erhabenheit ihrer Berufung zu untergraben. Die Aufwiegelung durch denjenigen, der mit seiner unaufhörlichen, eigennützigen Jagd nach irdischen Reichtümern den guten Namen ihres Glaubens besudelt hätte, wäre er nicht von 'Abdu'l-Bahá verwarnt worden, ließ sie im ganzen ungestört. Durch Drangsale geschult und in der Feste ihrer rasch sich entwickelnden Institutionen geborgen, lachten sie seiner Anspielungen, und in ihrer unerschütterlichen Bündnistreue waren sie fähig, seine Hoffnungen zunichte zu machen. Sie weigerten sich, ihm das wohlerworbene Ansehen und die früheren Dienste seines Vaters und seiner Genossen zugutezuhalten und somit in ihrer Entschlossenheit wankend zu werden, einen Mann, den 'Abdu'l-Bahá so nachdrücklich verurteilt hatte, völlig unbeachtet zu lassen. Auch die verhüllten Angriffe, mit denen eine Handvoll irregeleiteter Schwärmer später auf den Seiten ihrer Zeitschrift das Wachstum einer jugendlichen Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung aufzuhalten und deren Erwartungen im Keim zu ersticken suchten, verfehlten völlig ihr Ziel. Die Haltung, die ein betörtes Weib in der Folge einnahm, ihre drolligen Behauptungen, ihre Kühnheit, den Letzten Willen 'Abdu'l-Bahás verächtlich zu machen und seine Echtheit anzuzweifeln, schließlich ihre Versuche, die Grundsätze dieses Letzten Willens umzustoßen - das alles war wiederum außerstande, auch nur die geringste Bresche in die Reihen seiner tapferen Verfechter zu schlagen. Die verräterischen Anschläge, die der Ehrgeiz eines hinterlistigen, noch später aufgetretenen Feindes ersonnen hat, mit denen dieser noch immer bestrebt ist, 'Abdu'l-Bahás edles Werk zu entstellen und dessen Verwaltungsgrundsätze zu verderben, sind ein weiteres Mal vollständig vereitelt worden. Solche immer wieder einsetzenden, immer wieder mißglückten Versuche von seiten seiner Gegner, die Übergabe des neuerbauten Bollwerks des Glaubens zu erzwingen, haben dessen Verteidiger vom ersten Tag an mit Verachtung übergangen. Wie grimmig die Angriffe des Feindes, wie geschickt seine Kriegslisten je sein mochten, haben diese Verteidiger sich geweigert, auch nur ein Jota, auch nur ein Tüttelchen von ihren tief verinnerlichten Überzeugungen preiszugeben. Seine Anspielungen und sein Geschrei haben sie folgerichtig übergangen. Die Beweggründe, die seine Taten antrieben, die Methoden, nach denen er hartnäckig vorging, die widerruflichen Vorrechte, deren er sich vorübergehend zu erfreuen schien - all dies konnten sie nur gering schätzen, vorübergehend gelang es solchen berüchtigten Trägern von Verderbnis und Ketzerei durch die Ränke, die ihre überhitzten Gehirne geschmiedet hatten, und unterstützt von vergänglichen Vorteilen, wie Bekanntheit, Geschicklichkeit oder Vermögen sie bieten können, ihre häßlichen Züge emporzurecken, aber nur, um so schnell, wie sie sich erhoben hatten, in den Schmutz eines schmählichen Endes zurückzusinken.

#138

Aus der Mitte dieser quälenden Prüfungen, die in mancherlei Hinsicht an den grimmigen Sturm bei der Geburt des Glaubens in ihrem Heimatland erinnerten, stiegen die amerikanischen Gläubigen siegreich empor, in ihrem Kurs unbeirrt, in ihrem Ruf unbefleckt, in ihrem Erbe ungeschmälert. Eine Reihe großartiger Errungenschaften, eine bedeutsamer als die andere, sollte nunmehr zunehmenden Glanz auf die bereits helleuchtende Liste von Verdiensten ergießen. in den dunklen Jahren unmittelbar nach 'Abdu'l-Bahás Heimgang strahlten ihre Taten bereits eine Leuchtkraft aus, die bei ihren weniger bevorrechtigten Brüdern Neid und Bewunderung weckte. Die ganze Gemeinde, ungebunden und in höchstem Maße zuversichtlich, erhob sich, eine große, eine ruhmreiche Möglichkeit wahrzunehmen. Die Kräfte, welche ihre Geburt eingeleitet und zu ihrem Aufstieg beigetragen hatten, beschleunigten nun ihr Wachstum in solcher Weise und mit solcher Schnelligkeit, daß weder die Schmerzen weltweiter Leiderfahrungen noch die unaufhörlichen Zuckungen eines zerrütteten Zeitalters ihre Anstrengungen lähmen oder ihren Vormarsch aufhalten konnten.

#139

Innerlich hatte die Gemeinde eine Reihe von Unternehmungen eingeleitet, die sie einerseits befähigten, die Reichweite ihrer geistigen Amtsgewalt noch weiter auszudehnen, und andererseits, die wesentlichen Werkzeuge für die Begründung und Festigung der Institutionen, die jene Ausdehnung gebieterisch erforderte, zu schmieden. Nach außen hin waren ihre Unternehmungen von der zweifachen Zielsetzung beseelt, zum einen noch eingehender als zuvor die bewundernswerte Arbeit weiterzuverfolgen, die ihre internationalen Lehrer eingeleitet hatten, und zum andern wachsenden Anteil an der Behandlung und Lösung der heiklen, verwickelten Probleme zu nehmen, denen ein soeben von seinen Fesseln befreiter Glaube in wachsendem Maße gegenüberstand. Die Geburt der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung auf jenem Kontinent hatte diese lobenswerten Bemühungen offengelegt, und die schrittweise Festigung dieser Ordnung war dazu bestimmt, die Gewähr für die Fortsetzung solcher Bemühungen zu bieten und deren Wirksamkeit zu steigern.

Alles, was ich gegenwärtig tun kann, ist, die am weitesten hervorragenden Errungenschaften aufzuzählen, wie sie das Ansehen der amerikanischen Gläubigen in ihrem eigenen Land und weit über dessen Grenzen hinaus so hoch emporgehoben und zu Ruhm und Ehre des Größten Namens beigetragen haben. Künftigen Geschlechtern muß die Aufgabe überlassen bleiben, die Bedeutung dieser Errungenschaften darzustellen und ihren Wert gerecht abzuschätzen. Der Körperschaft ihrer erwählten Vertreter ist die Ehre zuzurechnen, die erste unter ihren Schwesterräten in Ost und West gewesen zu sein, welche die wesentlichen Werkzeuge für die wirksame Erledigung ihrer gemeinsamen Pflichten ersonnen, verkündet und gesetzlich verankert hat - Werkzeuge, die jede richtig begründete Bahá'í-Gemeinde als ein Modell betrachten muß, das wert ist, angepaßt und nachvollzogen zu werden.

#140

Ihren Bemühungen ist desgleichen der historische Erfolg zuzuschreiben, daß sie ihre nationalen Besitzungen auf eine dauerhafte, unangreifbare Grundlage gestellt und die notwendige Rechtsbasis für die Bildung solcher Hilfsorgane geschaffen hat, die im Namen ihrer Treuhänder Besitzungen, die diese jenseits der Grenzen ihres unmittelbaren Rechtsbereichs erwerben, zu verwalten befugt sind. Mit dem Gewicht der moralischen Unterstützung, die sie ihren ägyptischen Brüdern so freizügig gewährte, konnte sie einige der schrecklichsten Hindernisse beseitigen, die der Glaube in seinem Kampf um die Befreiung aus den Fesseln muslimischer Orthodoxie zu überwinden hatte. Durch das wirksame, rechtzeitige Eingreifen dieser selben erwählten Vertreter waren die amerikanischen Gläubigen in der Lage, die Sorgen und Gefahren abzuwenden, die ihre verfolgten Mitarbeiter in den Sowjetrepubliken bedroht hatten, und die Raserei zu parieren, die eine der wertvollsten und vornehmsten Bahá'í-Institutionen unmittelbar zu zerstören drohte. Nichts als die beherzte Hilfe, welche die amerikanischen Gläubigen, moralisch wie finanziell, einzeln wie gemeinsam bei mehreren Gelegenheiten den Bedürftigen und Gepeinigten unter ihren Brüdern in Persien zu gewähren bewegt waren, hätte diese unglücklichen Opfer der Auswirkungen unheilvoller Entwicklungen, die sie in den Jahren nach 'Abdu'l-Bahás Heimgang ereilt hatten, retten können. Die öffentliche Aufmerksamkeit, welche die Bemühungen ihrer amerikanischen Brüder erregt hatten, die Proteste, welche sie einzulegen sich veranlaßt sahen, die Aufrufe und Bittschriften, die sie unterbreiteten - dies alles linderte diese Leiden und bändigte die Gewalttätigkeit der schlimmsten und grausamsten Gegner des Glaubens dortzulande.

#141

Wer sonst außer einem ihrer vornehmsten Vertreter hat sich erhoben, um dein höchsten Gerichtshof, den die Welt bislang gesehen hat, Aufmerksamkeit für die Übelstände abzunötigen, die der Glaube, dem eines seiner wichtigsten Heiligtümer geraubt worden war, von den Händen des unrechtmäßigen Besitzergreifers zu erdulden hatte? Wer sonst hatte durch geduldige, hartnäckige Bemühungen jene schriftlichen Bestätigungen erlangt, die das Recht einer verfolgten Sache verkündeten und stillschweigend ihren Anspruch auf einen unabhängigen religiösen Status bekräftigten? »Die Kommission«, so lautet die Resolution der Ständigen Mandatskommission des Völkerbundes, »empfiehlt dem Rat, die britische Regierung zu ersuchen, bei der irakischen Regierung vorstellig zu werden, um die Verweigerung des Rechtsschutzes, welche die Gesuchsteller (der Geistige Rat der Bahá'í in Baghdád) erlitten haben, unverzüglich zu bereinigen«. Konnte irgend jemand außer einer amerikanischen Gläubigen aus königlicher Feder so einzigartige, wiederholte Zeugnisse für die wiederbelebende Macht des Glaubens Gottes, so eindrucksvolle verweise auf die weltumspannende Kraft seiner Lehren und die Erhabenheit seiner Sendung erlangen? »Die Bahá'í-Lehre«, so das schriftliche Zeugnis der Königin, »bringt Frieden und Verständigung. Sie ist wie eine große Umarmung, welche alle zusammenführt, die lange nach Worten der Hoffnung gesucht haben. Sie anerkennt alle großen Propheten der Vergangenheit, zerstört keine anderen Glaubensbekenntnisse und läßt alle Tore offen. Traurig über den fortgesetzten Kampf zwischen Gläubigen vieler Konfessionen und ihrer wechselseitigen Unduldsamkeit überdrüssig, entdeckte ich in der Bahá'í-Lehre den wahren Geist Christi, wie er so oft verleugnet und mißverstanden wurde: Einheit statt Kampf, Hoffnung statt Verdammung, Liebe statt Haß und große neue Gewißheit für alle Menschen.«

#142

Haben nicht die amerikanischen Anhänger des Glaubens Bahá'u'lláhs durch die mutige Tat eines der brillantesten Mitglieder ihrer Gemeinde dazu beigetragen, den Weg zur Beseitigung jener Hindernisse, die fast ein volles Jahrhundert hindurch das Anwachsen ihrer Glaubensbrüder in Persien gehemmt und deren Kräfte gelähmt haben, zu bahnen? War es nicht Amerika, allzeit der leidenschaftlichen Bitte 'Abdu'l-Bahás eingedenk, das bis in die letzten Winkel der Erde eine stetig wachsende Zahl seiner ergebensten Bürger entsandte - Männer und Frauen, deren einziger Lebenswunsch es ist, die Grundlagen für Bahá'u'lláhs weltumspannende Herrschaft zu festigen? in den nördlichsten Hauptstädten Europas, in den meisten seiner mittleren Staaten, quer durch den Balkan, entlang den Küsten des afrikanischen, des asiatischen und des südamerikanischen Erdteils findet man heute eine kleine Schar weiblicher Pioniere, die sich allein und mit bescheidenen Hilfsmitteln für das Kommen des Tages abmühen, den 'Abdu'l-Bahá verheißen hat. Hat nicht die Haltung des Größten Heiligen Blattes gegen Ende ihres Lebens beredtes Zeugnis für den unvergleichlichen Anteil abgelegt, in dem ihre standhaften, opferfreudigen Geliebten auf diesem Kontinent die Last erleichterten, die ihr so lange und so schwer auf dem Herzen lag? Und wer könnte schließlich die Stirn haben zu bestreiten, daß die Vollendung des Überbaus am Mashriqu'l-Adhkár - die krönende Ruhmestat unter Amerikas vergangenen und gegenwärtigen Erfolgen - jene mystische Kette geschmiedet hat, welche die Herzen seiner bevorrechtigten Baumeister noch fester als je zuvor mit ihm, der Quelle und dem Mittelpunkt ihres Glaubens, dem Gegenstand ihrer tiefen und wahren Anbetung - verbinden soll?

#143

Mitgläubige auf dem amerikanischen Kontinent! Groß waren in der Tat ihre vergangenen, groß sind ihre gegenwärtigen Errungenschaften! Unermeßlich viel größer sind die Wunder, welche die Zukunft für Sie bereithält! Das Bauwerk, das ihre Opfergaben aufgerichtet haben, muß noch verkleidet werden. Das Haus¹, das von den höchsten Verwaltungseinrichtungen, die ihre Hände geschaffen haben, getragen sein muß, ist noch nicht erbaut. Die Vorkehrungen, die in der Hauptlagerstätte für jene Gesetze verwahrt liegen, welche die Tätigkeit jenes Hauses regeln, sind bis heute noch größtenteils nicht bekanntgegeben. Das Banner, das nach 'Abdu'l-Bahás Wünschen in ihrem eigenen Lande aufgerichtet werden muß, ist noch nicht entfaltet. Die Einheit, deren Sinnbild jenes Banner sein soll, ist bei weitem noch nicht begründet. Der Verwaltungsapparat, der diese Einheit verkörpern und bewahren muß, ist noch nicht einmal geschaffen. Wird es Amerika sein, wird es eines der Länder Europas sein, das sich erhebt, die Führerschaft zu übernehmen, die für die Gestaltung der Geschicke dieses leidgeprüften Zeitalters notwendig ist? Wird es Amerika zulassen, daß eine seiner Schwestergemeinden in Ost oder West eine Überlegenheit erlangt, die Amerika jenes geistigen Vorrangs beraubt, mit dem es belehnt wurde und den es bislang so vornehm bewahrt hat? Wird Amerika nicht vielmehr durch eine weitere Offenbarung der ihm innewohnenden, sein Leben bewegenden Kräfte dazu beitragen, daß das kostbare Erbe, welches der dahingegangene Meister ihm in Seiner Liebe und Weisheit vermacht hat, gemehrt werde?

¹ Das Universale Haus der Gerechtigkeit

#144

Die Vergangenheit Amerikas war ein Zeugnis für die unerschöpfliche Lebenskraft seines Glaubens. Sollte nicht seine Zukunft dies bestätigen?

Ihr wahrer Bruder Shoghi

Haifa, Palästina 21. April 1933









#147
6
Die Sendung Bahá'u'lláhs

An die Geliebten Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen im Westen!


+6:1
Mitarbeiter im göttlichen Weinberg!

Am 23. Mai dieses bedeutsamen Jahres 1934 feiert die Bahá'í-Welt die neunzigste Wiederkehr der Begründung des Glaubens Bahá'u'lláhs. Wir, die wir uns in dieser Stunde an der Schwelle zum letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts im Bahá'í-Zeitalter befinden, mögen wohl innehalten, um über die geheimnisvolle Sendung einer so erhabenen und gewaltigen Offenbarung nachzudenken. Wie weit, wie beglückend ist die Aussicht, die der Verlauf von neunzig Jahren vor unserem Blick entfaltet! Fast überwältigt uns ihre erhabene Größe. Dieses einzigartige Schauspiel zu betrachten, sich, wenn auch nur undeutlich, die Begleitumstände der Geburt und allmählichen Entwicklung dieser erhabenen Theophanie vor Augen zu führen, sich wenigstens in Umrissen die leidvollen Kämpfe in die Erinnerung zu rufen, die ihren Aufstieg verkündet und ihren Verlauf beschleunigt haben, dies wird genügen, um jeden vorurteilsfreien Beobachter von jenen ewigen Wahrheiten zu überzeugen, die den Grund und Anstoß ihres Lebens bilden und sie auch weiterhin bis zur Vollendung ihres vorbestimmten Aufstiegs vorwärts treiben.

#148

Den ganzen Raum dieses berückenden Schauspiels überragend erhebt sich die unvergleichliche Gestalt Bahá'u'lláhs, erhaben in Seiner Majestät, voll Ruhe, ehrfurchtgebietend und unerreichbar herrlich. Ihm eng verbunden und, obgleich im Rang untergeordnet, doch mit der Vollmacht zu gemeinsamem Thronen über den Geschicken dieser höchsten Sendung ausgestattet, leuchtet auf dieses geistige Bild die jugendliche Herrlichkeit des Báb mit Seiner unendlichen Zartheit, Seiner unwiderstehlichen Anmut, Seinem unübertroffenen Heldentum und der Einzigartigkeit der dramatischen Begebnisse Seines so kurzen, doch so ereignisreichen Lebens. Und schließlich erhebt ;ich auf Seiner eigenen Stufe und in einer von den Ihm vorangegangenen Zwillingsgestalten ganz verschiedenen Art die ergreifende und anziehende Persönlichkeit 'Abdu'l-Bahás, die in einem Grade, den kein Mensch auf noch so hoher Stufe je zu erreichen hoffen kann, die Herrlichkeit und Macht widerstrahlt, mit der die Manifestationen Gottes allein geschmückt sind.

Mit 'Abdu'l-Bahás Heimgang, genauer mit dem Hinscheiden Seiner geliebten und erlauchten Schwester, des Erhabensten Blattes, der letzten Überlebenden eines glorreichen und heldenhaften Zeitalters, findet das erste und erschütterndste Kapitel der Bahá'í-Geschichte seinen Abschluß, ein Abschnitt, der das Ende des ersten, des apostolischen Zeitalters des Glaubens Bahá'u'lláhs darstellt. Es war 'Abdu'l-Bahá, der durch die Vorsorge und das Gewicht Seines Willens und Testamentes die lebendige Kette schmiedete, die für alle Zeit das eben vergangene Zeitalter mit dem gegenwärtigen, der Übergangs- und Aufbauzeit des Glaubens, verbinden muß, einem Stadium, das in der Fülle der Zeit in den Heldentaten und Triumphen, die das Goldene Zeitalter der Offenbarung Bahá'u'lláhs künden werden, Blüten treiben und Früchte tragen wird.

#149

Geliebte Freunde! Die vorstoßenden Kräfte, die das Wirken zweier unabhängiger und rasch einander folgender Manifestationen so wunderbar entfesselt hat, werden jetzt vor unseren Augen unter der Obhut der erwählten Diener eines weitgetragenen Glaubens nach und nach gemustert und geordnet. Sie formen sich langsam zu Institutionen, die man dereinst als Ausdruck und Ruhm des Zeitalters betrachten wird, das aufzubauen und durch unsere Taten zu verewigen wir berufen sind. Denn aus unseren derzeitigen Bemühungen und vor allem dem Ausmaß, in dem wir unser Leben nach dem erhabenen, heldischen Vorbild derer gestalten, die vor uns gingen, muß sich die Wirksamkeit der nun durch uns erstehenden Werkzeuge ergeben, Werkzeuge, die das Gebäude jenes segensreichen Gemeinwesens errichten, welches das Kennzeichen des Goldenen Zeitalters unseres Glaubens werden muß.

Ich beabsichtige nicht, wenn ich auf diese gedrängten Jahre heldenhafter Taten zurückschaue, auch nur einen flüchtigen Überblick über die mächtigen Ereignisse zu wagen, die sich seit 1844 bis zum heutigen Tage zugetragen haben. Auch hege ich nicht die Absicht, die Kräfte, die ihre Auslösung herbeiführten, zu untersuchen noch deren Einfluß auf die Völker und ihre Einrichtungen in fast allen Kontinenten des Erdballs abzuschätzen. Die verbürgten Aufzeichnungen über das Leben der ersten Gläubigen des Ursprungszeitalters unseres Glaubens werden im Verein mit den künftigen unablässigen Forschungen der zuständigen Bahá'í-Historiker der Nachwelt eine so meisterhafte Darlegung der Geschichte jenes Zeitalters übermitteln, wie sie meine eigenen Bemühungen nie vollbringen könnten. Meine Hauptaufgabe in dieser aufrüttelnden Periode der Bahá'í-Geschichte ist vielmehr, bei denen, die zu ersten Baumeistern der Verwaltungsordnung Bahá'u'lláhs berufen sind, Aufmerksamkeit für gewisse grundlegende Wahrheiten zu wecken, deren Erläuterung ihnen bei der wirkungsvollen Durchführung ihres gewaltigen Unternehmens in höchstem Maße helfen muß.

#150

Die internationale Stellung, die die Religion Gottes bis dahin erreicht hat, verlangt gebieterisch, daß ihre Grundprinzipien jetzt endgültig geklärt werden. Der beispiellose Antrieb, den die erhabenen Taten der amerikanischen Gläubigen dem Vormarsch unseres Glaubens gaben, das nachdrückliche Interesse, das der erste Mashriqu'l-Adhkár des Westens rasch unter den verschiedenen Rassen und Völkern auslöst, die Errichtung und beständige Festigung von Bahá'í-Einrichtungen in nicht weniger als vierzig¹ der fortgeschrittensten Länder in der Welt, die Verbreitung von Bahá'í-Schrifttum in nicht weniger als fünfundzwanzig¹ der meistgesprochenen Sprachen, der Erfolg, der erst kürzlich den umfassenden Bemühungen der persischen Gläubigen bei den ersten Schritten zur Errichtung des dritten Mashriqu'l-Adhkár der Bahá'í-Welt in der nächsten Umgebung der Hauptstadt ihres Heimatlandes beschieden war, ihre Maßnahmen zur sofortigen Bildung des ersten Nationalen Geistigen Rates, der die Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bahá'í vertritt, die geplante Errichtung eines weiteren Pfeilers des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, des ersten seiner Art auf der südlichen Hemisphäre, die Anerkennungen, die ein ringender Glaube mündlich und schriftlich von königlicher Seite, Regierungsstellen, internationalen Schiedsgerichtshöfen und kirchlichen Würdenträgern erhalten hat, die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihm die Angriffe unerbittlicher neuer wie alter Feinde eingetragen haben, die förmliche Befreiung einer Anzahl seiner Anhänger aus den Fesseln muslimischer Orthodoxie in einem Lande, das als die aufgeklärteste unter den islámischen Nationen anzuschen ist, - all dies liefert den vollen Beweis für den wachsenden Schwung, mit dem die unüberwindliche Gemeinschaft des Größten Namens dem endgültigen Sieg entgegenschreitet.

¹ im Jahre 1934

#151

Inniggeliebte Freunde! Ich fühle kraft der Pflichten und Verantwortlichkeiten, denen zu genügen ich als Hüter des Glaubens Bahá'u'lláhs berufen bin, mich in einer Zeit, da die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in wachsendem Maße auf uns gerichtet ist, aufgerufen, besonderes Gewicht auf gewisse Wahrheiten zu legen, welche die Grundlage unseres Glaubens bilden und deren Unverfälschtheit zu wahren unsere erste Aufgabe ist. Diese Wahrheiten werden bei tapferer Vertretung und richtigem verstehen nach meiner Überzeugung die Kräfte unseres geistigen Lebens mächtig stärken und uns höchst dienlich sein, den Machenschaften eines unerbittlichen, wachsamen Feindes zu begegnen.

Das Bestreben, ein besseres Verständnis für die Bedeutung der überwältigenden Offenbarung Bahá'u'lláhs zu erlangen, muß nach meiner unumstößlichen Überzeugung immer erste Pflicht und Ziel des unablässigen Bemühens eines jeden ihrer getreuen Jünger bleiben. Das genaue, sorgsame Begreifen einer so großen Ordnung, einer so erhabenen Offenbarung, eines so heiligen Glaubens liegt aus augenfälligen Gründen außerhalb des Bereiches und der Fassungskraft unseres begrenzten Geistes. Dennoch können wir, ja müssen wir versuchen, in der Arbeit für die Verbreitung Seines Glaubens neue Eingebung und vermehrten Rückhalt durch ein klareres Verständnis der von ihm verwahrten Wahrheiten und der ihm zu Grunde liegenden Prinzipien zu erlangen.

#152

In einer Mitteilung an die amerikanischen Gläubigen habe ich im Verlaufe meiner Erläuterung der Stufe des Báb flüchtig die unvergleichliche Größe der Offenbarung, als deren bescheidenen Vorläufer Er sich betrachtet hat, erwähnt. Er, den Bahá'u'lláh im Kitáb-i-Íqán den verheißenen Qá'im nennt, der nicht weniger als fünfundzwanzig der siebenundzwanzig Buchstaben, die allen Propheten zu offenbaren bestimmt war, offenbart hat, Er, der ein so großer Offenbarer ist, hat selber Zeugnis für den Vorrang jener noch höheren Offenbarung, die binnen kurzem Seine eigene überholen würde, abgelegt. »Der Keim«, so erklärt der Báb im Persischen Bayán, »der alle Möglichkeiten der kommenden Offenbarung in sich birgt, ist mit einer höheren Macht begnadet als die vereinten Kräfte derer, die Mir anhängen.« »Von allen Ehrungen«, so erklärt Er weiter, »die Ich Ihm, der nach Mir kommen wird, gezollt habe, ist die größte Mein schriftliches Bekenntnis, daß keines Meiner Worte Ihn angemessen beschreiben kann noch irgendeinein Hinweise auf Ihn in Meinem Buche, dem Bayán, vergönnt ist, Seiner Sache gerecht zu werden.« »Der Bayán«, so erklärt Er nachdrücklich im gleichen Buche, »und was immer darin enthalten ist, kreist um die Rede von `Dem, Den Gott offenbaren wird`, so wie das Alif (das Evangelium) und alles, was darinnen ist, sich um die Rede von Muhammad, dem Apostel Gottes, dreht.« »Ein tausendmaliges Durchlesen des Bayán «, bemerkt Er ferner, »kann nicht dem Lesen eines einzigen Verses gleichkommen, den, `Er, den Gott offenbaren wird`, enthüllen wird ... Heute befindet sich der Bayán im Zustand eines Samenkorns; mit Beginn der Offenbarung `Dessen, Den Gott offenbaren wird`, wird seine endgültige Vollkommenheit zutage treten ... Der Bayán und diejenigen, die an ihn glauben, sehnen sich leidenschaftlicher nach Ihm, als sich je ein Liebender nach der Geliebten sehnte ... Der Bayán leitet alle seine Herrlichkeit von `Ihm` her, `Den Gott offenbaren wird.` Aller Segen sei auf dem, der an Ihn glaubt, und Weh begegne dem, der seine Wahrheit abweist.«

#153

Sich an Siyyid Yahyáy-i-Dárábí, genannt Vahíd, den gelehrtesten, beredtesten und einflußreichsten unter Seinen Jüngern, wendend, äußert der Báb die folgende Warnung: »Bei der Rechtschaffenheit Dessen, Der mit Seiner Macht den Samen keimen heißt und allen Dingen den Geist des Lebens einhaucht, - wäre Ich gewiß, daß du Ihn am Tage Seiner Manifestation verleugnest, Ich würde dich, ohne zu zögern, ausstoßen und deinen Glauben verwerfen ... Würde Mir andererseits gesagt, daß ein Christ, der nicht Meinem Glauben anhängt, an Ihn glauben wird, Ich würde ihn wie Meinen Augapfel schätzen.«

In einem Seiner Gebete hält Er mit Bahá'u'lláh die folgende Zwiesprache: »Erhaben bist Du, o mein Herr der Allmächtige! Wie schwach und armselig erscheint mein Wort und alles, was mir zugehört, es sei denn, daß es Beziehung zu Deiner großen Herrlichkeit besitze. Gewähre, daß durch den Beistand Deiner Gnade, was immer mir gehört, vor Deinem Antlitz angenommen werde.«

Im Qayyúmu'l-Asmá', dem Kommentar des Báb zur Súrih von Joseph, den der Verfasser des Íqán, »das erste, größte und mächtigste« der durch den Báb offenbarten Bücher nennt, sind folgende Hinweise auf Bahá'u'lláh zu lesen: »Aus dem äußersten Nichtsein hast Du, o großer und allmächtiger Meister, mich durch das himmlische Wirken Deiner Macht hervorgebracht und mich erhoben, diese Offenbarung zu verkünden. Ich habe niemanden als Dich zu Meinem Glaubenshort gemacht, ich habe mich an keinen anderen Willen als an den Deinen geklammert ... O Du Spur Gottes! Ich habe mich ganz für Dich geopfert. Ich habe um Deinetwillen Verfluchungen auf mich genommen und nach nichts verlangt als nach dem Märtyrertode auf dem Pfade Deiner Liebe. Wahrhaftiger Zeuge für mich ist Gott, der Erhabene, der Beschützer, der Altehrwürdige der Tage.« »Und wenn die vorbestimmte Stunde da sein wird«, so wendet Er sich im gleichen Kommentar nochmals an Bahá'u'lláh, »so wollest Du mit der Erlaubnis Gottes, des Allweisen, von den Höhen des erhabensten und geheimnisvollsten Berges einen schwachen, unendlich feinen -schimmer Deines undurchdringlichen Geheimnisses offenbaren, damit die, welche das Licht vom Glanze des Sinai erkannt haben, dahinschwinden und sterben mögen im Anblick eines Blitzstrahls des erschütternden, tiefroten Lichtes, das Deine Offenbarung einhüllt.«

#154

Als weiteres Zeugnis für die Größe der Offenbarung Bahá'u'lláhs mögen hier folgende Auszüge aus einem von 'Abdu'l-Bahá an einen hervorragenden Zoroastrier-Bahá'í gerichteten Tablet Erwähnung finden: »Du hast geschrieben, es stehe in den heiligen Büchern der Anhänger Zarathustras, daß während der letzten Tage die Sonne in drei getrennten Sendungen zum Stillstand kommen müsse. In der ersten Sendung, so lautet die Voraussage, wird die Sonne zehn Tage lang bewegungslos verharren, in der zweiten doppelt so lange und in der dritten nicht weniger als einen vollen Monat. Die Auslegung dieser Prophezeiung ist, daß die erste Sendung, auf die sich diese Angaben beziehen, die Sendung Muhammads ist, während welcher die Sonne der Wahrheit zehn Tage hindurch stillstand. jeder der Tage zählt als ein Jahrhundert. Die Sendung Muhammads mußte darnach zum mindesten tausend Jahre dauern, was auch genau die Zeit vom sinken des Sterns des Imamates bis zum Beginn der durch den Báb verkündeten Sendung ist. Die zweite Sendung, auf die diese Prophezeiung anspielt, ist die des Báb, die im Jahre 1260 d. H. anfing und im Jahre 1280 d. H. endete. Die Zeitdauer der dritten Sendung, der von Bahá'u'lláh verkündeten Offenbarung, wurde, da die Sonne der Wahrheit mit Erreichen dieses Standes in der Fülle ihres Mittagsglanzes leuchtet, mit einem vollen Monat angegeben, was die längste Zeit bedeutet, die die Sonne zum Durchlaufen eines Zeichens des Tierkreises benötigt. Hieraus kannst du die Größe des Bahá'í-Zyklusses ermessen, eines Zyklusses, der sich über einen Zeitraum von mindestens fünfhunderttausend Jahren erstrecken muß.«

#155

Aus dem Wortlaut dieser klaren, bevollmächtigten Auslegung einer uralten Prophezeiung geht hervor, wie nötig es für jeden getreuen Anhänger des Glaubens ist, den göttlichen Ursprung der Sendung Muhammads anzunehmen und deren unabhängige Stufe zu verteidigen. Ebenso wird in diesen Zeilen die unbedingte Gültigkeit des Imamates, jener göttlich verordneten Einrichtung bestätigt, von deren hervorragendstem Glied der Báb selber ein direkter Sproß war, und die nicht weniger als zweihundertundsechzig Jahre lang fortwährend die erwählte Empfängerin der Führung des Allmächtigen und der Verwahrungsort eines der beiden kostbarsten Vermächtnisse des Islám war.

Diese gleiche Prophezeiung beweist, wie wir auch den unabhängigen Charakter der Bábi-Sendung anerkennen müssen, und bestätigt mittelbar die Wahrheit, daß in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der fortschreitenden Offenbarung jede Manifestation Gottes den Menschen ihres Tages notwendigerweise ein Maß an göttlicher Führung gewähren muß, das größer ist als jenes, welches ein vorangegangenes oder weniger aufnahmefähiges Zeitalter hätte empfangen oder anerkennen können. Aus diesem Grunde und nicht etwa wegen eines ihr eigenen höheren Wertes, der der Bahá'í-Religion vielleicht beigemessen wird, zeugt diese Prophezeiung für die unvergleichliche Macht und Herrlichkeit, mit der die Sendung Bahá'u'lláhs ausgestattet wurde, eine Sendung, deren Möglichkeiten wir erst wahrzunehmen beginnen und deren volle Tragweite wir niemals abzusehen vermögen.

#156

Der Glaube Bahá'u'lláhs sollte in der Tat, wenn wir treu zu den gewaltigen Folgerungen dieser Botschaft stehen wollen, als der Höhepunkt eines Zyklusses, der letzte Abschnitt in einer Reihe aufeinanderfolgender, vorläufiger, fortschreitender Offenbarungen betrachtet werden, die, beginnend mit Adam und endend mit dem Báb, den Weg bereitet und mit wachsendem Nachdruck das Kommen jenes Tages der Tage angekündigt haben, da Er, der Verheißene aller Zeitalter, offenbart wird.

Diese Wahrheit bezeugen die Äußerungen Bahá'u'lláhs in reichem Maße. Eine bloße Andeutung der von Ihm selber wiederholt in gewaltiger Sprache und mit zwingender Macht erhobenen Ansprüche kann den Charakter der Offenbarung, deren erwählter Träger Er gewesen ist, erschöpfend darlegen. Wir sollten darum unsere Aufmerksamkeit auf die Seiner Feder, dem Urquell einer so gewaltigen Offenbarung, entströmten Worte richten, wenn wir ihre Wichtigkeit und Bedeutung klarer erkennen wollen. Ob in der Bekräftigung Seines noch nie dagewesenen Anspruches oder in Seinen Anspielungen auf die geheimnisvollen Kräfte, die Er entfesselt hat, ob an solchen Stellen, wo er die Herrlichkeiten seines langersehnten Tages preist, oder an solchen, wo Er die Stufe jener preist, welche die verborgenen Vorzüge dieses Tages erkennen - immer hat Bahá'u'lláh, und in nahezu gleichem Ausmaße der Báb und 'Abdu'l-Bahá, der Nachwelt Fundgruben eines so unschätzbaren Reichtums hinterlassen, wie sie keiner von uns, die wir dem heutigen Geschlechte angehören, hoch genug zu schätzen vermag. Derartige Zeugnisse zu diesem Thema sind von einer solchen Kraft durchdrungen und offenbaren eine solche Schönheit, daß nur diejenigen beanspruchen können, ihren Wert hinlänglich abzuschätzen, denen es möglich ist, die Worte in der Ursprache zu lesen. So groß ist die Zahl dieser Beweise, daß ein ganzes Werk geschrieben werden müßte, um nur die hervorragendsten davon zusammenzustellen. Alles, was ich gegenwärtig unternehmen und wagen kann, ist, Ihnen Stellen mitzuteilen, die ich aus Seinen umfangreichen Schriften auszuziehen vermochte.

#157

»Ich bezeuge vor Gott«, verkündet Bahá'u'lláh, »die Größe, die unfaßbare Größe dieser Offenbarung. Wieder und immer wieder haben Wir in den meisten Unserer Schriften für diese Wahrheit Zeugnis abgelegt, auf daß die Menschheit aus ihrer Nachlässigkeit erwache.« »In dieser mächtigsten Offenbarung«, so erklärt Er unzweideutig, »finden alle Sendungen der Vergangenheit ihre höchste, ihre endgültige Erfüllung.« »Was in dieser überragenden, erhabensten Offenbarung kundgegeben wurde, hat in den Annalen der Vergangenheit nicht seinesgleichen noch wird eine künftige Zeit desgleichen schauen.« »Er ist es«, so verkündet Er, auf Sich selbst bezogen, weiter, »Dessen Name im Alten Testament Jehova war, den das Evangelium den Geist der Wahrheit nannte und der im Qur'án als die Große Verkündigung angerufen wurde.« »Nur um Seinetwillen sind alle Gottgesandten mit dem Mantel des Prophetentums geschmückt, nur für Ihn ist jede der heiligen Schriften offenbart worden. Dies bezeugen alle erschaffenen Dinge.« »Das Wort, das der eine wahre Gott an diesem Tag verkündet - und sollte dieses Wort auch der gebräuchlichste und alltäglichste Ausdruck sein -, ist mit höchster, einzigartiger Auszeichnung bekleidet.« »Allgemein ist die Menschheit noch unreif. Hätte sie genügend Fähigkeit erworben, Wir hätten ihr ein so großes Maß von Unserem Wissen abgegeben, daß alle, die auf Erden und im Himmel wohnen, sich durch die aus Unserer Feder strömende Gnade als völlig von allem Wissen außer der Erkenntnis Gottes losgelöst empfänden und sich er auf dem Thron beständiger Ruhe säßen.« »Die Feder der Heiligkeit, Ich bestätige es feierlich vor Gott, hat auf Meine schneeweiße Stirn mit Buchstaben von strahlender Herrlichkeit jene glühenden, moschusduftenden, heiligen Worte aufgeschrieben: `Schauet auf, die ihr auf Erden wohnet, und ihr, Bewohner des Himmels, werdet Zeugen: Er ist in Wahrheit euer Vielgeliebter. Er ist es, desgleichen die Welt der Schöpfung nicht gesehen, Er, Dessen berauschende Schönheit das Auge Gottes, des Befehlers, des Allmächtigen, des Unvergleichlichen, entzückt hat!`«

#158

»Ihr Anhänger des Evangeliums«, ruft Bahá'u'lláh, sich an die gesamte Christenheit wendend, »schauet hin, die Tore des Himmels sind weit geöffnet. Er, der zum Himmel aufgefahren war, ist nun gekommen. Hört auf seine Stimme, die laut über Länder und Meere schallt und aller Menschheit den Anbruch dieser Offenbarung kund tut, einer Offenbarung, durch deren Walten die Zunge der Erhabenheit jetzt verkündet: Siehe, das heilige Liebespfand ist eingelöst, denn Er, der Verheißene, ist gekommen.« »Die Stimme des Menschensohnes ruft laut aus dem geheiligten Tal: `Hier bin ich, hier bin ich, o Gott, mein Gott.` ..., indessen aus dem Brennenden Busch der Schrei tönt: `sehet, der Ersehnte der Welt ist in seiner erhabenen Herrlichkeit offenbart!` Der Vater ist gekommen. Was euch verheißen ward im Reiche Gottes, ist erfüllt. Dies ist das Wort, welches der Sohn verhüllte, da Er zu denen, die um Ihn waren, sprach, daß sie es `heute noch nicht tragen` könnten ... Wahrlich, der Geist der Wahrheit ist gekommen, daß Er euch in die ganze Wahrheit leite ... Er ist der Eine, der den Sohn verherrlichte und seine Sache erhöhte ...« »Der Tröster, dessen Kommen alle Schriften verheißen haben, ist nun da, damit Er euch alle Erkenntnis und Weisheit offenbare. Suchet Ihn auf dem ganzen Erdenrund - vielleicht, daß ihr Ihn findet.«

#159

»Rufe aus gen Zion, o Karmel«, schreibt Bahá'u'lláh, »und künde die frohe Botschaft: `Er, der den sterblichen Augen verborgen war, ist nun gekommen! Seine allbesiegende Herrschaft wurde offenbar, sein alles umstrahlender Glanz entschleiert ... Eile hin zu Ihm und umschreite die Stadt Gottes, die vom Himmel herabkam - die himmlische Kaaba, die Gottes Begünstigte in Anbetung umkreisen, die Reinen im Herzen, die Gefährten der erhabensten Engel.`« »Ich bin der Eine«, so bestätigt Er in einem anderen Zusammenhang, »den die Zunge Jesajas pries, der Eine, mit dessen Namen die Thora wie auch das Evangelium geschmückt ward.« »Die Herrlichkeit des Sinai ist herbeigeeilt, den Tagesanbruch dieser Offenbarung zu umkreisen, indessen aus den Höhen des Königreich es die Stimme des Gottessohnes hörbar wird, die da verkündet: `Reget euch, ihr stolzen auf Erden, und eilet zu Ihm.` Der Karmel hat sich an diesem Tage aufgemacht, in sehnsuchtsvoller Anbetung zu seinem Hofe zu kommen, während aus Zions Herz der Schrei hervordringt: `Die Verheißung aller Zeitalter ging in Erfüllung. Was in den heiligen Schriften Gottes, des Geliebten, des Höchsten, angekündigt wurde, ist erschienen!`« »Hijáz ward neu belebt vom Hauche, der die Botschaft freudiger Vereinigung verkündet: `Gepriesen seiest Du`, so hören Wir es rufen: `O mein Herr, Du Höchster. Ich war tot, weil ich von Dir getrennt war. Der Atem, den die Düfte Deiner Gegenwart durchtränkten, gab mich dem Leben wieder. Glücklich ist, wer sich Dir zukehrt, und wehe dem, der irregeht.`« »Bei dem einen wahren Gott! Elias ist an Meinen Hof geeilt und hat zur Tag- und Nachtzeit Meinen Thron der Herrlichkeit umschritten.« »Salomo in seiner ganzen Majestät umwandelt Mich an diesem Tage verehrungsvoll, die höchsterhabenen Worte sprechend: `Ich habe mein Angesicht dem Deinen zugewandt, o Du allmächtiger Herr der Welt! Ich bin von allem, was mein ist, ganz gelöst und sehne mich nach dem, was Du besitzest.`« »Hätte Muhammad, der Gesandte Gottes, diesen Tag erlebt«, schreibt Bahá'u'lláh in einem Tablet, das Er am Vorabend Seiner Verbannung in die Strafkolonie 'Akká offenbarte, »Er würde ausgerufen haben: `Ich habe Dich fürwahr erkannt, o Du, der Du der Ersehnte bist der Gottgesandten!` Hätte Abraham ihn erlebt, er würde ebenfalls in Anbetung sich niedergeworfen und in äußerster Demut vor dem Herrn, Deinem Gott, ausgerufen haben: `Mein Herz ist voll des Friedens, o Du Herr über alles, was da im Himmel und auf Erden ist. Ich bezeuge, daß Du die ganze Herrlichkeit Deiner Macht und alle Erhabenheit Deines Gesetzes vor meinen Augen enthüllt hast.` ... Hätte Moses ihn erlebt, Er wurde gleichfalls Seine Stimme erhoben und gesprochen haben: `Aller Ruhm sei Dir, daß Du mich mit dem Lichte Deines Angesichts übergossen und mich unter die gereiht hast, die gewürdigt wurden, Dich zu schauen!`« »Nord und Süd erbeben bei dem Rufe, der das Kommen Unserer Offenbarung kündet. Wir können die stimme Mekkas sagen hören: `Aller Ruhm sei Dir, o Herr mein Gott, Allherrlicher, daß Du über mich den Odem, den Deine Gegenwart durchhauchte, strömen ließest.` Und auch Jerusalem ruft laut: `Gepriesen und verherrlicht seist Du, o Geliebter der Erde und des Himmels, daß Du die Qual meiner Trennung von Dir in die Freude leben gebender Vereinigung gekehrt hast!`«

#161

»Bei der Gerechtigkeit Gottes«, erklärt Bahá'u'lláh in dem Wunsch, die ganze Stärke Seiner unüberwindlichen Macht zu offenbaren, »sollte ein Mensch im Namen Bahás sich ganz allein erheben und mit seiner Liebe gürten, so wird der Allmächtige ihn siegreich machen, selbst wenn sich die Gewalten des Himmels und der Erde gegen ihn verbündeten.« »Bei Gott, neben dem es keinen anderen Gott gibt! Sollte jemand für den Triumph Unserer Sache aufstehen, so wird ihm Gott zum Sieg verhelfen, auch wenn Zehntausende von Feinden sich gegen ihn zusammenschlössen. Und wenn seine Liebe zu Mir noch weiter wächst, wird Gott seine Erhebung über alle Mächte des Himmels und der Erde bewirken. So ergossen Wir den Geist der Kraft in alle Bereiche.«

»Dies ist der König der Tage«, preist Er das Zeitalter, das Zeuge des Erscheinens Seiner Offenbarung ist, »der Tag, welch er den Heißgeliebten hat komm en sehen, Ihn, nach dem die Sehnsucht der Welt seit aller Ewigkeit gegangen.« »Die Welt des Seins strahlt an diesem Tage wider vom Abglanz dieser göttlichen Offenbarung. Alle erschaffenen Dinge rühmen und lobpreisen seine rettende Gnade. Das Weltall ist erfüllt von einem Rausch der Freude und des Glücks. Die Heiligen Schriften früherer Sendungen feiern das große Jubelfest, das diesen größten Tag Gottes begrüßen muß. Wohl dem, der diesen Tag erlebt und schaut und seine Stufe erkennt.« »Würde die Menschheit auch nur einem einzigen Worte dieses Lobpreises gebührende Beachtung schenken, sie wäre derart von Entzücken erfüllt, daß sie überwältigt wäre und in Staunen sänke. Hingerissen würde sie strahlend über dem Horizonte wirklichen Verstehens leuchten.«

#162

»Seid gerecht, ihr Völker der Erde«, ruft Er der Menschheit zu, »ist es angebracht und ziemt es euch, die Vollmacht Dessen in Frage zu stellen, dessen Gegenwart, Er, der mit Gott redete (Moses) ersehnte, dessen Angesicht in ganzer Schönheit, der Vielgeliebte Gottes (Muhammad) zu schauen verlangte, durch dessen Macht der Liebe der `Geist Gottes` (Jesus) in den Himmel aufstieg und um dessentwillen der `Erste Punkt` (der Báb) sein Leben hingab?« »Nehmet die Gelegenheit wahr«, ermahnt Er Seine Anhänger, »denn schon ein flüchtiger Augenblick dieses Tages wiegt Jahrhunderte vergangener Zeiten auf ... Weder Sonne noch Mond haben einen Tag, der diesem gleicht, gesehen ... Es ist klar, daß jedes Zeitalter, in dem eine Manifestation Gottes gelebt hat, göttlich verordnet ist und in gewissem sinne als Gottes festgesetzter Tag bezeichnet werden kann. Dieser Tag ist jedoch einzigartig und muß von den vorausgegangenen unterschieden werden. Die Bezeichnung `Siegel der Propheten` offenbart und beweist vollkommen seine hohe Stufe.«

Auf die in Seiner Offenbarung verborgenen Kräfte näher eingehend, enthüllt Bahá'u'lláh folgendes: »Indem Wir Unsere Feder der Herrlichkeit bewegten, haben Wir auf Befehl des allmächtigen Gebieters in jede menschliche Hülle neues Leben gehaucht und jedem Worte neue Kraft gegeben. Alle erschaffenen Dinge verkünden die Tatsache dieser weltumfassenden Neubelebung.« »Dies ist«, fügt Er hinzu, »die größte, die freudigste Botschaft, die der Menschheit durch die Feder dieses Unterdrückten zuteil ward.« »Wie groß«, ruft Er an anderer Stelle aus, »ist diese Sache, wie erschütternd die Gewichtigkeit ihrer Botschaft! Dies ist der Tag, von dem gesagt ist: `O mein Sohn! Wahrhaftig, Gott wird alle Dinge ans Licht bringen, und wenn sie auch nur das Gewicht eines Senfkorns hätten, in einem Felsen oder im Himmel oder auf Erden verborgen wären, denn Gott durchdringt alles und weiß alles.`« »Bei der Gerechtigkeit des einen, wahren Gottes! Ginge ein Splitter eines Edelsteines verloren, so daß er unter einem Berg von Steinen begraben und hinter den sieben Meeren verborgen läge, die Hand des Allmächtigen würde ihn dennoch sicherlich an diesem Tage rein und von allem Staub befreit zum Lichte bringen.« »Wer an den Wassern Meiner Offenbarung teil hat, wird alle unvergänglichen Wonnen kosten, von Gott verordnet vom Anfang, der keinen Anfang hat, bis zum Ende, das kein Ende hat.« »Jeder einzelne Buchstabe, der von Unserem Munde ausgeht, ist derart mit wiederbelebender Kraft versehen, daß er imstande ist, eine neue Schöpfung wachzurufen - eine Schöpfung, deren Größe unerforschlich ist für alle außer Gott. Er, fürwahr, hat Kenntnis von allen Dingen.« »Es steht in Unserer Macht, sofern Wir es wollten, aus ein paar Körnchen fliegenden Staubes in weniger als einem Augenblick Sonnen von unendlicher, unausdenklicher Herrlichkeit zu erzeugen, einen Tautropfen zu weiten, zahllosen Meeren schwellen zu lassen und in jeden Buchstaben eine solche Kraft zu gießen, daß er alles Wissen vergangener und kommender Zeitalter enthüllen könnte.« »Wir sind im Besitze einer Macht, die, ans Licht gebracht, das tödlichste Gift in ein Allheilmittel von unfehlbarer Wirkung wandelt.«

#163

Die Stufe des wahren Gläubigen bezeichnend, äußert Er: »Bei den Leiden, welche die Schönheit des Allherrlichen heimsuchen! Derart ist die für den wahrhaft Gläubigen vorgesehene Stufe, daß, würde ihr Glanz der Menschheit auch nur um weniger als die Weite eines Nadelöhrs entschleiert, ein jeder Suchende vor Sehnsucht nach diesem Ziel verginge. Aus diesem Grunde wurde verordnet, daß in diesem Erdenleben das volle Maß des Glanzes der Stufe eines solchen Gläubigen vor dessen eigenen Augen verborgen bleibe ...« »Würde der Schleier gelüftet«, so bestätigt Er ähnlich, »und der volle Glanz der Stufe derer offenbar, die sich Gott gänzlich zugewendet und in ihrer Liebe zu Ihm der Welt entsagt haben, so wäre die gesamte Schöpfung wie vom Donner gerührt.«

#164

Den überragenden Rang Seiner Offenbarung im Vergleich zu der ihr vorausgegangenen hervorhebend, bekräftigt Bahá'u'lláh: »Wären alle Völker der Erde ausgestattet mit den Kräften und Eigenschaften, die für die Buchstaben des Lebendigen, die erwählten Jünger des Báb, bestimmt sind, deren Stufe zehntausendmal herrlicher ist als irgendeine, die die Apostel früherer Zeit erreichten, und würden sie allesamt auch nur für die Dauer eines Augenblicks zögern, das Licht Meiner Offenbarung anzuerkennen, so ist ihr Glaube dennoch nutzlos und sie werden zu den Ungetreuen gerechnet.« »So ungeheuer mächtig ist die Ausgießung der göttlichen Gnade in dieser Sendung, daß, wären sterbliche Hände rasch genug, sie aufzuzeichnen, innerhalb nur eines Tages und einer Nacht Verse in solcher Zahl herniederströmten, wie es dem ganzen Persischen Bayán entspräche.«

»Beachte Meine Warnung, o Volk Persiens!« so äußert Er Seinen Landsleuten gegenüber, »wenn deine Hand Mich fällen sollte, wird Gott gewißlich jemanden erwecken, der den Platz, der durch Meinen Tod frei wird, ausfüllt, denn solcherweise hat Gott seit alters her gehandelt, und keinen Wandel könnt ihr in Gottes Art zu walten finden.« »Sollten sie versuchen, sein Licht auf dem Festland zu verdecken, so wird Er sicherlich sein Haupt inmitten des größten Meeres erheben, die Stimme ertönen lassen und verkünden: `Ich bin es, der der Welt das Leben spendet!` ... Und wenn sie Ihn in eine finstere Grube werfen, so werden sie Ihn auf den höchsten Höhen der Erde sitzend und laut der ganzen Menschheit rufend finden: `Sehet, das Verlangen der Welt ist in seiner Erhabenheit, in seiner Macht, mit seinem ewigen Reich gekommen!` Und läge Er in den tiefsten Erdentiefen begraben, sein Geist erhöbe sich zum Zenit des Himmels und ließe den Ruf erschallen: `Sehet die Herrlichkeit, die da kommt, und werdet Zeugen des Reiches Gottes, des Heiligsten, des Gnadenreichen, des Allmächtigen!`« »Die Kehle dieses Jünglings«, so heißt es in einer anderen erstaunlichen Erklärung, »schließt Laute ein, die, würden sie der Menschheit auch nur um weniger als die Weite eines Nadelöhrs freigegeben, genügten, um alle Berge zu zerschmettern, die Blätter der Bäume zu verfärben und ihre Früchte abzuwerfen, sie würden jede Stirn zwingen, sich andachtsvoll zu neigen, und jedes Antlitz, sich in Anbetung diesem allmächtigen Gebieter zuzuwenden, der in mancherlei Zeit und Art erscheint als verzehrende Flamme, als wogendes Weltmeer, als strahlendes Licht, als der Baum, im Boden der Heiligkeit verwurzelt, der seine Zweige hoch erhebt und seine Äste bis zum Thron unsterblicher Herrlichkeit und noch weiter ausstreckt.«

#165

Den Plan vorwegnehmend, den die unüberwindliche Macht Seines Gesetzes in einer späteren Zeit zu entfalten bestimmt ist, schrieb Er: »Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser größten, dieser neuen Weltordnung. Das geregelte Leben der Menschheit ist aufgewühlt durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems, desgleichen kein sterbliches Auge je gesehen hat.« »Die Hand der Allmacht hat seine Offenbarung auf einen, unverletzlichen, dauerhaften Grund gestellt. Stürme menschlichen Streites vermögen ihre Grundfesten nicht zu schwächen, noch werden die wunderlichen Ideen der Menschen ihrem Aufbau schaden können.«

#166

In der Súratu'l-Haykal, einem der bedeutsamsten Werke Bahá'u'lláhs, sind folgende Verse aufgezeichnet, von denen jeder die unwiderstehliche Macht bezeugt, die der Offenbarung ihres Urhebers innewohnt: »Nichts ist in Meinem Tempel zu sehen als Gottes Tempel, nichts ist in Meiner Schönheit zu erblicken als seine Schönheit, in Meinem Wesen nur das seine und in Meinem Selbst nur Seines und in Meiner Bewegung nur seine Bewegung und in Meiner Ergebung nur seine Ergebung und in Meiner Feder nur seine Feder, die Mächtige, die Allgepriesene. Nichts ist in Meiner Seele als die Wahrheit, und nichts ist in Mir selbst zu sehen außer Gott.« »Der Heilige Geist selbst wurde durch die Wirkung eines einzigen Buchstabens gezeugt, den dieser Größte Geist offenbart hat - gehörtet ihr doch zu denen, die begreifen!«... »In der Schatzkammer Unserer Weisheit liegt eine Erkenntnis verborgen, von der ein einziges Wort, beliebten Wir, es der Menschheit zu enthüllen, jedes menschliche Wesen dazu brächte, Gottes Manifestation zu erkennen und seine Allwissenheit anzunehmen, und jedermann in den Stand versetzte, die Geheimnisse aller Wissenschaften zu entdecken und die Höhe einer Stufe zu erreichen, die ihn vollkommen unabhängig von aller bisherigen und künftigen Gelehrtheit sähe. Mehr Kenntnis noch besitzen Wir, von der Wir nicht einen Buchstaben enthüllen können, noch finden Wir die Menschheit fähig, auch nur die leiseste Andeutung ihres Sinns zu vernehmen. Also haben Wir euch über das Wissen Gottes, des Allwissenden, des Allweisen, unterrichtet.« »Der Tag ist nahe, da Gott durch einen Akt seines Willens ein menschliches Geschlecht erstehen lassen wird, dessen Wesen für keinen außer Gott, dem Allmächtigen, dem Selbstbestehenden, ergründbar ist.« »Bald wird Er aus dem Busen der Kraft die Hände der Überlegenheit und der Macht ausstrecken - Hände, die sich erheben werden, um dieses Jünglings Sieg zu erringen, Hände, welche die Menschheit reinigen werden von der Befleckung derer, die ausgestoßen und gottlos sind. Diese Hände werden ihre Lenden umgürten, daß sie den Glauben Gottes schirmen, und werden in Meinem Namen, der Selbstbestehende, der Mächtige, die Völker und Geschlechter der Erde unterwerfen. Sie werden in die Städte einziehen und die Herzen aller ihrer Bewohner in Furcht versetzen. Derart sind die Zeugnisse von Gottes Macht; wie furchtbar, wie hinreißend doch Seine Macht ist!«

#167

So lautet, inniggeliebte Freunde, Bahá'u'lláhs eigenes schriftliches Zeugnis für die Natur Seiner Offenbarung. Auf die Bestätigungen durch den Báb, von denen jede einzelne das Gewicht dieser außerordentlichen Erklärungen erhöht und ihren Wahrheitsgehalt erhärtet, wurde schon eingangs hingewiesen. Was mir in diesem Zusammenhang noch zu betrachten bleibt, sind Abschnitte aus den Schriften 'Abdu'l-Bahás - des eingesetzten Auslegers dieser nämlichen Erklärungen -, die weiteres Licht auf verschiedene Punkte unseres fesselnden Themas werfen und es erweitern. Der Ton Seiner Sprache ist in der Tat genauso nachdrücklich und Sein Beitrag nicht minder glühend, als es diejenigen Bahá'u'lláhs und des Báb sind.

»Jahrhunderte, nein, ganze Zeitalter müssen vergehen«, so bestätigt Er in einem Seiner frühesten Sendschreiben, »ehe das Tagesgestirn der Wahrheit wieder in seinem Mittagsglanze leuchtet oder zum weiteren Male in prangendem Frühlingsschimmer aufgeht ... Wie dankbar müssen wir sein, daß wir an diesem Tage zu Empfängern einer so überwältigenden Gunst gemacht sind! Besäßen wir doch zehntausend Leben, um sie in Danksagung für ein so seltenes Vorrecht, eine so hohe Gabe, eine so unschätzbare Wohltat hinzugeben!« »Allein schon die Betrachtung der Sendung, die mit der Gesegneten Schönheit anhebt«, sagt Er weiter, »hätte ausgereicht, die Heiligen verflossener Zeitalter zu überwältigen - Heilige, die sich sehnten, einen Augenblick lang an dieser großen Herrlichkeit teilzunehmen.« »Die Heiligen der vergangenen Zeitalter und Jahrhunderte haben, jeder und alle, unter Tränen darnach geschmachtet, daß sie am Tage Gottes, und wäre es nur für die Dauer eines Augenblicks, leben dürften. In ungestillter Sehnsucht gingen sie in das große Jenseits ein. Wie groß ist daher die Gnadenfülle der Schönheit Abhá, die, trotz unserer äußersten Unwürdigkeit, durch Seine Gnade und Barmherzigkeit in diesem göttlich erleuchteten Jahrhundert uns den Geist des Lebens ein gehaucht, uns unter dem Banner des Geliebten der Welt gesammelt und uns eine Gabe zu verleihen beliebt hat, um welche die Machthaber vergangener Zeitalter vergeblich flehten.« »Die Seelen der Begünstigten unter den Heerscharen der Höhe«, so bestätigt Er gleichfalls, »die geheiligten Bewohner des erhabensten Paradieses, sind an diesem Tage von dem brennenden Wunsche erfüllt, in diese Welt zurückzukehren, um, was sie an Dienst zu tun vermögen, an der Schwelle der Schönheit Abhá leisten zu dürfen.«

#168

»Der Glanz der strahlenden Barmherzigkeit Gottes«, erklärt Er in einem auf das Wachstum und die künftige Entwicklung des Glaubens deutenden Abschnitt, »hat die Völker und Geschlechter der Erde umhüllt, und die gesamte Welt ist in seine leuchtende Herrlichkeit gebadet ... Bald wird der Tag erscheinen, da das Licht der göttlichen Einheit Osten und Westen so durchdrungen haben wird, daß fürder kein Mensch mehr wagen kann, es nicht zu beachten.« »Die Hand der göttlichen Macht hat in der Welt des Seins nunmehr den festen Grund für diese höchste Gabe und dieses wundersame Geschenk gelegt. Was immer im Innersten dieses heiligen Zyklus verborgen ruht, wird nach und nach erscheinen und geäußert werden, denn heute ist erst der Anfang seines Wachstums und die Morgenstunde der Offenbarung seiner Zeichen. Noch ehe dieses Jahrhundert und dieser Zeitabschnitt zu Ende gehen, wird klar und offenbar sein, wie wunderbar dieser Frühling und wie himmlisch dieses Geschenk war!«

#169

In Bestätigung der erhabenen Stufe des wahren Gläubigen, auf die sich Bahá'u'lláh bezog, offenbart Er folgendes: »Die Stufe, die der erreichen wird, der diese Offenbarung wahrhaft anerkennt, ist die gleiche, wie sie für diejenigen Propheten aus dem Hause Israel verordnet ist, die nicht als `mit Beständigkeit begabte` Manifestationen angesehen werden.«

Bezüglich der Manifestationen, die auserwählt sind, auf die Offenbarung Bahá'u'lláhs zu folgen, gibt uns 'Abdu'l-Bahá diese bestimmte und gewichtige Erklärung: »Was die Manifestationen anbelangt, die künftig in den Schatten der Wolken herniedersteigen werden, so wisse wahrlich, daß sie, auf ihr Verhältnis zur Quelle ihrer Eingebung bezogen, unter dem Schatten der Urewigen Schönheit stehen. Doch in Beziehung zum jeweiligen Zeitalter, in dem sie erscheinen, wird jeder von ihnen `tun, was immer Er will.`«

»O mein Freund!« so wendet Er sich in einem Seiner Sendschreiben an eine Persönlichkeit von anerkannter Autorität und Stellung, »das unauslöschliche Feuer, das vom Herrn des Königreiches in dem heiligen Baum entzündet wurde, brennt der Welt ungestüm im innersten Herzen. Die daraus erwachsende Feuersbrunst wird die gesamte Erde umfassen, ihre Flamme die Völker und Geschlechter erleuchten. Alle Zeichen sind enthüllt, alle prophetischen Hinweise sind offenbar. Was immer in allen Schriften der Vergangenheit verborgen war, ist nun erschienen. Zu zweifeln oder zu zaudern ist künftighin nicht möglich ... Die Zeit drängt. Das Schlachtroß Gottes ist voll Ungeduld und kann nicht säumen. Unser ist die Pflicht, vorwärts zu stürmen und, ehe es zu spät sein mag, den Sieg zu erringen.« Und zum Schlusse noch jene ergreifendsten Worte, die es Ihn in einem Seiner Augenblicke des jauchzens während der frühesten Tage Seiner Berufung an einen Seiner vertrautesten und hervorragendsten Anhänger zu richten trieb: »Was soll ich sonst noch weiter sagen? Was kann meine Feder noch berichten? So laut ist der Ruf, der vom Reich Abhá widerhallt, daß sterbliche Ohren unter seinen Schwingungen fast taub werden. Die ganze Schöpfung, dünkt mich, ist im Begriffe, durch den erschütternden Einfluß der göttlichen Forderungen, die vom Throne der Herrlichkeit hervorgehen, gesprengt zu werden und zu bersten. Mehr denn dies kann ich nicht schreiben.«

#170

Inniggebliebte Freunde! Genügend ist gesagt, und die herangezogenen Abschnitte aus den Schriften des Báb, Bahá'u'lláhs und 'Abdu'l-Bahás sind zahlreich und mannigfach genug, um den gewissenhaften Leser von der Erhabenheit dieses in der religiösen Weltgeschichte einzigartigen Zyklus zu überzeugen. Es wäre ganz unmöglich, seine Bedeutung zu übertreiben oder den Einfluß zu überschätzen, den er hervorgerufen hat und in wachsendem Maße weiter hervorrufen muß, sobald sich sein großer Plan inmitten der Umwälzungen einer zusammenbrechenden Zivilisation entfaltet.

Für jeden, der diese Zeilen lesen mag, scheint mir indessen doch ein Wort der Warnung ratsam, bevor ich fortfahre, meine Beweise zu entwickeln. Es möge niemand, der im Lichte der vorerwähnten Abschnitte über das Wesen der Offenbarung Bahá'u'lláhs nachdenkt, deren Charakter mißverstehen oder die Absicht ihres Urhebers mißdeuten. Die Göttlichkeit, die einem so großen Wesen beigegeben wurde, und die vollkommene Verkörperung der Namen und Eigenschaften Gottes in einer so erhabenen Persönlichkeit sollten unter keinen Umständen falsch verstanden oder dargestellt werden. Der zum Träger einer so überwältigenden Offenbarung erkorene menschliche Tempel muß, wenn wir den Lehren unseres Glaubens treu sind, stets voll gesondert bleiben von dem »innersten Geist des Geistes« und der »ewigen Wesenheit der Wesenheiten« - jenem unsichtbaren und doch der Vernunft entsprechenden Gott, dessen unerkennbare, unzerstörbare und allumfassende Wirklichkeit, wie sehr wir auch immer die Göttlichkeit Seiner Manifestationen auf Erden preisen, sich doch keineswegs in Gestalt eines sterblichen Geschöpfes, verdichtet und umgrenzt, verkörpern kann. Der Gott fürwahr, der so Seine eigene Wirklichkeit verkörpern wollte, würde, im Lichte der Lehren Bahá'u'lláhs gesehen, im gleichen Augenblick nicht mehr Gott sein. Ein derart unverdauter, phantastischer Glaube an eine göttliche Verkörperung ist vom Wesen des Bahá'í-Glaubens so entfernt und mit ihm ebenso unvereinbar wie die nicht weniger unzulässigen pantheistischen und anthropomorphen Vorstellungen von Gott, die Bahá'u'lláhs Worte nachdrücklich zurückweisen und deren Trugschluß sie uns zeigen.

#171

Er, der in unzähligen Darlegungen für Seine Äußerungen beansprucht, die »Stimme des Göttlichen, der Ruf Gottes« zu sein, bestätigt im Kitáb-i-Íqán feierlich: »Jedwedem einsichtsvollen und erleuchteten Herzen ist es klar, daß Gott, die unerforschliche Wesenheit, das göttliche Sein, unermeßlich erhaben ist über jedes menschliche Kennzeichen wie körperliches Dasein, Aufstieg und Abstieg, Fortschritt und Rückschritt ... Er ist und war von jeher in der altehrwürdigen Ewigkeit Seines Wesens verhüllt und wird in Seiner Wirklichkeit dem Schauen des Menschen ewiglich verborgen bleiben ... Er ist erhaben und jenseits aller Trennung und Einigung, aller Nähe und Ferne ... `Gott war allein, niemand war da neben Ihm`, ist ein sicheres Zeugnis dieser Wahrheit.«

#172

»Seit undenklichen Zeiten«, so erklärt Bahá'u'lláh, indem Er über Gott spricht, »war Er, das Göttliche Sein, in der unnennbaren Heiligkeit Seines erhabenen Selbstes verborgen, und Er wird ewig weiter im unergründlichen Geheimnis Seiner unerkennbaren Wesenheit verhüllt sein ... Zehntausend Propheten, jeder ein Moses, sind auf dem Sinai ihres Suchens wie vom Donner gerührt, da Gottes verbietende Stimme ihr `du sollst Mich niemals schauen!' spricht, indessen eine Myriade Sendboten, jeder so groß wie Jesus, bei dem Verbot: `Du sollst Mein Wesen nie erkennen!` bestürzt auf ihren himmlischen Thronen erbeben.« »Wie verwirrend ist für mich in meiner Bedeutungslosigkeit«, beteuert Bahá'u'lláh, da Er mit Gott spricht,»der Versuch, die heiligen Tiefen Deines Wissens zu ergründen! Wie nichtig ist mein Mühen, mir eine Vorstellung von der Größe der Macht, die in Deinen Werken ruht, zu machen, von der Offenbarung Deiner schöpferischen Kraft!« »Wenn ich, o Gott, der Verwandtschaft nachsinne, die mich mit Dir verbindet«, bezeugt Er in einem weiteren, in eigener Handschrift offenbarten Gebete, »so fühle ich mich bewogen, allen erschaffenen Dingen zu verkünden: `Wahrlich, Ich bin Gott!`; und wenn ich mein eigenes Selbst betrachte, siehe, so finde ich, daß es geringer als der Staub ist!«

»Das Tor zur Erkenntnis des Altehrwürdigen der Tage«, stellt Bahá'u'lláh im Kitáb-i-Íqán fest, »ist so vor dem Antlitz aller Wesen verschlossen. Darum hat Er, der Quell unendlicher Gnade ... jene leuchtenden Edelsteine der Heiligkeit aus dem Reiche des Geistes in der edlen Gestalt des menschlichen Tempels erscheinen und allen Menschen offenbar werden lassen, auf daß sie der Welt einen Anteil an den Mysterien des unveränderlichen Seins schenken und ihr von Seinem köstlichen, unsterblichen Wesen künden ... Alle Propheten Gottes, Seine wohlbegnadeten, Seine heiligen und erwählten Gesandten, sind ohne Ausnahme die Träger Seiner Namen und die Verkörperungen Seiner Eigenschaften ... Diese Tabernakel der Heiligkeit, diese ersten Spiegel, die das Licht unvergänglicher Herrlichkeit widerstrahlen, sind nur Ausdruck von Ihm, dem Unsichtbaren der Unsichtbaren.«

#173

Daß Bahá'u'lláh Seinem Wesen nach, trotz der überwältigenden Wucht Seiner Offenbarung, als eine dieser Manifestationen Gottes anzusehen ist und niemals gleichgesetzt werden kann mit jener unsichtbaren Wirklichkeit, dem Wesen des Göttlichen an sich, ist eines der wichtigsten Bekenntnisse unseres Glaubens, das nie verdunkelt werden und dessen Unverletzlichkeit anzutasten keiner seiner Anhänger gestatten darf.

Ebenso darf die Bahá'í-Offenbarung, die den Anspruch erhebt, der Höhepunkt eines prophetischen Zyklus und die Erfüllung der Verheißung aller Zeiten zu sein, unter keinen Umständen versuchen, jene die vorangegangenen Religionen beseelenden und ihnen zugrundeliegenden ersten und immerwährenden Grundsätze für ungültig zu erklären. Die jeder Religion verliehene, gottgegebene Autorität bestätigt und erklärt sie als ihre festeste, eigentliche Grundlage. Die Bahá'í-Offenbarung betrachtet sie in keinem anderen Lichte denn als verschiedene Stufen in der ewigen Geschichte und andauernden Entwicklung einer göttlichen, unteilbaren Religion, von der sie selber nur ein abzulösender Teil ist. Sie versucht auch nicht, deren göttlichen Ursprung zu verdunkeln noch die anerkannte Größe ihrer gewaltigen Werke zu verkleinern. Sie wird keinen Versuch unterstützen, der darauf abzielt, deren Wesenszüge zu entstellen oder die von ihnen nahegebrachten Wahrheiten zu widerlegen. Ihre Lehren weichen nicht um Haaresbreite von den Wahrheiten ab, die jene enthalten, noch nimmt das Gewicht ihrer Sendung auch nur ein Jota oder Pünktchen von dem durch jene ausgeübten Einfluß oder von der durch sie eingeflößten Treue. Weit entfernt davon, den Umsturz des geistigen Unterbaues der religiösen Systeme in der Welt zu erstreben, ist es ihre erklärte, unerschütterliche Absicht, deren Grundlagen zu erweitern, ihre Grundmauern neu aufzurichten, ihre Ziele miteinander in Übereinstimmung zu bringen, ihr Leben neu zu stärken, ihre Einheit zu beweisen, die ursprüngliche Reinheit ihrer Lehren wiederherzustellen, ihre Aufgaben einander zuzuordnen und zur Verwirklichung ihrer höchsten Bestrebungen beizutragen. Diese göttlich offenbarten Religionen sind, wie ein sorgfältiger Betrichter anschaulich gesagt hat, »nicht dazu bestimmt zu sterben, sondern wiedergeboren zu werden ... `Stirbt nicht das Kind im Jüngling und der Jüngling im Mann, und doch geht weder Kind noch Jüngling unter?`«

#174

»Sie, die Leuchten der Wahrheit und die Spiegel des Lichtes göttlicher Einheit«, so erklärt Bahá'u'lláh im Kitáb-i-Íqán, »sind, in welchem Zeitalter und Zyklus sie auch aus den unsichtbaren Wohnstätten altehrwürdiger Herrlichkeit in diese Welt herabgesandt waren, um die Menschenseelen zu erziehen und allen erschaffenen Dingen Gnade zu schenken, unwandelbar mit allbezwingender Macht begabt und mit unbesiegbarer Herrschaft bekleidet . . Diese geheiligten .Spiegel, diese Aufgangsorte altehrwürdiger Herrlichkeit sind allesamt auf Erden die Vertreter Dessen, der innerster Kern, reinstes Wesen und letztes Ziel des Weltalls ist. Von Ihm gehen ihre Erkenntnis und Macht aus, von Ihm leitet sich ihre Herrschaft ab. Die Schönheit ihres Antlitzes ist nur eine Widerspiegelung Seines Bildes und ihre Offenbarung ein Zeichen Seiner unsterblichen Herrlichkeit ... Durch sie wird eine Gnade vermittelt, die unendlich ist, und durch sie wird das Licht enthüllt, das nimmermehr verlöschen kann ... Die menschliche Zunge kann niemals angemessen ihren Lobpreis singen, und die menschliche Rede kann niemals ihr Mysterium enthüllen.« »Da diese Vögel des unvergänglichen Thrones«, so ergänzt Er, »alle aus dem Himmel des Willens Gottes herabgesandt sind und da sie sich alle erheben, Seinen unwiderstehlichen Glauben zu verkünden, sind sie wie eine Seele und wie ein Wesen anzusehen ... Sie alle wohnen im gleichen Heiligtum, schwingen sich zum gleichen Himmel auf sitzen auf dem gleichen Throne, reden die gleiche Sprache und verkünden den gleichen Glauben ... Sie unterscheiden sich nur in der Stärke ihrer Offenbarung und der vergleichsweisen Wirkungskraft ihres Lichtes ... Daß eine gewisse Eigenschaft Gottes durch diese Wesen der Loslösung nach außen hin nicht offenbart worden ist, besagt in keiner Weise, daß sie, die Tagesanbrüche der göttlichen Eigenschaften und Schatzkammern Seiner heiligen Namen, diese nicht tatsächlich besessen hätten.«

#175

Wir sollten weiterhin bedenken, daß, wie groß auch immer die durch diese Offenbarung kundgetane Macht und wie ausgedehnt auch immer die Reichweite der Sendung sein mag, die ihr Urheber eröffnet hat, sie dennoch nachdrücklich den Anspruch, als endgültige Offenbarung des Willens Gottes und Seiner Absicht für die Menschheit angesehen zu werden, ablehnt. Eine solche Vorstellung von ihrem Wesen und ihrer Wirksamkeit zu hegen, würde einem Verrat an ihrer Sache und einer Verleugnung ihrer Wahrheit gleichkommen. Sie müßte notwendigerweise im Widerspruch mit der fundamentalen Lehre sein, die die Grundlage des Bahá'í-Glaubens bildet, der Lehre, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, daß die göttliche Offenbarung wohlgeordnet, dauernd und fortschreitend und nicht starr oder endlich ist. Die entschiedene Zurückweisung des Anspruchs auf Endgültigkeit, den irgendeines der durch die Propheten der Vergangenheit ins Leben gerufenen religiösen Systeme erheben mag, ist bei den Anhängern des Glaubens Bahá'u'lláhs genauso klar und nachdrücklich wie ihre eigene Weigerung, die gleiche Endgültigkeit für die Offenbarung zu beanspruchen, unter deren Banner sie sich scharen. »Zu glauben, alle Offenbarung sei abgeschlossen, die Tore göttlicher Gnade seien zu gesperrt, von den Aufgangsorten ewiger Heiligkeit erhebe sich keine Sonne mehr, das Weltmeer ewigwährender Freigebigkeit liege für immer still und die Boten Gottes haben aufgehört, sich aus dem Zelt urewiger Herrlichkeit heraus zu offenbaren«, das muß in den Augen eines jeden Anhängers des Glaubens ein schweres, unverantwortliches Abgehen von einem seiner höchstgeschätzten, grundlegenden Prinzipien darstellen.

#176

Ein Hinweis auf einige der bereits angeführten Äußerungen Bahá'u'lláhs und 'Abdu'l-Bahás wird sicherlich genügen, die Wahrheit dieser grundlegenden Lehre über alle Zweifel zu erheben. Könnte nicht auch der folgende Abschnitt aus den »Verborgenen Worten« als sinnbildliche Anspielung auf das Fortschreiten der göttlichen Offenbarung und als Bestätigung seitens ihres Urhebers gedeutet werden, daß die Botschaft, mit der Er betraut wurde, nicht der abschließende und endgültige Ausdruck des Willens und der Führung des Allmächtigen ist? »O Sohn der Gerechtigkeit! Zur Nachtzeit begab sich die Schönheit des Unsterblichen von der smaragdenen Höhe der Treue zum Sadratu'l- Muntahá und weinte so bitterlich, daß die himmlischen Heerscharen und die Bewohner der Reiche droben in das Klagen einstimmten. Nach dem Grund des Klagens und Weinens befragt, gab Er zur Antwort: Wie geheißen, weilte Ich erwartungsvoll auf dem Hügel der Treue, ohne von denen, die auf Erden wohnen, den Wohlgeruch der Treue zu atmen. Danach zur Rückkehr aufgefordert, schaute Ich um Mich und siehe - gewisse Tauben der Heiligkeit mußten schmerzlich in den Fängen irdischer Raubtiere leiden. Daraufhin eilte die Himmelsdienerin entschleiert und strahlend aus ihrer mystischen Wohnstatt hervor und fragte nach ihren Namen, und alle wurden genannt bis auf einen. Als auf dringendes Bitten der erste Buchstabe erklang, strömten die Bewohner der himmlischen Gemächer aus ihrer Wohnstatt der Herrlichkeit herbei. Und da der zweite Buchstabe ausgesprochen wurde, fielen sie allesamt nieder in den Staub. In diesem Augenblick erscholl ein Ruf aus dem innersten Heiligtum: `Bis hierher und nicht weiter!` Wahrlich, Wir bezeugen, was sie getan haben und noch tun.«

#177

In deutlicherer Sprache legt Bahá'u'lláh mit einem Seiner in Adrianopel offenbarten Sendschreiben Zeugnis ab für diese Wahrheit: »Wisse wahrlich, daß der Schleier, der Unser Angesicht verbirgt, nicht vollkommen gelüftet wurde. Wir haben Unser Selbst in einem Grad enthüllt, wie es der Aufnahmefähigkeit der Menschheit Unseres Zeitalters gemäß ist. Würde die Urewige Schönheit in der Fülle Ihrer Herrlichkeit entschleiert, so würden sterbliche Augen durch den grellen Glanz Ihrer Offenbarung geblendet.«

In der Súriy-i-Sabr, die bereits im Jahre 1863, genau am Tage Seiner Ankunft im Garten Ridván offenbart wurde, bestätigt Er: »Gott hat Seine Boten herniedergesandt, damit sie auf Moses und Jesus folgten, und Er wird fortfahren, so zu tun bis an das `Ende, das kein Ende hat`, auf daß Seine Gnade aus dem Himmel göttlicher Freigebigkeit fortwährend auf die Menschheit komme.«

#178

»Ich hege keine Befürchtungen um Meinetwillen«, betont Bahá'u'lláh noch stärker, »Ich fürchte nur für Ihn, der nach Mir zu euch herabgesandt wird - für Ihn, der mit viel Hoheit und gewaltiger Herrschaft ausgestattet sein wird.« Und wieder schreibt Er in der Súratu'l-Haykal: »Jene Worte, die Ich offenbart habe, beziehen sich nicht auf Mich, sondern auf Ihn, der nach Mir kommt. Gott, der Allwissende, ist mein Zeuge!« »Verfahret nicht mit Ihm «, fügt Er hinzu, »wie ihr mit Mir verfahren.«

In einem eingehenderen Abschnitt Seiner Schriften unterstreicht der Báb die gleiche Wahrheit: »Es ist klar und augenscheinlich«, schreibt Er im Persischen Bayán, »daß der Zweck aller früheren Sendungen der war, den Weg für das Kommen Muhammads, des Apostels Gottes, zu bereiten. Sie, einschließlich der muhammadanischen Sendung, hatten ihrerseits als Ziel die durch den Qá'im verkündete Offenbarung. Die Absicht, die dieser Offenbarung sowie allen ihr vorausgegangenen zu Grunde lag, war gleichfalls, den Anbruch des Glaubens Dessen zu verkünden, Den Gott offenbaren wird. Und dieser Glaube - der Glaube Dessen, den Gott offenbaren wird - hat seinerseits, zusammen mit allen ihm vorangegangenen Offenbarungen, die Manifestation zum Ziel, die bestimmt ist, ihm zu folgen. Und die letztere bereitet, nicht minder als alle ihr vorangegangenen Offenbarungen, den Weg für die Offenbarung, die darnach folgt. Der Prozeß des Auf- und Untergehens der Sonne der Wahrheit wird unbegrenzt so weitergehen, - ein Prozeß, für den kein Anfang war und kein Ende sein wird.«

»Wisse mit Sicherheit«, so erklärt in diesem Zusammenhang Bahá'u'lláh, »daß in jeder Sendung das Licht göttlicher Offenbarung den Menschen in unmittelbarem Verhältnis zu ihrer geistigen Fassungskraft dargereicht wird. Betrachte die Sonne! Wie schwach sind ihre Strahlen in dem Augenblick, da sie am Horizont aufgeht. Wie nehmen ihre Wärme und Kraft allmählich zu, während sie sich dem Zenit nähert und unterdessen alles Erschaffene befähigt, sich der zunehmenden Stärke ihres Lichtes anzupassen. Wie gleichmäßig nimmt sie wieder ab, bis sie den Punkt ihres Untergangs erreicht. Würde sie plötzlich alle in ihr verborgenen Kräfte offenbaren, so würde dies zweifellos allem Erschaffenen Schaden zufügen ... Wenn nun die Sonne der Wahrheit in den frühesten Graden ihrer Offenbarung plötzlich das volle Maß der Kräfte, die ihr die Vorsehung des Allmächtigen verliehen hat, enthüllte, würde die Erde menschlichen Begreifens verdorren und vergehen, denn die Menschenherzen würden weder die Stärke ihrer Offenbarung ertragen noch fähig sein, den Glanz ihres Lichtes widerzuspiegeln. Bestürzt und überwältigt würden sie zu bestehen aufhören.«

#179

Im Lichte dieser klaren, überzeugenden Darlegungen erwächst uns die eindeutige Pflicht, jedem Wahrheitssucher unzweifelhaft klarzumachen, daß »vom Anfang an, der keinen Anfang hat«, alle Propheten des einen, unerforschlichen Gottes, Bahá'u'lláh eingeschlossen, als Kanäle der Gnade Gottes, Erklärer Seiner Einheit, Spiegel Seines Lichtes und Offenbarer Seiner Absichten beauftragt sind, der Menschheit ein immer größeres Maß Seiner Wirklichkeit, Seines unerforschlichen Willens und Seiner göttlichen Führung zu enthüllen, und daß sie bis zum »Ende, das kein Ende hat«, auch fernerhin noch umfassendere und mächtigere Offenbarungen Seiner grenzenlosen Macht und Herrlichkeit gewähren werden.

#180

Wir mögen wohl die folgenden Abschnitte aus einem durch Bahá'u'lláh offenbarten Gebete im Herzen bewegen, die einen eindrucksvollen Beweis und eine weitere Bestätigung für die Echtheit jener großen, wesentlichen Wahrheit darstellen, die im Innersten Seiner Botschaft an die Menschheit liegt: »O Herr, mein Gott! Preis sei Dir für die wunderbaren Offenbarungen Deines unerforschlichen Ratschlusses, für die mannigfachen Leiden und Heimsuchungen, die Du für mich bestimmt hast. Einmal hast Du mich den Händen Nimrods überantwortet, ein andermal hast Du gestattet, daß mich Pharaos Zuchtrute peinigte. Du allein kannst durch Deine allumfassende Erkenntnis und das Wirken Deines Willens die unsagbaren Schmerzen ermessen, die ich unter ihren Händen erduldete. Und wieder warfst Du mich in die Gefängniszelle der Gottlosen aus dem einzigen Grund, weil ich mich getrieben fühlte, den bevorzugten Bewohnern Deines Reiches eine Andeutung von jenem Gesicht ins Ohr zu flüstern, das Du mich durch Deine Erkenntnis schauen ließest und dessen Bedeutung Du mir durch die Kraft Deiner Macht offenbart hast. Und wieder bestimmtest Du, daß ich durch das Schwert der Ungen enthauptet wurde. Dann wieder ward ich gekreuzigt, weil ich den Augen der Menschen die verborgenen Edelsteine Deiner herrlichen Einheit enthüllte und ihnen die wunderbaren Zeichen Deiner unumschränkten und ewigen Macht offenbarte. Wie bitter häuften sich in einem späteren Zeitalter auf der Ebene von Karbilá die Demütigungen auf mich! Wie einsam fühlte ich mich inmitten Deines Volkes! Zu welch einem Zustand der Hilflosigkeit wurde ich in jenem Land herabgewürdigt! Von solchen Schändlichkeiten noch nicht befriedigt, schlugen meine Verfolger mir das Haupt ab und trugen es hoch von Land zu Land, stellten es den gaffenden Blicken der ungläubigen Menge zur Schau und legten es auf den Sitzen der Verderbten und Ungetreuen nieder. In einem späteren Zeitalter wurde ich erhängt; meine Brust wurde zur Zielscheibe für die Pfeile der heimtückischen Grausamkeit meiner Feinde gemacht. Meine Glieder wurden von Kugeln durchlöchert und mein Körper ward auseinandergerissen. Sieh endlich, wie sich an diesem Tage meine verräterischen Feinde gegen mich verbündet haben und unentwegt daraufsinnen, das Gift des Hasses und der Bosheit in die Seelen Deiner Diener zu träufeln. Mit aller Macht schmieden sie Ränke, um ihre Absicht auszuführen ... So bitter auch meine Lage sein mag, o Gott, mein Vielgeliebter, ich zolle Dir Dank, und mein Geist ist für alles dankbar, was mir auf dem Pfade Deines Wohlgefallens begegnet. Ich bin zufrieden mit dem, was Du für mich verordnet hast, und begrüße die Schmerzen und Leiden, die ich erfahren muß - wie betrübend sie auch seien.«





#181
Der Báb

+6:2

Innig geliebte Freunde! Daß der Báb, der Begründer der Bábí-Sendung, voll berechtigt ist, die Stufe einer der sich selbst genügenden Manifestationen Gottes einzunehmen, daß Ihm höchste Macht und Autorität verliehen worden ist und Er alle Rechte und Vorrechte des unabhängigen Propheten ausübt, ist eine weitere grundlegende Wahrheit, die die Botschaft Bahá'u'lláhs eindringlich verkündet, und an der ihre Anhänger unnachgiebig festhalten müssen. Daß Er nicht lediglich als inspirierter Vorläufer der Bahá'í-Offenbarung anzusehen ist, daß in Seiner Person, wie Er selbst im Persischen Bayán bezeugt, die Absicht aller Ihm vorangegangenen Propheten erfüllt wurde, ist eine Wahrheit, die zu beweisen und zu betonen ich mich verpflichtet fühle. Wir würden sicherlich unsere Pflicht gegenüber dem von uns bekannten Glauben versäumen und einen seiner grundlegenden und heiligen Lehrsätze verletzen, wollten wir in unseren Worten oder Taten zögern, die Folgerungen aus diesem Grundsatz des Bahá'í-Glaubens zu erkennen, oder ablehnen, rückhaltlos dessen Unantastbarkeit zu wahren und seine Wahrheit zu bekunden. Tatsächlich ist der Hauptbeweggrund, der mich trieb, die Arbeit der Herausgabe und Übersetzung von Nabils unsterblichem Bericht auf mich zu nehmen, der gewesen, jedem Anhänger des Glaubens im Westen zu ermöglichen, die gewaltigen Folgerungen aus Seiner erhabenen Stufe besser zu verstehen, leichter zu erfassen und Ihn darum noch heißer zu bewundern und zu lieben.

#182

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Anspruch auf die vom Allmächtigen für den Báb bestimmte doppelte Stufe - ein Anspruch, für den Er selber so mutig eingetreten ist, den Bahá'u'lláh wiederholt bekräftigt und zuletzt das Zeugnis von 'Abdu'l-Bahás Willen und Testament bestätigt hat - das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Bahá'í-Sendung darstellt. Er ist ein weiteres Zeichen ihrer Einzigartigkeit, eine gewaltige Erhöhung der Kraft, der geheimnisvollen Macht und Autorität, mit der dieser heilige Zyklus ausgestattet wurde. Tatsächlich besteht die Größe des Báb nicht zuerst darin, daß Er der gottberufene Vorläufer einer so erhabenen Offenbarung ist, sondern vielmehr darin, daß Er mit Kräften ausgerüstet war, wie sie dem Begründer einer eigenen religiösen Sendung innewohnen, und daß Er bis zu einem von keinem der vorangegangenen Sendboten erreichten Grade das Zepter unabhängiger Prophetenschaft geführt hat.

#183

Die kurze Dauer Seiner Sendung, der enge Rahmen, in dem zu wirken Seinen Gesetzen und Verordnungen bestimmt war, bieten keinen Maßstab irgendwelcher Art, um ihren göttlichen Ursprung abzuschätzen und die Stärke ihrer Botschaft zu bewerten. »Daß eine so kurze Zeitspanne«, so erklärt Bahá'u'lláh selber, »diese machtvolle, wunderbare Offenbarung von Meiner Mir vorausgegangenen Manifestation getrennt hat, ist ein Geheimnis, das kein Mensch enträtseln, und ein Mysterium, das kein Geist ergründen kann. Ihre Zeitdauer war vorherbestimmt, und kein Mensch wird je den Grund dafür entdecken, es sei denn, daß er über den Inhalt Meines Verborgenen Buches unterrichtet werde.« »Sehet hin«, erklärt Bahá'u'lláh des weiteren im Kitáb-i-Badí, einem Seiner Werke, das die Schlußfolgerungen des Volkes des Bayán zurückweist, »sehet hin, wie unmittelbar nach Ablauf des neunten Jahres dieser wunderbaren, heiligsten und gnadenreichen Sendung die erforderliche Zahl der reinen, sich völlig hin gebenden und geheiligten Seelen ganz im Verborgenen vollendet wurde.«

Die wundersamen Begebenheiten, die das Kommen des Begründers der Bábi-Sendung ankündigten, die dramatischen Umstände Seines eigenen ereignisreichen Lebens, die übernatürliche Tragödie Seines Märtyrertums, der Zauber des Einflusses, den Er auf die hervorragendsten und mächtigsten Seiner Landsleute übte - alles in jedem Kapitel der ergreifenden Aufzeichnungen Nabils bezeugt dies -, sollte als ausreichender Beweis für die Gültigkeit Seines Anspruchs auf eine so erhabene Stufe unter den Propheten gelten.

Wie anschaulich aber auch immer der Bericht sein mag, den der hervorragende Verfasser der Geschichte Seines Lebens der Nachwelt überliefert hat, muß doch selbst eine so klare Schilderung matt erscheinen gegen die glühende Anerkennung, welche die Feder Bahá'u'lláhs dem Báb gezollt hat. Diese Anerkennung wurde vollauf vom Báb selber durch die klare Verfechtung Seines Anspruchs unterstützt, und die schriftlichen Bezeugungen 'Abdu'l-Bahás haben deren Eigenart nachdrücklich bekräftigt und ihre Bedeutung klargelegt.

#184

Wo sonst als im Kitáb-i-Iqán könnten wir bei Beschäftigung mit der Bábi-Sendung nach jenen Bestätigungen forschen, die unverkennbar die Macht und den Geist bezeugen, welche kein Mensch zu offenbaren vermag, er sei denn selbst eine Manifestation Gottes? »Könnte so etwas zutage treten ohne die Kraft einer göttlichen Offenbarung und ohne das Walten von Gottes unbesiegbarem Willen? Bei der Gerechtigkeit Gottes! Würde jemand eine so große Offenbarung in seinem Herzen hegen, so würde allein der Gedanke daran ihn alsbald vernichten! Würden sich die Herzen aller Menschen in seinem Herzen vereinen, so würde er dennoch zögern, ein so erhabenes Unterfangen zu wagen.« »Kein Auge«, bestätigt Er an anderer Stelle, »hat jemals eine so große Ausgießung von Mildtätigkeit geschaut und nie ein Ohr eine solche Offenbarung der Güte vernommen ... Die Propheten, die `mit Beständigkeit begabt` sind, deren Erhabenheit und Herrlichkeit klar wie die Sonne leuchten, wurden alle mit einem Buch ausgezeichnet, das alle gesehen haben und dessen Verse regelrecht festgesetzt sind. Die Verse aber, die aus dieser Wolke göttlicher Gnade geströmt sind, waren so überreichlich, daß noch niemand imstande war, ihre Zahl zu schätzen ... Wie könnte man diese Offenbarung schmälern? Ist je ein Zeitalter Zeuge derart bedeutsamer Ereignisse gewesen?«

Über den Charakter und den Einfluß jener Helden und Märtyrer, die der Geist des Báb so magisch verwandelt hat, offenbart Bahá'u'lláh die folgenden Worte: »Wenn diese Gefährten nicht die wahren Sucher nach Gott waren, wer sonst könnte mit diesem Namen benannt werden? ... Wenn diese Gefährten in all ihrer wundervollen Zeugenschaft, mit all ihren wunderbaren Werken falsch wären, wer wäre es dann wohl wert, die Wahrheit für sich zu beanspruchen? Hat die Welt seit Adams Tagen je solchen Aufruhr, solch heftige Erregung gesehen? ... Mich dünkt, Geduld ward nur durch ihre Seelenstärke offenbart und Glaubenstreue nur durch ihre Taten bezeugt.«

#185

In dem Wunsche, die Erhabenheit der hohen Stufe des Báb im Vergleich zu jener der früheren Propheten zu betonen, erklärt Bahá'u'lláh in dieser selben Epistel: »Kein Verstand kann die Natur Seiner Offenbarung begreifen, noch kann irgendeine Erkenntnis das volle Maß Seines Glaubens fassen.« Dann führt Er zur Bekräftigung Seiner These diese prophetischen Worte an: »`Wissen ist siebenundzwanzig Buchstaben. Alle Propheten haben zwei Buchstaben davon offenbart. Kein Mensch hat bis heute mehr als diese zwei Buchstaben gekannt. Wenn aber der Qá'im sich erheben wird, dann wird Er die übrigen fünfundzwanzig Buchstaben offenbar machen.` Bedenke«, fügt Er hinzu, »wie groß und erhaben Seine Stufe ist. Sein Rang übertrifft den aller Propheten, und Seine Offenbarung geht über das Erkennen und Begreifen aller ihrer Auserwählten. Von Seiner Offenbarung«, so ergänzt Er weiter, »sind die Propheten Gottes, Seine Heiligen und Auserwählten entweder nicht unterrichtet worden, oder sie haben dies nach Gottes unerforschlichem Ratschluß nicht enthüllt.«

Von allen Huldigungen, die Bahá'u'lláhs unfehlbare Feder dem Báb, Seinem »Meistgeliebten«, zum Gedächtnis entgegenzubringen beliebte, ist die denkwürdigste und erschütterndste dieser kurze, doch beredte Abschnitt, der die letzten Absätze jener selben Epistel so außerordentlich bereichert: »Mitten in all dem«, schreibt Er mit Bezug auf die schmerzlichen Prüfungen und Gefahren, die ihn in der Stadt Bahgád bedrängten, »stehen Wir, dem Leben entsagend und Seinem Willen völlig ergeben. Möge durch Gottes Güte dieser offenbarte und kundgemachte Buchstabe (Bahá'u'lláh) Sein Leben als Opfer auf dem Pfade des Ersten Punktes, des erhabensten Wortes (des Báb), darbringen. Bei Ihm, auf dessen Geheiß der Geist gesprochen hat - wäre es nicht aus dieser Sehnsucht Unserer Seele, wir hätten keinen Augenblick länger in dieser Stadt verweilt.«

#186

Geliebte Freunde! Ein so weithallendes Lob, eine so unanfechtbare Bekräftigung aus der Feder Bahá'u'lláhs in einem so gewichtigen Werke findet ein volles Echo in der Sprache, die der Urquell der Bábí-Offenbarung zum Ausdruck der von Ihm erhobenen Ansprüche gewählt hat. »Ich bin der mystische Tempel«, so gibt der Báb Seine Stufe im Qayyúmu'l Asmá' bekannt», den die Hand der Allmacht baute. Ich bin die Lampe, die Gottes Finger in ihrer Nische entzündet hat und mit unsterblichem Glanze leuchten ließ. Ich bin die Flamme jenes himmlischen Lichtes, das über dem Sinai an der Stätte der Freude aufgeleuchtet und im Brennenden Busch verborgen war.« »O Qurratu'l-'Ayn!«, so ruft Er in jener gleichen Auslegung sich selbst zu, »Ich erkenne in Dir keinen anderen als `die Große Verkündigung` - die Verkündigung, welche die himmlischen Heerscharen verkünden. Ich bezeuge, daß Dich an diesem Namen jene, die den Thron des erhabenen Glanzes umkreisen, seit je erkannten.« »Mit jedem der Propheten, die Wir in vergangenen Zeiten herniedersandten«, sagt Er weiter, »haben Wir einen besonderen Bund geschlossen bezüglich der `Erwähnung Gottes` und Seines Tages. Im Reiche des Glanzes und durch die Macht der Wahrheit kundgetan, steht die `Erwähnung Gottes` und Sein Tag im Angesicht der Engel, die seinen Gnadenstuhl umgeben.« »Wenn Wir es wünschten«, versichert Er noch einmal, »so wäre Uns gegeben, durch die Wirkung auch nur eines Buchstabens Unserer Offenbarung die Welt und alles, was darinnen ist, zu zwingen, in weniger als einem Augenblick die Wahrheit Unserer Sache anzuerkennen.«

#187

»Ich bin der Erste Punkt«, so wendet sich der Báb von der Festung Máh-Kú aus an Muhammad Sháh, »daraus alles Erschaffene gezeugt ward ... Ich bin das Antlitz Gottes, dessen Glanz sich nie verdunkeln läßt, das Leuchten von Gottes Licht, das nie verblassen kann ... Gott hat beliebt, Mir alle Schlüssel des Himmels in die rechte Hand zu legen und alle Schlüssel der Hölle in Meine Linke ... Ich bin ein Tragpfeiler des Ersten Wortes Gottes. Wer immer Mich anerkennt, hat alles erkannt, was wahr und recht ist, und hat alles erreicht, was gut und ziemlich ist ... Der Stoff daraus Gott Mich geschaffen hat, ist nicht der Staub, daraus andere wurden. Er gab Mir, was die Weltweisen nie erfassen noch die Getreuen je enthüllen können.« »Sollte«, so bekräftigt der Báb in dem Wunsche, die in Seiner Sendung verborgenen grenzenlosen Fähigkeiten zu betonen, »eine winzige Ameise an diesem Tag begehren, mit der Macht begabt zu sein, die schwierigsten und verwirrendsten Stellen des Qur'án zu enträtseln, so würde zweifellos ihr Wunsch erfüllt werden, da ja das Mysterium ewiger Macht im innersten Wesen aller erschaffenen Dinge schwingt.« »Wenn ein so hilfloses Geschöpf«, so lautet 'Abdu'l-Bahás Erklärung zu dieser überraschenden Versicherung, »mit einer so hohen Möglichkeit begabt werden kann, um wieviel wirksamer muß dann die Kraft sein, die durch die freigebigen Ausgießungen der Gnade Bahá'u'lláhs frei ward!«

Diesen gebieterischen Aussagen und feierlichen Erklärungen Bahá'u'lláhs und des Báb muß 'Abdu'l-Bahás eigenes unabänderliches Zeugnis beigefügt werden. Er, der berufene Erklärer der Worte Bahá'u'lláhs und des Báb, bekräftigt, nicht etwa nur mittelbar, sondern in klarer und entschiedener Sprache sowohl in seinen Schriften als auch in Seinem Testament die Wahrheit der Darlegungen, auf die ich mich bereits bezogen habe.

#188

In einem Tablet an einen Bahá'í in Mázindarán, in dem Er den Sinn einer Ihm zugeschriebenen, falsch gedeuteten Erklärung über den Aufgang der Sonne der Wahrheit in diesem Jahrhundert klarlegt, entwickelt Er kurz und bündig, was für alle Zeiten unser wahrer Begriff für die Beziehungen zwischen den beiden mit der Bahá'í-Sendung verbundenen Manifestationen bleiben sollte. »Mit einer solchen Darlegung«, so erklärt Er, »hatte Ich niemand anderen als den Báb und Bahá'u'lláh gemeint. Meine Absicht war, die Wesensart ihrer Offenbarungen zu erläutern. Die Offenbarung des Báb mag mit der Sonne verglichen werden, deren Stand dem ersten Tierkreiszeichen entspricht, dem Zeichen des Widders, in welches die Sonne mit der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings eintritt. Die Stufe der Offenbarung Bahá'u'lláhs dagegen wird durch das Zeichen des Löwen dargestellt, wenn die Sonne die Sommermitte und ihren höchsten Stand erreicht hat. Das bedeutet, daß diese heilige Offenbarung erleuchtet ist vom Lichte der Sonne der Wahrheit, die von ihrem erhabensten Punkte aus in der Fülle ihres Glanzes, ihrer Wärme und ihrer Herrlichkeit herabscheint.«

»Der Báb, der Erhabene«, bestätigt 'Abdu'l-Bahá ausführlicher in einem anderen Seiner Tablets, »ist der Morgen der Wahrheit, dessen Strahlenglanz durch alle Himmel leuchtet. Er ist ebenso der Vorbote des Größten Lichtes, des Tagesgestirns Abhá. Die Gesegnete Schönheit ist der Verheißene der heiligen Bücher der Vergangenheit, die Offenbarung des Lichtquells, der auf dem Berge Sinai schien, dessen Feuer im Brennenden Busche glühte. Wir sind, einer wie alle, Diener an ihrer Schwelle und stehen jeder als geringer Wächter an ihrer Türe.« »Jedweder Beweis und jede Prophezeiung«, so lautet Seine noch nachdrücklichere Ermahnung»,jede Art von Zeugnis, das sich auf die Vernunft oder die Texte der heiligen Schriften und Überlieferungen stützt, ist als in den Personen Bahá'u'lláhs und des Báb verankert anzusehen. In ihnen erfahren sie ihre vollkommene Erfüllung.«

#189

Und schließlich setzt Er in Seinem Willen und Testament, das Seine letzten Wünsche und Abschiedslehren verwahrt, in folgendem, eigens die Leitgrundsätze des Bahá'í-Glaubens darzutun bestimmten Absatz das Siegel Seines Zeugnisses auf die zweifache und erhabene Stufe des Báb: »Die Glaubensgrundlage des Volkes Bahás - möge mein Leben ihm zum Opfer dienen - ist diese: Seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb) ist die Manifestation der Einheit und Einzigkeit Gottes und der Vorläufer der Urewigen Schönheit (Bahá'u'lláh). Seine Heiligkeit die Schönheit Abhá (Bahá'u'lláh) - möge mein Leben als Opfer für Seine standhaften Freunde dargeboten sein - ist Gottes erhabenste Manifestation und der Tagesanbruch Seines göttlichsten Wesens.« »Alle anderen«, setzt Er bedeutungsvoll hinzu, »sind Seine Diener und folgen Seinem Gebot.«





#190
Abdu'l-Bahá

+6:3

Innig geliebte Freunde! Ich habe auf den vorangegangenen Seiten versucht, eine Darlegung jener Wahrheiten zu geben, die, wie ich fest glaube, im Anspruch Dessen verankert liegen, der der Urquell der Bahá'í-Offenbarung ist. Ich habe mich ferner bemüht, Mißverständnisse aufzuklären, die naturgemäß in der Meinung eines jeden auftauchen mögen, der über eine so übermenschliche Offenbarung der Herrlichkeit Gottes nachdenkt. Es war mein Bestreben, die Bedeutung der Göttlichkeit zu erklären, mit welcher der Träger einer so geheimnisvollen Kraft notwendigerweise ausgestattet sein muß. Daß die Botschaft, mit deren Übermittlung an die Menschheit ein so erhabenes Wesen in diesem Zeitalter von Gott beauftragt wurde, den göttlichen Ursprung und die Grundprinzipien einer jeden durch die Propheten der Vergangenheit eingeleiteten Sendung anerkennt und aufrechterhält, daß sie mit jeder einzelnen von ihnen aufs innigste verbunden ist, das habe ich ebenfalls nach besten Kräften zu erklären versucht. Daß der Urheber eines solchen Glaubens den Anspruch auf Endgültigkeit, wie ihn Führer der verschiedensten Bekenntnisse erheben, ablehnt und trotz der ungeheuren Größe Seiner Offenbarung für Sich selbst verwirft, auch dies habe ich zu beweisen und zu betonen für notwendig erachtet. Zu erläutern, daß der Báb, der Dauer Seiner Sendung ungeachtet, nicht zuerst als der erkorene Vorläufer des Bahá'í-Glaubens, sondern als Einer angesehen werden sollte, dem jene ungeteilte Autorität verliehen ist, wie sie sämtliche unabhängigen Propheten der Vergangenheit beansprucht haben, dünkte mich ein weiteres Grundprinzip, das zu erläutern im augenblicklichen Zustand der Entwicklung unserer Sache außerordentlich wünschenswert erscheint.

#191

Wir sollten nun, wie ich deutlich fühle, den Versuch machen, unsere Auffassung der von 'Abdu'l-Bahá eingenommenen Stufe und der Bedeutung Seiner Stellung in dieser heiligen Sendung klarzustellen. Es ist in der Tat für uns, die wir zeitlich einer so ungeheuer großen Gestalt so nahe stehen und von der geheimnisvollen Kraft einer so anziehenden Persönlichkeit gefesselt werden, schwer, einen klaren, genauen Begriff von der Rolle und dem Charakter Dessen zu erhalten, der nicht nur in der Sendung Bahá'u'lláhs, sondern auch auf dem gesamten Gebiet der Religionsgeschichte ein einzig dastehendes Amt hat. Obgleich Er sich in Seiner eigenen Sphäre bewegt und eine Stufe einnimmt, die völlig verschieden von denjenigen des Urhebers und des Vorläufers der Bahá'í-Offenbarung ist, bildet Er doch kraft der Stellung, die ihm durch das Bündnis Bahá'u'lláhs zuteil ward, mit jenen zusammen das, was wir als die drei Zentralgestalten eines Glaubens bezeichnen können, der in der Geistesgeschichte der Welt einzig ist. Vereint mit ihnen thront Er über den Geschicken dieses jungen Gottesglaubens in einer Höhe, die kein einzelner und keine nach Ihm seinem Wohl verpflichtete Körperschaft jemals während einer Zeitdauer von mindestens einem vollen Jahrtausend zu erreichen hoffen können. Seinen erhabenen Rang dadurch zu verkleinern, daß man Seine Stufe gleich oder doch nahezu gleich der Stellung derer achtet, auf die der Mantel Seiner Autorität gefallen ist, wäre ein Akt mangelnder Ehrfurcht und ebenso schwerwiegend wie der nicht weniger ketzerische Glaube, der Ihn auf die Stufe absoluter Gleichheit entweder mit der Hauptgestalt oder dem Vorläufer unseres Glaubens stellen möchte. So groß auch der Abstand ist, der 'Abdu'l-Bahá von Dem trennt, der die Quelle einer unabhängigen Offenbarung bildet, so ist er doch niemals mit dem noch größeren Abstand zu vergleichen, der zwischen Ihm, dem Mittelpunkt des Bundes, und Seinen zur Weiterführung Seines Werkes berufenen Dienern liegt, wie immer sie auch hießen und welcher Art ihr Rang, ihr Aufgabenbereich oder ihre künftigen Taten seien. Mögen jene, die 'Abdu'l-Bahá gekannt haben und durch die Berührung mit Seiner anziehenden Persönlichkeit dazu gekommen sind, glühende Bewunderung für Ihn zu hegen, im Lichte dieser Darlegung über die Größe Dessen nachdenken, dessen Stufe so hoch über der Seinen ist.

#192

Daß 'Abdu'l-Bahá keine Manifestation Gottes ist, daß Er, obgleich der Nachfolger Seines Vaters, dennoch nicht die gleiche Stufe einnimmt, daß niemand außer dem Báb und Bahá'u'lláh vor Ablauf eines vollen Jahrtausends Anspruch auf eine solche Stufe erheben kann, ist eine Wahrheit, die den diesbezüglichen Aussprüchen beider, sowohl des Begründers unseres Glaubens als auch des Erläuterers Seiner Lehren, zugrunde liegt.

»Wer vor dem Ablauf eines vollen Jahrtausends Anspruch auf eine unmittelbare Offenbarung Gottes erhebt«, so lautet die im Kitáb-i-Aqdas geäußerte ausdrückliche Warnung, »der ist fürwahr ein lügnerischer Betrüger. Wir bitten Gott, daß Er ihm gnädig beistehe, damit er einen solchen Anspruch widerrufe und verwerfe. Sofern er bereut, wird Gott ihm ohne Zweifel vergeben. Wenn er jedoch in seinem Irrtum beharrt, wird Gott gewißlich jemanden herabsenden, der unbarmherzig mit ihm verfährt, denn furchtbar, in der Tat, ist Gott in Seiner Strafe!« »Wer immer diesen Vers«, so fügt Er um des stärkeren Nachdrucks willen hinzu, »anders auslegt, als sein klarer Sinn ist, der beraubt sich des Geistes Gottes und Seiner alles Erschaffene umfassenden Gnade.« »Sollte ein Mensch«, so lautet eine andere entscheidende Erklärung, »bevor noch volle tausend Jahre vorbei sind, auftreten - jedes der Jahre zu zwölf Monaten nach dem Qur'án und zu neunzehn Monaten zu neunzehn Tagen nach dem Bayán gerechnet - und sollte gleich ein solcher Mensch vor euren Augen alle Zeichen Gottes offenbaren, so sollt ihr ihn doch ohne Zögern von euch weisen.«

#193

Die Erklärungen, die 'Abdu'l-Bahá selber in Übereinstimmung mit dieser Warnung abgibt, sind nicht weniger nachdrücklich und verpflichtend: »Dies ist«, so sagt Er, »meine feste, unerschütterliche Überzeugung, das Wesen meines rückhaltlosen, ausdrücklichen Glaubens, eine Überzeugung und ein Glaube, den die Bewohner des Abhá-Königreichs vollkommen teilen: Die Gesegnete Schönheit (Bahá'u'lláh) ist die Sonne der Wahrheit, und Ihr Licht ist das Licht der Wahrheit. Der Báb ist gleicherweise die Sonne der Wahrheit, und sein Licht ist das Licht der Wahrheit ... Meine Stufe ist die Stufe des Dienstes, eines Dienstes, der vollständig, rein und wirklich, sicher begründet, andauernd, deutlich, ausdrücklich offenbart und keiner irgendwie gearteten Deutung unterworfen ist ... Ich bin der Ausleger des Wortes Gottes; dies ist meine Auslegung.«

Entreißt nicht 'Abdu'l-Bahá in Seinem eigenen Willen - mit einem Ton und einer Sprache, die auch die hartnäckigsten Verletzer des Bündnisses Seines Vaters wohl verwirren können - denjenigen Personen ihre stärkste Waffe, die so lange und mit solcher Beharrlichkeit getrachtet hatten, Ihn durch die Behauptung zu belasten, daß Er stillschweigend Anspruch auf eine ebenso hohe, wenn nicht höhere Stufe als diejenige Bahá'u'lláhs erhöbe? »Die Glaubensgrundlage des Volkes Bahás«, so lautet einer der gewichtigsten Abschnitte jener letzten Urkunde, die hinterlassen wurde, um für alle Zeiten die Weisungen und Wünsche eines dahingegangenen Meisters zu verkünden: »ist diese: Seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb) ist die Manifestation der Einheit und Einzigkeit Gottes und der Vorläufer der Urewigen Schönheit. Seine Heiligkeit die Schönheit Abhá (Bahá'u'lláh) - möge mein Leben ein Opfer für seine standhaften Freunde sein - ist die erhabenste Manifestation Gottes und der Tagesanbruch seines göttlichsten Wesens. Alle anderen sind seine Diener und folgen Seinem Gebot.«

#194

Aus solchen klaren, in aller Form niedergelegten Erklärungen, die mit irgendwelchen Behauptungen eines Anspruchs auf Prophetenschaft unvereinbar sind, sollte indessen keineswegs gefolgert werden, daß 'Abdu'l-Bahá nur einer der Diener der Gesegneten Schönheit oder im besten Falle jemand ist, dessen Aufgabe sich auf die Tätigkeit eines bevollmächtigten Auslegers der Lehren Seines Vaters beschränkt. Es sei mir ferne, derartige Ansichten zu hegen oder anderen solche Empfindungen einflößen zu wollen. Ihn in einem solchen Lichte zu betrachten, ist offenkundiger Verrat an dem unschätzbaren Erbe, das Bahá'u'lláh der Menschheit hinterlassen hat. Unermeßlich erhaben ist die Ihm durch die Erhabene Feder verliehene Stufe über die aus diesen Seinen eigenen schriftlichen Erklärungen sich ergebenden Folgerungen. Sei es im Kitáb-i-Aqdas, dem bedeutungsvollsten und heiligsten aller Werke Bahá'u'lláhs, im Kitáb-i-'Ahd, dem Buche Seines Bündnisses, oder in der Súriy-i-Ghusn (Tablet vom Zweig), überall statten diese durch die Feder Bahá'u'lláhs niedergeschriebenen Hinweise - Hinweise, welche durch die von Seinem Vater an Ihn gerichteten Tablets noch gewaltig unterstrichen werden - 'Abdu'l-Bahá mit einer Macht aus und umgeben sie Ihn mit einem Glanze, wie sie das heutige Geschlecht nie hinreichend wird würdigen können.

#195

Er ist zuerst und vor allem der Mittelpunkt und die Achse des unvergleichlichen und allumfassenden Bündnisses Bahá'u'lláhs und sollte für immer so betrachtet werden, als Seine erhabenste Schöpfung, der fleckenlose Spiegel Seines Lichtes, das vollkommene Beispiel Seiner Lehren, der niemals irrende Ausleger Seines Wortes, der Ausdruck eines jeglichen Bahá'í-Ideals, die Verkörperung jeder Bahá'í-Tugend, der Mächtigste Zweig, der aus der Urewigen Wurzel hervorging, der Arm des göttlichen Gesetzes, das Wesen, »um das sich alle Namen bewegen«, die Triebkraft der Vereinigung der Menschheit, das Banner des Größten Friedens, der Mond des Zentralgestirns dieser heiligsten Sendung. Dies alles sind Benennungen und Ehrennamen, die sich aus Seiner Stufe ergeben und ihren getreuesten, höchsten, edelsten Ausdruck in dem Zaubernamen 'Abdu'l-Bahá finden. Er ist, jenseits von allen diesen Benennungen, »das Geheimnis Gottes« - ein Ausdruck, den Bahá'u'lláh selber gewählt hat, um ihn zu bezeichnen, und der, ohne uns irgendwie zur Zuerkennung der Stufe der Prophetenschaft zu berechtigen, andeutet, wie in der Gestalt 'Abdu'l-Bahás die auseinanderlaufenden Kennzeichen menschlicher Natur und übermenschlicher Erkenntnis und Vollkommenheit verschmolzen und in völlige Übereinstimmung gebracht sind.

»Wenn das Meer Meiner Gegenwart verebbt und das Buch Meiner Offenbarung abgeschlossen ist«, verkündet das Kitáb-i-Aqdas, »wendet euer Angesicht zu Ihm, den Gott bestimmt hat, der aus dieser Urewigen Wurzel entsprungen ist.« Und weiter: »Wenn sich die Mystische Taube aus ihrem Tempel des Lobpreises emporgeschwungen und ihr fernes Ziel, ihre verborgene Behausung, erreicht hat, wendet euch in allem, was ihr im Buche nicht versteht, an Ihn, der aus diesem mächtigen Stamm hervorging.«

#196

Auch im Kitáb-i-'Ahd erklärt Bahá'u'lláh feierlich und ausdrücklich: »Es ist den Aghsán, den Afnán und Meiner Verwandtschaft zur Pflicht gemacht, daß sie allesamt ihr Antlitz dem Mächtigsten Zweige zuwenden. Beachtet, was Wir in Unserem Heiligsten Buche offenbart haben: `Wenn das Meer Meiner Gegenwart verebbt und das Buch Meiner Offenbarung abgeschlossen ist, so wendet euer Angesicht zu Ihm, den Gott bestimmt hat, der aus dieser Urewigen Wurzel kam.` Der Gegenstand dieses heiligen Verses ist kein anderer als der Mächtigste Zweig ('Abdu'l-Bahá). So haben Wir euch gnädig Unseren machtvollen Willen offenbart, und wahrlich, Ich bin der Gnadenvolle, der Allmächtige.«

In der Súriy-i-Ghusn (Tablet vom Zweig) sind folgende Verse aufgezeichnet:» Vom Sadratu'l-Muntahá ist dieses heilige und erhabene Wesen, dieser Zweig der Heiligkeit, entsprossen. Wohl dem, der bei Ihm Zuflucht sucht und unter Seinem .Schatten weilt. Wahrlich, der Ast des Gesetzes Gottes ist von dieser Wurzel ausgegangen, die Gott fest in den Boden Seines Willens pflanzte und deren Zweig in einem Maß erhoben wurde, daß er die ganze Schöpfung überschattet. Gepriesen sei Er für dieses erhabene, dieses segensreiche, mächtige und herrliche Werk! ... Ein Wort ist aus dem Größten Tablet als Zeichen Unserer Gnade hervorgegangen, ein Wort, das Gott mit dem Schmucke Seines eigenen Wesens zierte und zum Herren über die Erde und alles, was auf ihr ist, und zu einem Zeichen Seiner Größe und Macht unter ihren Bewohnern setzte ... Danke Gott, o Volk, daß Er erschienen ist, denn wahrlich, Er ist für euch die größte Gnade, die vollkommenste Güte, und durch Ihn wird jedes modernde Gebein lebendig. Wer Ihm sich zuwendet, hat sich Gott zugewandt, und wer sich von Ihm abkehrt, hat sich von Meiner Schönheit abgekehrt, hat Meinen Beweis verworfen und sich gegen Mich vergangen. Er ist der Vertraute Gottes unter euch, Sein Pfand in euch, Seine Offenbarung für euch und Seine Erscheinung unter Seinen begünstigten Dienern. . . Wir haben Ihn herabgesandt in der Gestalt eines menschlichen Tempels. Gesegnet und geheiligt sei Gott, der durch Seinen unumstößlichen, unfehlbaren Ratschluß werden läßt, was immer Er wünscht. Wer nicht im Schatten des Zweiges bleibt, der ist verloren in der Wüste des Irrtums. Die Glut der weltlichen Wünsche zehrt ihn auf, und er gehört zu denen, die sicherlich untergehen.«

#197

»O Du, der Du Mein Augapfel bist!«, schreibt Bahá'u'lláh mit eigener Hand an 'Abdu'l-Bahá, »Meine Herrlichkeit, das Weltmeer Meiner Güte, die Sonne Meiner Freigebigkeit, der Himmel Meiner Barmherzigkeit seien mit Dir! Wir bitten Gott, Er möge die Welt erleuchten mit Deinem Wissen und Deiner Weisheit und für Dich verordnen, was Dein Herz erfreue und Dein Auge tröste.« »Gottes Herrlichkeit sei auf Dir«, schreibt Er in einem anderen Tablet, »sowie auf allen, die Dir dienen und um Dich sind. Weh, großes Weh begegne dem, der sich Dir widersetzt und Dich beleidigt. Wohl dem, der Dir die Treue zuschwört! Das Feuer der Hölle aber möge jene peinigen, die Dir feind sind.« »Wir machten Dich zu einer Zuflucht für die ganze Menschheit«, bezeugt Er in einem weiteren Tablet, »zu einem Schild für alle, die im Himmel und auf Erden sind, zu einer Feste für alle, die an Gott, den Unvergleichlichen, den Allwissenden, glauben. Gott gebe Dir, daß Er durch Dich sie schütze, sie reich mache und erhalte und daß Er Dich mit dem erfülle, was zu einer Quelle für den Wohlstand aller erschaffenen Dinge, zu einem Meer der Freigebigkeit für alle Menschen und zum Tagesanbruch des Erbarmens über alle Völker werde.«

#198

»Du weißt, o Mein Gott«, fleht Bahá'u'lláh in einem zu Ehren 'Abdu'l-Bahás offenbarten Gebete, »daß Ich für Ihn nichts anderes wünsche, als was Du selber wünschest, und Ihn zu keinem anderen Zweck bestimmte als zu dem, den Du für Ihn bestimmt hast. Verhilf Ihm darum zum Sieg durch Deine Heerscharen des Himmels und der Erde ... Verordne - Ich bitte Dich bei der Inbrunst Meiner Liebe zu Dir und bei Meiner Sehnsucht, Deine Sache zu offenbaren - verordne für Ihn und die, welche Ihn lieben, was Du für Deine Botschafter und die Treuhänder Deiner Offenbarung angeordnet. Wahrlich, Du bist der Allmächtige, der Allgewaltige.«

In einem von Bahá'u'lláh diktierten und durch Seinen Schreiber Mirzá Áqá Ján mit Anschrift versehenen Schreiben an 'Abdu'l-Bahá, der zu der Zeit auf Besuch in Beirut weilte, lesen wir: »Gepriesen sei Er, der das Land Bá (Beirut) mit der Anwesenheit Dessen ehrte, den alle Namen umkreisen. Sämtliche Atome der Erde haben allem Erschaffenen kundgetan, daß von den Toren der Gefängnisstadt her der Stern der Schönheit des großen, des Mächtigsten Zweiges Gottes - Sein urewiges und unabwandelbares Geheimnis - aufgegangen ist und, über ihrem Horizonte leuchtend, nun in ein anderes Land zieht. Kummer hat diese Gefängnisstadt darum erfüllt, dieweil ein anderes Land jubelt. Gesegnet, zweifach gesegnet ist der Boden, den Seine Fülle treten, das Auge, das von der Schönheit Seines Antlitzes entzückt ward, das Ohr, welchem die Ehre widerfahren, Seinem Ruf zu lauschen, das Herz, das Seiner Liebe Süße kostet, die Brust, die im Gedenken an Ihn weit wird, die Feder, die Seinen Lobpreis kündet, das Pergament, welches das Zeugnis Seiner Schrift trägt!«

#199

Die ihm von Bahá'u'lláh verliehene Autorität bestätigend, stellt 'Abdu'l-Bahá fest: »Im Einklang mit dem ausdrücklichen Wortlaut des Kitáb-i-Aqdas hat Bahá'u'lláh zum Ausleger seines Wortes den Mittelpunkt des Bündnisses gemacht - eines Bundes, so fest und so mächtig, wie ihn ähnlich keine religiöse Sendung seit Anbeginn der Zeit bis auf den heutigen Tag hervorgebracht hat.«

Wie erhaben aber der Rang 'Abdu'l-Bahás und wie überreich der Lobpreis immer sei, womit Bahá'u'lláh in diesen heiligen Büchern und Sendschreiben Seinen Sohn verherrlicht, so darf doch eine so beispiellose Auszeichnung nie in einem Sinn gedeutet werden, als verliehe sie ihrem Empfänger eine Stufe, die gleichbedeutend oder auch nur gleichwertig mit derjenigen Seines Vaters, der Manifestation selbst, ist. Irgendwelchen der angeführten Stellen eine derartige Auslegung zu geben, würde sie sofort aus einleuchtenden Gründen in Widerspruch mit den nicht weniger klaren und beglaubigten Versicherungen und Warnungen bringen, auf die ich bereits hinwies. In der Tat sind, wie ich schon weiter oben schrieb, diejenigen, die 'Abdu'l-Bahás Stufe überschätzen, genauso tadelnswert, und sie haben ebensoviel Schaden angerichtet wie diejenigen, die sie unterschätzen. Und das aus keinem anderen Grunde, als daß sie durch ihr Beharren auf einer völlig ungerechtfertigten Folgerung aus Bahá'u'lláhs Schriften unbewußt dem Feind eine Rechtfertigung erteilen und ihm fortdauernd Stoff für seine falschen Beschuldigungen und irreführenden Darstellungen liefern.

#200

Ich erachte es daher für nötig, eindeutig und ohne Zögern festzustellen, daß weder das Kitáb-i-Aqdas noch auch das Buch des Bundes Bahá'u'lláhs oder gar das Tablet vom Zweig oder irgendein anderes Sendschreiben, ob es nun von Bahá'u'lláh oder 'Abdu'l-Bahá offenbart sei, die geringste Begründung für die Auffassung enthält, die zur Aufrechterhaltung der sogenannten »mystischen Einheit« von Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá oder zur Annahme einer Identität des letzteren mit Seinem Vater oder mit einer der vorangegangenen Manifestationen neigt. Diese so irrige Auffassung entspringt zu einem Teil wohl einer völlig abwegigen Auslegung gewisser Ausdrücke und Stellen im Tablet vom Zweig und der Einfügung gewisser Worte in dessen englische Übersetzung, die entweder nicht vorhanden, oder irreführend und doppelsinnig sind. Sie gründet zweifellos hauptsächlich auf einer völlig ungerechtfertigten Schlußfolgerung aus den Anfangsstellen eines Tablets Bahá'u'lláhs, das in den »Bahá'í Scriptures« auszugsweise unmittelbar vor das genannte Tablet vom Zweig gestellt ist, ohne jedoch dazuzugehören. Es sollte jedem Leser dieser Auszüge klargemacht werden, daß mit dem Ausdruck »die Zunge des Urewigen« niemand anders als Gott gemeint, daß die Redewendung »der Größte Name« ein klarer Hinweis auf Bahá'u'lláh und das angeführte »Bündnis« nicht das besondere Bündnis ist, dessen unmittelbarer Begründer Bahá'u'lláh und dessen Mittelpunkt 'Abdu'l-Bahá war, sondern daß damit das allgemeine Bündnis gemeint ist, das, wie die Bahá'í-Lehre betont, Gott selbst unverbrüchlich mit der Menschheit schließt, sooft Er eine neue Sendung einleitet. »Die Zunge«, die, wie es in jenen Auszügen heißt, die »frohe Botschaft spendet«, ist nichts anderes als die Stimme Gottes, die sich auf Bahá'u'lláh bezieht, und nicht Bahá'u'lláh, der sich auf 'Abdu'l-Bahá bezöge.

Zu behaupten, daß die Versicherung »Er ist Ich selber« - statt die mystische Einheit Gottes mit Seinen Manifestationen zu bezeichnen, wie dies im Kitáb-i-Íqán erklärt ist -, die Identität Bahá'u'lláhs mit 'Abdu'l-Bahá begründe, würde geradezu eine Verletzung des oft wiederholten Grundsatzes der Einheit der Manifestationen Gottes bilden - eines Grundsatzes, den der Urheber eben jener Auszüge durch die sich daraus ergebende Folgerung betonen wollte.

#201

Es würde auch auf einen Rückfall in jene vernunftwidrigen, abergläubischen Glaubenssätze hinauslaufen, die sich im ersten Jahrhundert des christlichen Zeitalters unversehens in die Lehren Jesu Christi eingeschlichen und durch Verdichtung zu anerkannten Dogmen die Wirkkraft des christlichen Glaubens geschwächt und seine Absichten verdunkelt haben.

»Ich versichere«, so lautet 'Abdu'l-Bahás eigene schriftliche Auslegung des Tablets vom Zweig, »daß der wirkliche Sinn, die wahre Bedeutung, das innerste Geheimnis dieser Verse, eben dieser Worte, meine eigene Dienstbarkeit an der heiligen Schwelle der Schönheit Abhá, meine völlige Selbstaufgabe, meine äußerste Bedeutungslosigkeit vor Ihm ist. Das ist meine leuchtende Krone und meine köstlichste Zierde. Dessen rühme ich mich im Reiche, das im Himmel und auf Erden ist, dessen freue ich mich im Kreise der Begünstigten!« »Niemandem ist gestattet«, so warnt Er uns im unmittelbar darauf folgenden Absatz, »diesen Versen irgendeinen anderen Sinn zu geben.« »Ich bin«, bekräftigt Er in diesem Zusammenhang»,gemäß dem ausdrücklichen Wortlaut des Kitáb-i-Aqdas und des Kitáb-i-'Ahd, der offenbare Ausleger des Wortes Gottes. Wer auch immer von mein er Auslegung abweicht, ist ein Opfer seiner eigenen Einbildung.«

Noch mehr: Die unvermeidliche Schlußfolgerung aus dem Glauben an die Identität des Begründers unseres Glaubens mit ihm, welcher der Mittelpunkt Seines Bündnisses ist, wäre, daß 'Abdu'l-Bahá in eine über den Báb erhobene Stellung rückte, während das gerade Gegenteil davon das grundlegende, wenn auch bislang noch nicht allgemein erkannte Prinzip dieser Offenbarung ist. Es würde auch die Beschuldigungen rechtfertigen, mit denen die Bündnisbrecher sich während der ganzen Amtszeit 'Abdu'l-Bahás bemühten, die Gemüter zu vergiften und die Auffassung der getreuen Nachfolger Bahá'u'lláhs zu verdrehen.

#202

Es wäre richtiger und stünde mit den festgelegten Prinzipien Bahá'u'lláhs und des Báb in besserem Einklang, wenn wir, statt an dieser erdichteten Identität in Bezug auf 'Abdu'l-Bahá festzuhalten, den Vorläufer und den Begründer unseres Glaubens als ihrer Wirklichkeit nach identisch ansähen - eine Wahrheit, die der Wortlaut der Súratu'l-Haykal unmißverständlich bestätigt. »Wäre, wie ihr geltend macht, der Erste Punkt (der Báb) irgend jemand außer Mir gewesen«, so lautet die ausdrückliche Feststellung Bahá'u'lláhs, »und wäre Er in Meine Nähe gekommen, wahrlich, Er hätte sich nie gestattet, sich von Mir zu trennen, sondern Wir würden Uns in Meinen Tagen gegenseitig ergötzt haben.« »Er, der nun Gottes Wort verkündigt«, so bekräftigt Bahá'u'lláh nochmals, »ist kein anderer als der Erste Punkt, der jetzt aufs neue offenbart ward.« »Er ist«, so sagt Er in einem an einen der Buchstaben des Lebendigen gerichteten Sendschreiben über sich selber, »der Gleiche wie Er, der im Jahre sechzig (1260 d.H.) erschien. Das, wahrlich, ist einer seiner machtvollen Zeichen.« »Wer», so fragt Er in der Súiy-i-Damm, »wird sich erheben, um den Sieg der Ersten Schönheit (des Báb) zu sichern, die im Angesicht Seiner Ihm folgenden Manifestation offenbart wurde?« Indem Er sich auf die durch den Báb verkündete Offenbarung bezieht, beschreibt Er sie umgekehrt als »Meine Mir vorangegangene Manifestation«.

#203

Daß 'Abdu'l-Bahá keine Manifestation Gottes ist, daß Er sein Licht, Seine Erleuchtung und Kraft unmittelbar aus der Quelle der Bahá'í-Offenbarung erhält, daß Er, gleich einem klaren und vollkommenen Spiegel, das Licht der Herrlichkeit Bahá'u'lláhs zurückstrahlt und nicht etwa angestammt jene unbestimmbare und dennoch alles durchdringende Wirklichkeit besitzt, deren ausschließlicher Besitz das Kennzeichen des Prophetentums bildet, daß Seine Worte nicht im gleichen Range mit den Äußerungen Bahá'u'lláhs stehen, obwohl sie die gleiche Gültigkeit wie jene besitzen, daß Er nicht als die Wiederkehr Jesu Christi anzusehen ist, des Sohnes, der da kommen wird »in der Herrlichkeit des Vaters«; alle diese Wahrheiten finden eine verstärkte Rechtfertigung und weitere Erhärtung in der folgenden Erklärung 'Abdu'l-Bahás an einige Gläubige in Amerika, mit der ich diesen Abschnitt angemessen schließen möchte: »Ihr habt geschrieben, daß unter den Gläubigen verschiedene Meinungen über das `Zweite Kommen Christi` bestehen. Gütiger Gott! Immer und immer wieder ist diese Frage aufgetaucht und zur Antwort daraufhin klarer in und unwiderleglicher Darlegung aus der Feder 'Abdu'l-Bahás geflossen, daß das, was die Prophezeiungen mit dem `Herren der Heerscharen` und dem `Verheißenen Christus` meinten, die Gesegnete Vollkommenheit (Bahá'u'lláh) und seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb) ist. Mein Name ist 'Abdu'l-Bahá. Meine Auszeichnung ist 'Abdu'l-Bahá. Meine Wirklichkeit ist 'Abdu'l-Bahá. Mein Ruhm ist 'Abdu'l-Bahá. Unterwerfung unter die Gesegnete Vollkommenheit ist meine köstliche und strahlende Krone und Dienst am ganzen Menschengeschlecht meine immerwährende Religion ... Kein anderer Name, kein Titel, keine Erwähnung, keine Empfehlung ist mir eigen, noch will ich sie je zu eigen haben denn nur 'Abdu'l-Bahá. Das ist mein Wunsch. Das ist meine größte Sehnsucht. Das ist mein ewiges Leben. Das ist meine nie vergehende Ehre!«





#203
Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung

+6:4

Innig geliebte Brüder in 'Abdu'l-Bahá! Mit dem Heimgang Bahá'u'lláhs war das Tagesgestirn göttlicher Führung, das sich, wie von Shaykh Ahmad und Siyyid Kázim vorausgesagt, in Shiráz erhoben und in seinem Lauf nach Westen den Höhepunkt in Adrianopel erreicht hatte, schließlich am Horizont von 'Akká untergegangen, um sich vor Ablauf eines vollen Jahrtausends nicht wieder zu erheben. Das Sinken eines so strahlenden Himmelskörpers schloß endgültig die Periode göttlicher Offenbarung, das erste und stärkstbelebende Stadium des Bahá'í-Zeitalters, ab. Durch den Báb begonnen, in Bahá'u'lláh gipfelnd, von der ganzen Schar der Propheten dieses großen prophetischen Zyklus vorausgesehen und gepriesen, ist dieser Zeitabschnitt, mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung zwischen dem Märtyrertod des Báb und den erschütternden Erlebnissen Bahá'u'lláhs im Siyáh-Chál von Tihrán, gekennzeichnet durch fast fünfzig Jahre andauernder und fortschreitender Offenbarung, eine Zeitfolge, die durch Dauer und Fruchtbarkeit als beispiellos auf dem ganzen Feld der Weltgeschichte des Geistes betrachtet werden muß.

#205

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás hinwieder bezeichnet das Ende des Heroischen und Apostolischen Zeitalters dieser Sendung, das Ende jener Anfangszeit unseres Glaubens, deren Glanz nie durch die Herrlichkeit übertroffen und noch viel weniger verdunkelt werden kann, die sicherlich die künftigen Siege der Offenbarung Bahá'u'lláhs bezeichnen wird. Denn weder die Großtaten der Hauptschöpfer der heutigen Institutionen des Glaubens Bahá'u'lláhs noch die stürmischen Triumphe, welche die Helden seines Goldenen Zeitalters in kommenden Tagen erringen werden, können sich mit dem wunderbaren Werk messen, das mit den Namen derer verbunden ist, die sein wahres Leben gezeugt und seinen ursprünglichen Grund gelegt haben, noch dürfen sie mit ihnen gleichgeordnet werden. Jener erste, schöpferische Abschnitt des Bahá'í-Zeitalters muß aus seiner ureigensten Natur heraus über und abseits von der gestaltgebenden Periode, in die wir jetzt eingetreten sind, und dem Goldenen Zeitalter stehen, das ihr zu folgen bestimmt ist.

'Abdu'l-Bahá, der eine Institution verkörpert, für die wir keinerlei Gegenstück in irgendeinem der anerkannten religiösen Weltsysteme finden, kann als Abschluß des Zeitalters, dem Er selber angehörte, und zugleich als Eröffner desjenigen, in dem wir heute arbeiten, angesprochen werden. Sein Wille und Testament sollte daher als das dauernde, unzerstörbare Bindeglied betrachtet werden, das der Geist dessen, der das Geheimnis Gottes ist, empfangen hat, um die Folge der drei Zeitalter zu sichern, welche die Bestandteile der Bahá'í-Sendung bilden. Auf solche Weise ist jene Periode, in der die Saat des Glaubens langsam zu keimen begann, mit derjenigen verflochten, die Zeuge seines Aufblühens sein muß, wie auch mit dem späteren Zeitalter, in dem diese Saat schließlich ihre goldenen Früchte tragen wird.

#206

Die durch das Gesetz Bahá'u'lláhs freigelegten schöpferischen Kräfte durchfluteten und entwickelten den Geist 'Abdu'l-Bahás und haben durch unmittelbaren Antrieb und engste Wechselwirkung ein Instrument hervorgebracht, das als die Charta der neuen Weltordnung angesehen werden mag, die zugleich der Glanz und die Verheißung dieser größten Sendung ist. Dieser letzte Wille kann daher als die ganz natürliche Frucht begrüßt werden, die aus jener mystischen Verbindung zwischen Ihm, der den erregenden Einfluß Seiner göttlichen Absicht übermittelte, und Dem, der dessen Träger und erwählter Empfänger war, hervorging. Als Kind des Bündnisses, Erbe des Urhebers sowohl als auch des Auslegers des Gesetzes Gottes, kann der Wille und das Testament 'Abdu'l-Bahás von Ihm, der den ursprünglichen Antrieb abgab, so wenig getrennt werden wie von Dem, der ihn letztlich empfing. Bahá'u'lláhs unerforschlicher Plan hat, wie wir uns stets vor Augen halten müssen, die Handlungsweise 'Abdu'l-Bahás so vollständig durchdrungen, ihre Beweggründe waren derart eng verbunden, daß der bloße Versuch, die Lehren Bahá'u'lláhs von einem durch das vollkommene Vorbild dieser selben Lehren eingeführten System zu trennen, der Verleugnung einer der heiligsten, grundlegenden Wahrheiten des Glaubens gleichkäme.

Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die sich seit 'Abdu'l-Bahás Hingang ständig weiter entwickelt hat und unter unseren Augen in nicht weniger als vierzig Ländern der Welt Gestalt annimmt, kann als das Rahmenwerk des Willens und Testaments betrachtet werden, als eine unzerstörbare Burgfeste, in der dieses neugeborene Kind gehegt wird und heranwächst. Diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung wird, indem sie sich ausdehnt und festigt, zweifellos die Möglichkeiten und die volle Tragweite jenes bedeutsamen Dokuments, jenes bemerkenswertesten Willensausdrucks einer der hervorragendsten Gestalten der Sendung Bahá'u'lláhs enthüllen. Sie wird, da ihre Elemente, ihre organischen Institutionen mit Kraft und Nachdruck wirksam zu werden beginnen, ihren Anspruch geltend machen und ihre Eignung dartun, nicht nur als der erste Anfang, sondern geradezu als das Modell der neuen Weltordnung angesehen zu werden, die dazu bestimmt ist, zur festgesetzten Zeit die ganze Menschheit zu umfassen.

#207

Es muß in diesem Zusammenhang bemerkt werden, daß diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung sich insofern grundlegend von allem, was irgendein Prophet vordem eingesetzt hat, unterscheidet, als Bahá'u'lláh selbst ihre Grundlagen offenbart, ihre Institutionen begründet, die Persönlichkeit, die Sein Wort auszulegen hat, berufen und der Körperschaft, die Seine Gesetze und Gebote zu ergänzen und anzuwenden bestimmt ist, die erforderliche Amtsgewalt verliehen hat. Hierin liegt das Geheimnis ihrer Kraft, ihre grundlegende Besonderheit und ihr Schutz vor Auflösung und Spaltung. Nirgendwo in den heiligen Schriften irgendeines der religiösen Weltsysteme, selbst nicht in den Schriften des Begründers der Bábí-Sendung, finden wir irgendwelche Vorkehrungen für die Errichtung eines Bündnisses oder für eine Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die sich an Ausmaß und Autorität mit denen vergleichen lassen, welche die eigentliche Grundlage der Bahá'í-Sendung bilden. Haben z. B. Christentum und Islám, um nur zwei der weitestverbreiteten und hervorragendsten unter den anerkannten Religionen der Welt zu nennen, etwas aufzuweisen, das mit dem Buch des Bündnisses Bahá'u'lláhs oder mit dem Willen und Testament 'Abdu'l-Bahás gemessen oder als ihnen gleichwertig erachtet werden könnte? Wird durch den Text des Evangeliums oder des Qur'án den Führern und Körperschaften, die das Recht beanspruchen und die Aufgabe übernommen haben, die Verordnungen ihrer heiligen Schriften auszulegen und die Angelegenheiten der betreffenden Gemeinschaften zu verwalten, ausreichende Autorität verliehen? Konnte Petrus, das anerkannte Oberhaupt der Apostel, oder der Imám 'Alí, der Vetter und rechtmäßige Nachfolger des Propheten, zur Bekräftigung des Vorrangs, mit dem sie beide ausgestattet waren, schriftliche und ausdrückliche Bestätigungen von Christus und Muhammad aufweisen, mit denen sie diejenigen zum Schweigen hätten bringen können, die unter ihren Zeitgenossen oder in einer späteren Zeit ihre Autorität zurückgewiesen und durch ihre Handlungsweise die bis auf den heutigen Tag fortbestehenden Glaubensspaltungen beschleunigt haben? Wo, so dürfen wir getrost fragen, können wir in den Überlieferten Aussprüchen Jesu Christi, mag es sich nun um die Frage der Nachfolge oder um die Verfügung besonderer Gesetze und genau umrissener Verwaltungsanordnungen handeln, neben den rein geistigen Prinzipien irgend etwas finden, das den ausführlichen Vorschriften, Gesetzen und Warnungen nahekommt, die in den verbürgten Äußerungen sowohl Bahá'u'lláhs als auch 'Abdu'l-Bahás in reicher Fülle vorliegen? Kann irgendein Abschnitt des Qur'án, der hinsichtlich seiner Gesetze, Verwaltungs- und Andachtsvorschriften bereits einen bemerkenswerten Fortschritt gegenüber früheren, stärker verfälschten Offenbarungen aufweist, dahin ausgelegt werden, daß er die von Muhammad Seinem Nachfolger mündlich bei verschiedenen Gelegenheiten verliehene Amtsgewalt unangreifbar untermauert? Kann vom Begründer der Bábi-Sendung, so sehr Er es auch durch die Vorschriften des Persischen Bayán vermocht hat, eine so bleibende und verhängnisvolle Glaubensspaltung abzuwenden, wie sie die Christenheit und den Islám befallen hat, - kann von Ihm gesagt werden, daß Er Einrichtungen zum Schutze Seines Glaubens geschaffen hat, die so fest umrissen und wirksam sind wie diejenigen, die für alle Zeit die Einheit der organisierten Anhänger des Glaubens Bahá'u'lláhs bewahren müssen?

#209

Allein diesem Glauben ist es im Unterschied zu allen ihm vorangegangenen Offenbarungen gelungen, durch die in seinen Lehren verkörperten und herausgearbeiteten ausdrücklichen Schutzbestimmungen, wiederholten Ermahnungen und verbürgten Sicherungen ein Bauwerk zu errichten, dem sich die verwirrten Anhänger zugrundegerichteter, zerbrochener Glaubensbekenntnisse ruhig nähern und das sie kritisch prüfen mögen, um, ehe es zu spät ist, die unverletzliche Sicherheit seines weltumfassenden Schutzes aufzusuchen.

Kann es darnach wundernehmen, wenn Er, der durch die Äußerung Seines Willens eine derart weitreichende, einzigartige Ordnung ins Leben rief und der Mittelpunkt eines so mächtigen Bündnisses ist, die folgenden Worte niedergeschrieben hat: »So fest und mächtig ist dieses Bündnis, daß seit Anbeginn der Zeiten bis zum heutigen Tag keine religiöse Sendung etwa Gleiches hervorgebracht hat.« »Was immer im Innersten dieses heiligen Zyklus verborgen ruht«, schrieb Er in den trübsten und gefährlichsten Tagen Seines Wirkens, »wird nach und nach erscheinen und offenkundig werden, denn dies ist erst der Anfang seines Wachstums und der Tagesanbruch der Offenbarung seiner Zeichen.« »Fürchtet euch nicht«, lauten die beruhigenden Worte, mit denen Er den Aufstieg der in Seinem Willen niedergelegten Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung vorausahnte, »fürchtet euch nicht, wenn dieser Zweig von der stofflichen Welt getrennt wird und seine Blätter abwirft. Nein, seine Blätter sollen grünen, denn dieser Zweig wird wachsen, nachdem er von der Welt hier unten ab geschnitten wurde. Er soll die höchsten Gipfel der Herrlichkeit erreichen und Früchte tragen, welche die Welt mit ihrem Wohlgeruch erfüllen werden.«

#210

Worauf sonst als auf die Macht und Majestät, die diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die Grundlage der zukünftigen allumfassenden Bahá'í-Gemeinschaft, zu offenbaren bestimmt ist, könnten die nachstehenden Worte Bahá'u'lláhs hinweisen: »Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser größten, dieser neuen Weltordnung. Das geregelte Leben der Menschen ist aufgewühlt durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems, desgleichen kein sterbliches Auge je gesehen hat.«

Auch der Báb sieht im Zuge Seiner Hinweise auf »Den, welchen Gott offenbaren wird«, das System voraus und verherrlicht die Weltordnung, welche die Offenbarung Bahá'u'lláhs zu entfalten bestimmt ist. »Wohl dem«, so heißt es in Seiner bedeutsamen Erklärung im dritten Kapitel des Persischen Bayán»,der seinen Blick auf die Ordnung Bahá'u'lláhs lenkt und seinem Herren dankt! Denn Er wird sicherlich offenbar werden. Gott hat es wahrlich unwiderruflich im Bayán verordnet.«

Aus den Schriften Bahá'u'lláhs, in denen die Institutionen des internationalen und der örtlichen Häuser der Gerechtigkeit eingehend bezeichnet und förmlich festgelegt sind, aus der Institution der Hände der Sache Gottes, die zuerst Bahá'u'lláh, darnach 'Abdu'l-Bahá ins Leben riefen, aus der Institution der örtlichen und nationalen Räte, die in ihrer frühen Entwicklungsform bereits in den Tagen vor dem Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás tätig waren, aus der Amtsgewalt, womit sie der Gründer unseres Glaubens und der Mittelpunkt Seines Bündnisses in Ihren Schriften auszustatten beliebten, aus der Institution des örtlichen Fonds, der nach den von 'Abdu'l-Bahá an bestimmte Räte in Persien gerichteten genauen Anweisungen gehandhabt wurde, aus den Versen des Kitáb-i-Aqdas, die in ihren Folgerungen deutlich die Institution des Hütertums vorwegnehmen, aus der Erklärung, die 'Abdu'l-Bahá in einem Seiner Sendschreiben für das von den Propheten der Vergangenheit hochgehaltene Erbprinzip und das Erstgeburtsrecht gab, sowie aus dem Nachdruck, den Er darauf legte - aus alledem können wir bereits den schwachen Schimmer und die ersten Andeutungen des Wesens und Wirkens der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung erkennen, die dazu ausersehen war, zu einem späteren Zeitpunkt durch den Letzten Willen 'Abdu'l-Bahás verkündet und förmlich begründet zu werden.

#211

An dieser Stelle sollte nach meinem Empfinden versucht werden, das Wesen und die Aufgaben der Zwillingspfeiler zu erklären, die diesen mächtigen Verwaltungsbau tragen: der Institutionen des Hütertums und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Die verschiedenen bei diesen Institutionen mitwirkenden Elemente in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, steht außerhalb meiner Absicht und des Zweckes dieser allgemeinen Darlegung der Grundwahrheiten des Glaubens. Sorgfältig und genau die Grundzüge zu umreißen und erschöpfend das Wesen der Verwandtschaft zu untersuchen, die einerseits diese beiden grundlegenden Organe des Letzten Willens 'Abdu'l-Bahás miteinander verbindet, andererseits ein jedes von ihnen mit dem Begründer des Glaubens und dem Mittelpunkt Seines Bündnisses verknüpft, ist eine Aufgabe, die spätere Geschlechter zweifellos angemessen erfüllen werden. Meine augenblickliche Absicht ist, gewisse hervortretende Merkmale dieses Systems herauszuarbeiten, die, wie dicht wir auch vor seinem Riesenbau stehen mögen, sich doch bereits so klar abzeichnen, daß es unverzeihlich wäre, sie fehlzudeuten oder außer acht zu lassen.

#212

Es muß gleich zu Anfang klar und unzweideutig festgestellt werden, daß diese Zwillingsinstitutionen der Verwaltung als göttlich, ihren Aufgaben nach als unentbehrlich, ihrem Zweck nach als einander ergänzend anzusehen sind. Ihr gemeinsames, grundlegendes Ziel ist, den Fortbestand jener göttlich verordneten Amtsgewalt zu sichern, die aus der und Gesellschaftsordnung Bahá'u'lláhs ihrem Ursprung nach Quelle unseres Glaubens fließt, die Einheit seiner Anhänger zu wahren und seine Lehren unversehrt und anpassungsfähig zu erhalten. In Zusammenarbeit miteinander verwalten diese beiden untrennbaren Institutionen die Angelegenheiten des Glaubens, stimmen seine Tätigkeiten aufeinander ab, fördern seine Belange, vollziehen seine Gesetze und schützen seine Untergliederungen. Getrennt voneinander wirkt jede in einem klar umgrenzten Rechtsbereich, jede ist mit eigenen Hilfsinstitutionen ausgestattet, Werkzeugen für die wirksame Erledigung ihrer besonderen Verantwortlichkeiten und Pflichten, jede übt innerhalb der ihr gesetzten Grenzen ihre Gewalt, Autorität, Rechte und Vorrechte aus, und diese stehen weder in Widerspruch zueinander, noch schmälern sie im geringsten die Stellung, welche jede dieser Institutionen einnimmt. Weit davon entfernt, miteinander unvereinbar zu sein oder sich gegenseitig zu stören, ergänzen sie einander in ihrer Amtsgewalt und ihren Aufgaben und sind in ihren Zielen dauernd und grundlegend vereinigt.

#213

Abgesondert von der Institution des Hütertums wäre die Weltordnung Bahá'u'lláhs verstümmelt und dauernd des Grundsatzes der Erblichkeit beraubt, der, wie 'Abdu'l-Bahá schreibt, unverändert durch das Gesetz Gottes hochgehalten worden ist.»In allen göttlichen Sendungen«, so erklärt Er in einem an einen Anhänger des Glaubens in Persien gerichteten Sendschreiben,»ist dem ältesten Sohne eine außerordentliche Auszeichnung zuteil geworden. Sogar die Stufe der Prophetenschaft ist das Recht seiner Erstgeburt gewesen.« Ohne eine solche Einrichtung würde die Ganzheit des Glaubens gefährdet; die Reißfestigkeit seines Gewebes wäre schwer bedroht. Sein Ansehen litte, die Mittel für einen weiten ununterbrochenen Ausblick auf eine Reihe von Generationen fehlten völlig und die notwendige Führung für die Grenzziehung um den Gesetzgebungsbereich seiner gewählten Vertreter wäre entzogen.

Getrennt von der nicht minder wesentlichen Institution des Universalen Hauses der Gerechtigkeit wäre diese nämliche Ordnung des Willens 'Abdu'l-Bahás in ihrer Wirksamkeit gehemmt und außerstande, die Lücken auszufüllen, die der Schöpfer des Kitáb-i-Aqdas mit Bedacht im Gefüge Seiner Gesetzes- und Verwaltungsanordnungen gelassen hat.

»Er ist der Ausleger des Wortes Gottes«, erklärt 'Abdu'l-Bahá zu den Aufgaben des Hüters des Glaubens, wobei Er in seinem Letzten Willen genau denselben Ausdruck anwendet, den Er bei der Zurückweisung der Anfechtungsbegründung durch die Bündnisbrecher wählte, die Sein Recht zur Auslegung der Äußerungen Bahá'u'lláhs bestritten hatten. »Ihm wird«, fügt Er hinzu, »der Erstgeborene seiner unmittelbaren Abkömmlinge folgen.« »Die mächtige Feste«, erklärt Er weiter, »wird durch den Gehorsam gegen ihn, der der Hüter der Sache Gottes ist, uneinnehmbar und sicher bleiben.« »Die Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit, alle Aghsán, die Afnán und die Hände der Sache Gottes sind verpflichtet, dem Hüter der Sache Gottes ihren Gehorsam, ihre Ergebenheit und Unterordnung zu erzeigen.«

»Die Vertrauensleute des Hauses der Gerechtigkeit haben die Pflicht«, erklärt Bahá'u'lláh andererseits auf dem achten Blatt des Erhabenen Paradieses»,über jene Dinge zu beraten, die nicht ausdrücklich im Buche offenbart sind, und durchzusetzen, was ihnen genehm ist. Gott wird ihnen wahrlich eingeben, was Er will, und Er ist, wahrlich, der Versorger, der Allwissende.«

#214

»Dem Heiligsten Buch« (dem Kitáb-i-Aqdas), erklärt 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen, »muß sich jeder zuwenden, und alles, was nicht ausdrücklich darin erwähnt ist, muß an das Universale Haus der Gerechtigkeit überwiesen werden. Was durch diese Körperschaft einstimmig oder durch Stimmenmehrheit angenommen wird, ist in der Tat die Wahrheit und Gottes Absicht. Wer davon abweicht, gehört fürwahr zu denen, die Zwietracht lieben, sich böswillig gezeigt und von dem Herrn des Bundes abgewendet haben.«

'Abdu'l-Bahá bestätigt in Seinem Willen nicht nur die oben erwähnte Erklärung Bahá'u'lláhs, sondern er belehnt diese Körperschaft auch mit dem weiteren Recht und der Vollmacht, sowohl die eigenen gesetzlichen Verfügungen als auch diejenigen eines vorangegangenen Hauses der Gerechtigkeit je nach den Zeiterfordernissen aufzuheben. »Wie das Haus der Gerechtigkeit«, so heißt es ausdrücklich in Seinem Willen», die Gewalt hat, Gesetze zu erlassen, die nicht ausdrücklich im Buche verzeichnet sind und zeitlichen Erfordernissen entsprechen, so hat es auch die Gewalt, sie wieder außer Kraft zu setzen ... Es kann dies tun, weil diese Gesetze keinen Teil des ausdrücklichen göttlichen Textes bilden.«

#215

Hinsichtlich beider, des Hüters und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, lesen wir folgende eindringlichen Worte: »Der heilige und jugendliche Zweig, der Hüter der Sache Gottes, sowie das Universale Haus der Gerechtigkeit, das universal zu wählen und einzusetzen ist, stehen beide unter dem Schutz und Schirm der Schönheit Abhá, unter der Obhut und unfehlbaren Führung des Erhabenen (des Báb) - möge mein Leben für beide geopfert werden. Was immer sie bestimmen, ist von Gott.«

Aus diesen Darlegungen wird unzweifelhaft klar und deutlich, daß der Hüter des Glaubens zum Ausleger des Wortes gemacht und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit die Gesetzgebungsgewalt für die Gegenstände verliehen worden ist, die nicht ausdrücklich in den Lehren offenbart sind. Die Auslegung durch den Hüter ist innerhalb seines Bereiches ebenso autoritativ und bindend wie die Entscheidungen des Internationalen Hauses der Gerechtigkeit, dessen ausschließliches Recht und Privileg es ist, über solche Gesetze und Anordnungen zu befinden und letztgültig zu entscheiden, die Bahá'u'lláh nicht ausdrücklich offenbart hat. Keine von beiden Institutionen kann und wird je in das geweihte und festgelegte Gebiet der anderen übergreifen, keine von ihnen versuchen, die besondere, unbestrittene Amtsgewalt zu schmälern, mit der beide von Gott her ausgestattet wurden.

Obwohl der Hüter des Glaubens zum ständigen Haupt einer so erhabenen Körperschaft gemacht worden ist, kann er doch nie, und wäre es nur vorübergehend, das Recht ausschließlicher Gesetzgebung beanspruchen. Er kann die Entscheidung der Mehrheit seiner Mitglieder nicht umstoßen, ist jedoch verpflichtet, bei jeder Gesetzesvorlage auf einer nochmaligen Behandlung durch sie zu bestehen, wenn sie nach seinem Gewissen dem Sinn der offenbarten Äußerungen Bahá'u'lláhs widerspricht und von deren Geiste abweicht. Er legt aus, was ausdrücklich offenbart worden ist, und kann nicht gesetzgeberisch tätig sein, es sei denn in seiner Eigenschaft als Mitglied des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Es ist ihm verwehrt, alleine die Verfassung zu schaffen, welche die geordnete Tätigkeit seiner Mitglieder leiten muß, oder seinen Einfluß so auszuüben, daß die Freiheit jener beeinträchtigt werden könnte, deren geheiligtes Recht es ist, die Körperschaft seiner Mitarbeiter zu wählen.

#216

Es sollte nicht vergessen werden, daß 'Abdu'l-Bahá die Institution des Hütertums bereits in einer Andeutung vorweggenommen hat, die Er, lang vor Seinem eigenen Heimgang, in einem Sendschreiben an drei Seiner Freunde in Persien machte. Auf ihre Frage, ob jemand da sei, an den sich alle Bahá'í nach Seinem Tod zu wenden hätten, gab Er folgende Antwort: »Was eure an mich gerichtete Frage anbelangt, so wisset fürwahr, daß die Antwort darauf ein wohlbehütetes Geheimnis ist. Sie ist wie die Perle, die verborgen in der Muschel ruht. Daß sie enthüllt werde, ist vorherbestimmt. Die Zeit wird kommen, da ihr Licht erscheint, da ihre Zeichen kundgetan und ihre Geheimnisse enträtselt werden.«

Innig geliebte Freunde! Wie erhaben die Stellung und wie wesentlich die Aufgabe der Institution des Hütertums in der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung Bahá'u'lláhs auch sein mag, wie überwältigend das Gewicht der von ihr getragenen Verantwortung immer bleiben muß, so darf doch ihre Wichtigkeit, gleichviel, wie die Sprache des Letzten Willens sei, durchaus nicht überbetont werden. Der Hüter des Glaubens darf unter keinen Umständen, wie groß auch seine Verdienste oder Taten seien, zu einem Rang erhoben werden, der ihn mit 'Abdu'l-Bahá an jener einzigartigen Stellung teilhaben läßt, die der Mittelpunkt des Bundes einnimmt, und noch viel weniger zu der ausschließlich der Manifestation Gottes vorbehaltenen Stufe. Ein so schweres Abweichen von den feststehenden Grundsätzen unseres Glaubens würde nicht weniger als offene Gotteslästerung bedeuten. Ich habe schon in meinen Ausführungen über die Stufe 'Abdu'l-Bahás dargelegt: Wie groß auch der Abstand sein mag, der Ihn von dem Urheber einer göttlichen Offenbarung trennt, so läßt sich dieser Abstand doch niemals mit demjenigen vergleichen, der zwischen Ihm, dem Mittelpunkt des Bundes Bahá'u'lláhs, und Seinen auserwählten Werkzeugen, den Hütern, ist. Es liegt ein weit, weit größerer Abstand zwischen dem Hüter und dem Mittelpunkt des Bundes, als er zwischen dem Mittelpunkt des Bundes und seinem Urheber besteht.

#217

Kein Hüter des Glaubens - ich fühle die feierliche Pflicht zu dieser Feststellung - kann je beanspruchen, das vollkommene Beispiel der Lehren Bahá'u'lláhs oder den fleckenlosen Spiegel darzustellen, der Sein Licht zurückstrahlt. Obzwar er durch den unfehlbaren, nie irrenden Schutz Bahá'u'lláhs und des Báb beschirmt wird und in so hohem Maße mit 'Abdu'l-Bahá Recht und Pflicht, die Bahá'í-Lehren auszulegen, teilen mag, so bleibt er im Wesen dennoch Mensch und kann, wenn er das ihm übertragene Treuamt wahren will, unter keinerlei Vorwand für sich die Rechte und Privilegien in Anspruch nehmen, die Bahá'u'lláh Seinem Sohne zu verleihen beliebt hat. Zum Hüter des Glaubens zu beten, ihn als Herr und Meister anzureden, als »Seine Heiligkeit« zu bezeichnen, seinen Segen zu suchen, seinen Geburtstag zu feiern oder irgendein Ereignis, das mit seinem Leben verknüpft ist, festlich zu begehen, wäre im Lichte dieser Wahrheit gleichbedeutend mit einem Abgehen von den in unserem geliebten Glauben verankerten und festgesetzten Wahrheiten. Die Tatsache, daß dem Hüter die zur Sinnfindung und Ausfolgerung der Worte Bahá'u'lláhs und 'Abdu'l-Bahás erforderliche besondere Gewalt verliehen worden ist, braucht ihm nicht notwendig eine gleiche Stufe mit Denen einzuräumen, deren Worte auszulegen er berufen ist. Er kann dieses Recht ausüben, dieser Verpflichtung nachkommen und doch gegenüber beiden im Rang unendlich viel niedriger und wesenhaft von Ihnen verschieden sein.

#218

Die Unverletzlichkeit dieses Hauptgrundsatzes unseres Glaubens muß durch die Worte und Taten seines gegenwärtigen Hüters wie auch der kommenden reich bezeugt werden. Sie müssen in Führung und Beispiel seine Wahrheit unerschütterlich fest begründet aufrichten und kommenden Geschlechtern unanfechtbare Beweise seiner Echtheit übermitteln.

Was mich betrifft, so müßte jedes Zögern in der Anerkennung einer so wesentlichen Wahrheit oder ein Schwanken in der Verkündung einer so festen Überzeugung einen schamlosen Verrat an dem durch 'Abdu'l-Bahá in mich gesetzten vertrauen und eine unverzeihliche Anmaßung der Autorität darstellen, die Ihm selbst verliehen worden ist.

Es sollte hier noch ein Wort über die Idee, auf der diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung gründet, und über den Grundsatz, der die Arbeitsweise ihrer Hauptinstitutionen beherrschen muß, gesagt werden. Völlig irreführend wäre es, einen Vergleich zwischen dieser einzigartigen, gottempfangenen Ordnung und irgendeinem der vielen Systeme zu versuchen, die der Menschengeist zu verschiedenen Zeiten der Geschichte für die Herrschaft menschlicher Institutionen ersonnen hat. Ein solcher Versuch verriete an und für sich schon einen Mangel an voller Wertschätzung für die Vortrefflichkeit des Werkes ihres großen Urhebers.

Wie könnte dem auch anders sein, wenn wir bedenken, daß diese Ordnung das wahre Muster jener göttlichen Zivilisation abgibt, die auf Erden zu errichten das allmächtige Gesetz Bahá'u'lláhs bestimmt ist. Die verschiedenen, sich ständig ändernden Systeme menschlicher Staatskunst, die gestrigen wie die heutigen, östlichen wie westlichen Ursprungs, bieten keinen geeigneten Vergleich dafür, die Macht ihrer verborgenen Wirkungsmöglichkeiten zu ermessen oder die Gediegenheit ihrer Grundlagen abzuschätzen.

#219

Das Bahá'í-Gemeinwesen der Zukunft, für das diese umfassende administrative Ordnung das alleinige Rahmenwerk bildet, steht sowohl der Theorie als auch der Praxis nach nicht nur einzig in der gesamten Geschichte der politischen Institutionen, sondern auch ohne Gegenstück in den Annalen aller anerkannten Religionssysteme der Welt da. Keine Form demokratischer Regierung, kein System autokratischer oder diktatorischer Art, sei es monarchisch oder republikanisch, kein Mischkonzept einer rein aristokratischen Ordnung und selbst keine der anerkannten Formen der Theokratie, sei es nun das hebräische Gemeinwesen, seien es die verschiedenen christlichen Kirchenorganisationen, das Imamat oder Kalifat im Islám - keines von ihnen kann mit der von der Meisterhand ihres vollendeten Architekten gebildeten administrativen Ordnung gleichgesetzt oder als mit ihr übereinstimmend bezeichnet werden.

Diese neugeborene Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung hat in ihrer Struktur gewisse Elemente vereinigt, die in jeder der drei anerkannten Arten weltlicher Herrschaftsform zu finden sind, ohne doch in irgendeiner Hinsicht eine bloße Wiederholung einer von ihnen zu sein und ohne in ihren Mechanismus irgendwelche der zu beanstandenden Kennzeichen einzuführen, die jenen angestammtermaßen eigen sind. Sie verschmilzt und bringt, wie keine von sterblicher Hand geformte Herrschaft es jemals vollbracht hat, die zweifellos in jedem dieser Systeme enthaltenen gesunden Bestandteile miteinander in Einklang, ohne die Reinheit jener gottgegebenen Wahrheiten, auf die sie sich letzten Endes gründet, zu verfälschen.

#220

Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung des Glaubens Bahá'u'lláhs darf insofern keineswegs als rein demokratisch angesehen werden, als die Grundvoraussetzung, die alle Demokratien in ihren Mandaten grundsätzlich vom Volk abhängen läßt, in dieser Sendung völlig fehlt. Bei der Handhabung der administrativen Angelegenheiten des Glaubens und bei der Gesetzgebung, die zur Ergänzung der Gesetze des Kitáb-i-Aqdas notwendig ist, sind die Mitglieder des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, wie wir im Auge behalten sollten, nach Bahá'u'lláhs klaren Worten nicht verantwortlich gegenüber jenen, die sie vertreten, noch ist ihnen gestattet, sich von den Gefühlen, der allgemeinen Meinung und selbst der Überzeugung der Menge der Gläubigen oder derer, durch die sie unmittelbar gewählt werden, beherrschen zu lassen. Sie müssen in Gebetshaltung den Befehlen und Eingebungen ihres Gewissens folgen. Sie dürfen, ja müssen sich mit den in der Gemeinde herrschenden Zuständen vertraut machen, müssen in ihrem Geiste leidenschaftslos die wesentlichen Gesichtspunkte an jedem Fall, der ihnen zur Beratung vorgelegt wird, abwägen, sich aber das Recht der freien Entscheidung vorbehalten. »Gott wird ihnen wahrlich eingeben, was immer Er will«, ist Bahá'u'lláhs unbestreitbare Versicherung. Damit sind sie, und nicht die Gesamtheit ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Wähler, zu Empfängern der göttlichen Führung gemacht, die für diese Offenbarung Herzblut und eigentlicher Schutz zugleich ist. Hinzu kommt, daß er, der in dieser Offenbarung das Erbprinzip versinnbildlicht, zum Ausleger der Worte ihres Urhebers gesetzt ist und damit kraft eben dieser ihm verliehenen Autorität aufhört, die Zentralgestalt zu sein, die unwandelbar mit den herrschenden Systemen der verfassungsmäßigen Monarchien verbunden ist.

#221

Die Bahá'í-Verwaltungsordnung kann auch keineswegs als ein schweres, starres System übersteigerter Autokratie oder als leere Nachahmung irgendeiner Form absolutistischer Kirchenherrschaft, sei es des Papsttums, des Imamats oder irgendeiner ähnlichen Einrichtung abgetan werden, und zwar aus dem einleuchtenden Grund, daß das Recht zur Gesetzgebung hinsichtlich aller Gegenstände, die nicht ausdrücklich in den Bahá'í-Schriften offenbart sind, ausschließlich den international gewählten Vertretern der Anhänger Bahá'u'lláhs verliehen ist. Weder der Hüter des Glaubens noch irgendeine Institution außerhalb des Internationalen Hauses der Gerechtigkeit kann je diese wichtige, wesentliche Gewalt an sich reißen oder dieses heilige Recht mißbrauchen. Die Aufhebung des berufsmäßigen Priestertums und der damit verbundenen Sakramente der Taufe, des Abendmahls und der Beichte, die Gesetze, welche die Einsetzung aller örtlichen, nationalen und internationalen Häuser der Gerechtigkeit durch allgemeine Wahl erfordern, das vollkommene Fehlen bischöflicher Autorität mit den sie begleitenden Privilegien, Entstellungen und verbeamtenden Tendenzen sind weitere Beweise für den nichtautokratischen Charakter der Bahá'í Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung und ihre Neigung zu demokratischen Methoden in der Verwaltung ihrer Angelegenheiten.

Diese mit dem Namen Bahá'u'lláhs gleichbedeutende Ordnung darf auch angesichts der Tatsache, daß sie einerseits den Erbgrundsatz wahrt und den Hüter des Glaubens mit der Pflicht zur Auslegung seiner Lehren betraut, andererseits die ihr oberstes gesetzgebendes Organ darstellende Körperschaft in freier und direkter Wahl aus der Menge der Gläubigen hervorgehen läßt, nicht mit irgendeiner rein aristokratischen Herrschaftsform vermengt werden.

#222

Während man von dieser Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung nicht sagen kann, daß sie irgendeinem der anerkannten Herrschaftssysteme nachgebildet sei, verkörpert, versöhnt und vereint sie doch in sich solche gesunden Bestandteile, wie wir sie in jedem einzelnen von ihnen finden können. Die erbliche Amtsgewalt, die der Hüter auszuüben berufen ist, die dem Universalen Haus der Gerechtigkeit obliegenden lebenswichtigen, wesentlichen Funktionen, die besonderen, seine demokratische Wahl durch die Vertreter der Gläubigen verlangenden Anordnungen, das alles verbindet sich miteinander, um die Wahrheit darzutun: daß diese göttlich offenbarte Ordnung, die mit keiner der von Aristoteles in seinen Werken beschriebenen Herrschaftsformen übereinstimmt, in ihren geistigen Grundwahrheiten die in jeder einzelnen von ihnen zu findenden wohltätigen Bestandteile verkörpert und verschmelzt.

Da in ihr die anerkanntermaßen jedem der genannten Systeme innewohnenden übel streng und dauerhaft ausgeschlossen sind, kann diese einzigartige Ordnung, wie lange sie auch währen und wie weit sie sich auch verzweigen mag, doch niemals zu irgendeiner Form von Despotismus, Oligarchie oder Demagogie entarten, die früher oder später das Laufwerk aller menschengeschaffenen und im Wesen mängelbehafteten politischen Einrichtungen verderben müssen.

Geliebte Freunde! Wie bedeutsam der Ursprung dieses mächtigen Verwaltungsbaues, wie einzigartig seine Merkmale auch sind, erscheinen doch die Ereignisse, von denen man sagen kann, daß sie sein Entstehen angekündigt und den ersten Abschnitt seiner Entwicklung ausgezeichnet haben, nicht weniger bemerkenswert. Wie auffallend, wie lehrreich ist der Gegensatz zwischen dem Vorgang allmählicher und stetiger Befestigung, der das Wachstum seiner jungen Kraft bezeichnet, und dem verheerenden Ansturm der auflösenden Mächte, welche die veralteten religiösen und weltlichen Einrichtungen der heutigen Gesellschaft überrennen!

#223

Die Lebenskraft, welche die organischen Institutionen dieser großen, sich ständig ausbreitenden Ordnung in so hohem Maße zeigen, die Hindernisse, die bereits durch den hohen Mut und die kühne Entschlossenheit ihrer Sachwalter überwunden sind, das Feuer einer mit unverminderter Glut in den Herzen ihrer Reiselehrer flammenden unauslöschlichen Begeisterung, die Höhen der Selbstaufopferung, die ihre Vorkämpfer erklimmen, die Weite des Blicks, die zuversichtliche Hoffnung, die schöpferische Freude, der innere Friede, die unbestechliche Lauterkeit, die vorbildliche Selbstzucht, die unauflösliche Einheit und Solidarität, die ihre mutigen Verfechter an den Tag legen, der Grad, in dem ihr beweglicher Geist sich fähig erwiesen hat, die immer vielfältigeren Elemente in ihren Reihen einander anzugleichen, sie von jeglicher Art von Vorurteil zu reinigen und mit ihrer eigenen Struktur zu verschmelzen, dies sind Beweise einer Macht, die zu übergehen sich eine enttäuschte, bejammernswert erschütterte Gesellschaft schwerlich leisten kann.

Man vergleiche die diesen lebendigen Körper des Glaubens Bahá'u'lláhs beseelenden strahlenden Offenbarungen des Geistes mit den Todesschreien und Todesnöten, den Torheiten und Nichtigkeiten, der Bitternis und den Vorurteilen, der Verderbnis und Gespaltenheit einer siechen, verworrenen Welt! Man erkenne die Angst, die ihre Führer peinigt und ihren blinden, verwirrten Staatsmännern die Tatkraft lähmt! Wie wild ist der Haß, wie falsch der Ehrgeiz, wie kleinlich das Trachten, wie tiefgewurzelt das Mißtrauen der Völker, wie beunruhigend die Gesetzlosigkeit, die Bestechlichkeit, der Unglaube, die sich ins Lebensmark einer wankenden Zivilisation hineinfressen!

#224

Muß nicht dieser Vorgang ständig fortschreitender Verschlimmerung, der so viele Bereiche menschlichen Tuns und Denkens tückisch anfällt, als notwendige Gegenbewegung zu diesem Vorgang des Anhebens des allmächtigen Arms Bahá'u'lláhs betrachtet werden? Müssen wir nicht in den folgenschweren Geschehnissen, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre jeden Teil der Erde so tief erschüttert haben, vorbedeutungsvolle Zeichen sehen, die zugleich die Todesqualen einer in Auflösung begriffenen Zivilisation und die Geburtswehen jener Weltordnung, jener Arche menschlichen Heils, verkünden, die sich notwendigerweise auf ihren Trümmern erheben muß?

Der katastrophale Sturz mächtiger König- und Kaiserreiche auf dem europäischen Erdteil, auf den in einigen Fällen Bahá'u'lláhs Prophezeiungen hindeuten, der Niedergang in den Geschicken der shí'itischen Geistlichkeit Seines Geburtslandes, der eingesetzt hat und noch fortwährt, der Sturz der Qájáren-Dynastie, des Erbfeindes Seines Glaubens, der Untergang des Sultanates und des Kalifates, jener tragenden Säulen des sunnitischen Islám, zudem die Zerstörung Jerusalems am Ende des ersten Jahrhunderts christlicher Zeit eine auffallende Parallele bietet, die Woge der Verweltlichung, welche die muhammadanischen Einrichtungen in Ägypten überflutet und daran ist, die Treue ihrer zuverlässigsten Anhänger zu untergraben, die demütigenden Schläge, die einige der mächtigsten Kirchen des Christentums in Rußland, Westeuropa und Mittelamerika getroffen haben, die Verbreitung jener umstürzlerischen Lehren, welche die Grundlagen der scheinbar uneinnehmbaren Festungen im politischen und sozialen Bereich menschlicher Tätigkeiten untergraben und ihr Gebäude umwerfen, die Anzeichen einer bevorstehenden, auffallend an den Verfall des Römischen Reiches im Abendland erinnernden Katastrophe, die das ganze Gefüge der heutigen Zivilisation hinwegzufegen droht, - dies alles zeugt für die Unruhe, mit welcher die Entstehung dieses machtvollen Organs der Religion Bahá'u'lláhs die Welt erfüllt hat, eine Unruhe, die an Ausdehnung und Stärke in dem Maße zunehmen wird, in dem die Tragweite dieser sich ständig mehr entfaltenden Ordnung voll begriffen wird und ihre Verzweigungen sich noch mehr über die Oberfläche des Erdballs breiten.

#225

Noch ein Wort zum Schluß: Aufstieg und Aufbau dieser Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, der Schale, die eine solche Kostbarkeit birgt und hütet, stellen das Kennzeichen dieses zweiten, des gestaltgebenden Abschnitts des Bahá'í-Zeitalters, dar. In dem Maße, wie dieser Zeitabschnitt vor unseren Blicken zurücktritt, wird er als die Haupttriebkraft angesehen werden, ausgestattet mit der Macht, die letzte Phase der Erfüllung dieser ruhmreichen Sendung einzuleiten.

Niemand möge, solange dieses System noch in seinen Kinderschuhen steckt, seinen Charakter mißverstehen, seine Bedeutung schmälern oder sein Ziel mißdeuten. Der Felsgrund, auf dem diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung ruht, ist Gottes unwandelbarer Plan für die Menschheit unserer Zeit. Der Quell, aus dem sie ihre Eingebung empfängt, ist kein Geringerer als Bahá'u'lláh selbst. Schild und Schirm ist ihr die Menge der Heerscharen des Reiches Abhá. Ihre Saat ist das Blut von nicht weniger als zwanzigtausend Märtyrern, die ihr Leben opferten, damit sie wachse und gedeihe. Die Achse, um die sich ihre Institutionen drehen, sind die authentischen Vorkehrungen des Willens und Testaments 'Abdu'l-Bahás. Ihre Leitsätze sind die Wahrheiten, die Er, der unfehlbare Ausleger der Lehren unseres Glaubens, so deutlich in Seinen öffentlichen Ansprachen im Abendland verkündet hat. Die Gesetze, die ihre Tätigkeit beherrschen und ihren Aufgabenkreis umgrenzen, sind jene, die ausdrücklich im Kitáb-i-Aqdas verordnet sind. Die Stätte, an der sich ihre geistigen, menschendienlichen und amtlichen Unternehmungen bündeln, sind der Mashriqu'l-Adhkár und seine Nebeneinrichtungen. Die Säulen, die ihre Amtsgewalt tragen und ihr Gefüge stützen, sind die Zwillingsinstitutionen des Hütertums und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Das Hauptziel, der allem zugrundeliegende Zweck, der sie beseelt, ist der Aufbau der neuen Weltordnung, wie Bahá'u'lláh sie entworfen hat. Die Methoden, die sie anwendet, die Maßstäbe, die sie anlegt, neigen weder zum Osten noch zum Westen, weder zu den Juden noch zu den Heiden, weder zu den Reichen noch zu den Armen, weder zu den Weißen noch zu den Farbigen. Ihr Losungswort ist die Vereinigung des Menschengeschlechts, ihr Banner der »Größte Friede«, ihre Vollendung der Anbruch jenes Goldenen Zeitalters, des Tages, da die Reiche dieser Welt zum Reiche Gottes, welches das Reich Bahá'u'lláhs ist, geworden sind.

Shoghi

Haifa, Palästina 8. Februar 1934









#229
7
Die Entfaltung der Weltkultur

An die Geliebten Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen überall im Westen

+7:1
Freunde und Miterben der Gnade Bahá'u'lláhs!

Als Ihr Teilhaber am Aufbau der Neuen Weltordnung, die der Geist Bahá'u'lláhs erschaut und deren Wesenszüge die Feder 'Abdu'l-Bahás, ihres vollendeten Baumeisters, gezeichnet hat, halte ich inne, um mit Ihnen die Szene zu betrachten, die sich nach Ablauf von fast fünfzehn Jahren seit 'Abdu'l-Bahás Hinscheiden vor uns ausbreitet.

Ebenso deutlich wie fesselnd ist der Gegensatz zwischen den sich häufenden Beweisen stetiger Festigung, wie sie den Aufschwung der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung des Gottesglaubens begleiten, und den Kräften der Zersetzung, die gegen das Gefüge einer in Geburtswehen liegenden Gesellschaft anprallen. Innerhalb wie außerhalb der Bahá'í-Welt mehren, ja vervielfachen sich Tag für Tag die Zeichen und Merkmale, die in geheimnisvoller Weise die Geburt jener Weltordnung ankünden, deren Errichtung das Goldene Zeitalter der Sache Gottes auszeichnen muß. Kein unparteiischer Betrachter kann sie länger übersehen. Ein solcher läßt sich weder durch die schmerzhafte Trägheit täuschen, mit der sich die Kultur, die zu begründen die Anhänger Bahá'u'lláhs sich mühen, entfaltet, noch läßt er sich durch die kurzlebigen Äußerungen wiedergekehrten Wohlstandes verleiten, die zuweilen in der Lage scheinen, dem zerstörerischen Einfluß chronischer Übel auf die Institutionen eines niedergehenden Zeitalters Einhalt zu bieten. Zu zahlreich, zu zwingend sind die Zeichen der Zeit, als daß sie ihm verstatteten, ihre Wesensart mißzuverstehen oder ihre Bedeutung zu unterschätzen. Wenn der Beobachter gerecht in seinem Urteil bleiben will, kann er in der Kette von Ereignissen, die einerseits vom unaufhaltsamen Vormarsch jener Institutionen künden, welche unmittelbar mit der Offenbarung Bahá'u'lláhs verknüpft sind, andererseits den Niedergang jener Mächte und Fürstlichkeiten anzeigen, die diese Offenbarung entweder nicht beachtet oder sich ihr entgegengestellt haben, Beweise für das Wirken des alldurchdringenden Willens Gottes, für die Gestaltung Seines vortrefflich geordneten, weltumspannenden Planes erkennen.

#230

»Bald«, so verkünden es Bahá'u'lláhs eigene Worte, »wird die Ordnung des heutigen Tages aufgerollt und eine neue an ihrer Statt verbreitet werden. Wahrlich, dein Herr spricht die Wahrheit, und Er weiß um das Ungeschaute.« »Bei Meinem Selbst!« erklärt Er feierlich, »der Tag naht, da Wir die Welt und alles, was darinnen ist, aufgerollt und eine neue Ordnung am ihrer Statt verbreitet haben werden. Er ist, wahrlich, mächtig über alle Dinge.« »Die Welt«, erläutert Er, »ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser größten, dieser neuen Weltordnung. Das geregelte Leben der Menschheit ist aufgewühlt durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems, desgleichen kein sterblich es Auge je gesehen hat.« »Die Zeichen drohender Erschütterungen und des Chaos«, so warnt Er die Völker der Welt, »sind jetzt deutlich zu sehen, zumal die herrschende Ordnung erbärmlich mangelhaft erscheint.«

#231

Innig geliebte Freunde! Diese neue Weltordnung, deren Verheißung in der Offenbarung Bahá'u'lláhs verankert ist, deren Hauptgrundsätze in den Schriften des Mittelpunktes Seines Bündnisses aufgestellt sind, bringt nicht weniger als die völlige Einigung des ganzen Menschengeschlechts mit sich. Diese Einigung muß sich nach solchen Grundsätzen richten, wie sie unmittelbar mit dem Geist übereinstimmen, der jene Institutionen beseelt, welche die Grundstruktur der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung Seines Glaubens bilden, ebenso mit den Gesetzen, welche die Tätigkeit dieser Institutionen steuern.

Kein Apparat, der hinter dem Maßstab der Bahá'í-Offenbarung zurückbleibt und dem erhabenen Modell der Lehren Bahá'u'lláhs widerspricht, sei er durch die vereinten Bemühungen der Menschheit auch noch so gut ausgeklügelt, kann je hoffen, irgend etwas über jenen »Geringeren Frieden« hinaus zu vollbringen, auf den der Begründer unseres Glaubens in Seinen Schriften selbst angespielt hat. »Jetzt, da ihr den Größten Frieden abgelehnt habt«, schrieb Er zur Ermahnung der Könige und Herrscher der Erde, »haltet euch an diesen, den Geringeren Frieden, damit ihr eure eigene Lage und die eurer Untertanen einigermaßen bessern möget.« Im selben Sendschreiben spricht Er eingehender über diesen Geringeren Frieden und wendet sich wie folgt an die Herrscher der Erde: »Versöhnt euch, so daß ihr nicht mehr Kriegsrüstungen brauchet, als in dem Maße, um eure Länder und Herrschaften zu schützen ... Seid vereinigt, o Könige der Erde, denn dadurch wird der Sturm der Zwietracht unter euch gestillt, und eure Völker werden Ruhe finden - so ihr zu denen gehöret, die verständig sind. Sollte einer von euch die Waffen gegen einen anderen ergreifen, so erhebt euch alle gegen ihn; denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.«

#232

Der Größte Friede andererseits, wie ihn Bahá'u'lláh versteht - ein Friede, der sich unausweichlich als praktische Folge aus der Vergeistigung der Welt und der Verschmelzung aller ihrer Rassen, Bekenntnisse, Klassen und Nationen ergibt -, kann auf keine andere Grundlage gestellt und durch keine andere Wirkkraft bewahrt werden als die gottgegebenen Satzungen, die in der mit Seinem heiligen Namen verbundenen Weltordnung inbegriffen sind, in Seinem vor fast siebzig Jahren der Königin Victoria offenbarten Sendschreiben erklärt Bahá'u'lláh, auf diesen Größten Frieden anspielend: »Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt verordnet hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Dies kann auf keine andere Weise erreicht werden als durch die Macht eines befähigten, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, dies ist die Wahrheit, und alles andere ist nichts als Irrtum... Denke nach über diese Tage, in denen die Altehrwürdige Schönheit, Er, welcher der Größte Name ist, herniedergesandt ward, die Menschheit wiederzubeleben und zu vereinen. Sieh, wie sie sich mit gezückten Schwertern gegen Ihn erhoben und begingen, was den Geist des Glaubens zittern ließ. Und wann immer Wir ihnen sagten: `Sehet, der Welterneuerer ist gekommen`, erwiderten sie: `Er ist wahrlich der Unheilstifter einer.`« »Es geziemt allen Menschen an diesem Tag«, versichert Er in einem anderen Sendschreiben, »sich fest an den Größten Namen zu halten und die Einheit der ganzen Menschheit aufzurichten. Es gibt keine Stätte, wohin einer fliehen kann, keine Zuflucht, die jemand suchen kann außer Ihm.«



+7:2 #233
Die Menschheit wird mündig

Die Offenbarung Bahá'u'lláhs, deren höchstes Ziel es ist, diese organische, geistige Einheit aller Nationen in ihrer Gesamtheit zu vollenden, muß, wenn wir zu ihren selbstverständlichen Folgerungen stehen, als Signal für den Eintritt des gesamten Menschengeschlechts in den Zustand der Mündigkeit betrachtet werden. Sie darf nicht nur als eine weitere geistige Erneuerung in den allzeit wechselnden Geschicken der Menschheit angesehen werden, nicht nur als ein weiteres Glied in einer Kette fortschreitender Offenbarungen, selbst nicht nur als der Gipfelpunkt in einer Stufenfolge wiederholter prophetischer Zyklen. Vielmehr bezeichnet die Offenbarung Bahá'u'lláhs die letzte, höchste Stufe in der atemberaubenden Entwicklung des menschlichen Gesellschaftslebens auf diesem Planeten. Das Hervortreten einer Weltgemeinschaft, das Bewußtsein des Weltbürgertums, die Begründung einer Weltzivilisation und Weltkultur - Strukturen, die allesamt mit den Anfangsstadien in der Entfaltung des Goldenen Zeitalters der Bahá'í-Ära zusammenfallen müssen - sollten ihrer wahren Natur nach, was dieses planetarische Leben anbelangt, als die äußersten Grenzen für die Organisation der menschlichen Gesellschaft angesehen werden, wenngleich der Mensch als Einzelwesen im Ergebnis dieser Vollendung unbegrenzt weiter fortschreiten, sich weiter entwickeln wird und muß.

Die geheimnisvolle, allesdurchdringende und doch letztlich unbestimmbare Wandlung, die wir im Leben des Einzelwesens und in der Entwicklung der Frucht als Reifezustand bezeichnen, muß, wenn wir Bahá'u'lláhs Äußerungen richtig begreifen, in der organisatorischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ihr Gegenstück haben. Früher oder später muß ein ähnlicher Reifezustand im Gemeinschaftsleben der Menschheit eintreten, ein noch eindrucksvolleres Erscheinungsbild in den weltweiten Verhältnissen hervorbringen und das ganze Menschengeschlecht mit solchen Möglichkeiten der Wohlfahrt ausstatten, wie sie während der nachfolgenden Zeitalter den für die letztliche Erfüllung ihrer hohen Bestimmung notwendigen Antrieb bilden. Ein solcher Reifezustand im Ablauf menschlicher Regierungsgeschäfte muß, wenn wir den herausfordernden Anspruch Bahá'u'lláhs richtig erkennen, für alle Zeiten mit der Offenbarung, deren Träger Er war, gleichgesetzt werden.

#234

An einer besonders charakteristischen Stelle Seines Offenbarungswerkes bezeugt Er in unmißverständlicher Sprache die Wahrheit dieses hervorstechenden Grundzuges im Bahá'í-Glauben: »Es ist von Uns verordnet worden, daß das Wort Gottes und alle seine Möglichkeiten in genauer Übereinstimmung mit solchen Verhältnissen offenbart werden sollen, wie sie von Ihm, dem Allwissenden, dem Allweisen, vorherbestimmt worden sind ... Würde es zugelassen, daß das Wort plötzlich alle ihm innewohnenden Kräfte entfesselt, könnte kein Mensch die Wucht einer so mächtigen Offenbarung ertragen ... Erwäge, was Muhammad, dem Gesandten Gottes, herabgesandt worden ist. Das Maß der Offenbarung, deren Träger Er war, ist zuvor von Ihm, dem Allmächtigen, dem Allmachtvollen, deutlich bestimmt worden. Jene, die Ihn hörten, konnten jedoch Seine Absicht nur bis zu dem Grade ihrer Stufe und geistigen Aufnahmefähigkeit begreifen. So entschleierte Er das Antlitz der Weisheit nach Maßgabe ihrer Fähigkeit, die Last Seiner Botschaft zu tragen. Kaum aber hatte die Menschheit die Stufe der Reife erreicht, da enthüllte das Wort vor den Augen der Menschen die verborgenen Energien, mit denen es ausgestattet ist - Energien, die sich in der Fülle ihrer Herrlichkeit offenbarten, als im Jahre sechzig (1844 n.Chr.) die Altehrwürdige Schönheit in der Person 'Alí-Muhammads, des Báb, erschien.«

#235

'Abdu'l-Bahá erläutert diese Grundwahrheit und schreibt: »Alles Erschaffene hat seinen Grad oder seine Stufe der Reife. Der Reifezustand im Leben eines Baumes ist die Zeit, da er Früchte trägt ... Das Tier erreicht eine Stufe des vollen Wachstums und der Vollständigkeit, und im Menschenreich gelangt der Mensch zur Reife, wenn das Licht seines Verstandes die höchste Macht und Entwicklung erreicht ... Ähnlich gibt es Abschnitte und Stufen im Gesellschaftsleben der Menschheit. Einmal durchwanderte sie ihre Kindheit, späterhin ihre Jugendzeit, aber jetzt ist sie in ihre lange verheißene Reifezeit eingetreten, deren Beweise überall offenkundig sind ... Was den menschlichen Bedürfnissen in der Frühgeschichte unseres Geschlechts angemessen war, ist weder passend noch genügend für die Erfordernisse des heutigen Tages, dieser Zeit des Neuen und der Vollendung. Die Menschheit hat sich aus ihrem früheren Zustand der Begrenztheit und der Vorerziehung erhoben. Jetzt muß der Mensch mit neuen Tugenden und Kräften, mit neuen sittlichen Maßstäben, mit neuen Fähigkeiten erfüllt werden. Neue Wohltaten, vollkommene Gaben, warten auf ihn und senken sich schon auf ihn herab. Die Gaben und Segnungen der Jugendzeit, wenngleich sie während des Heranwachsens der Menschheit paßten und genügten, sind nunmehr außerstande, den Erfordernissen ihrer Reifezeit zu entsprechen.«



+7:3 #236
Der Vorgang der Einswerdung

Eine derart einmalige, bedeutsame Krise im Leben der organisierten Menschheit kann überdies mit dem Höhepunkt in der politischen Entwicklung der großen amerikanischen Republik verglichen werden - einem Stadium, das durch die Bildung einer vereinten Gemeinschaft verbundener Staaten gekennzeichnet war. Ein neues Nationalbewußtsein regte sich, ein neuer Kulturtypus war geboren, unendlich reicher und edler als irgendeiner, den die völkischen Bestandteile dieser neuen Nation, jeder für sich, hätten zu erreichen hoffen können. Auf solche Weise, kann man sagen, ist die Mündigkeit des amerikanischen Volkes verkündet worden. innerhalb der gebietsmäßigen Grenzen dieser Nation ist jene Vollendung als der Höhepunkt in der Entwicklung menschlicher Regierung zu betrachten. Die mannigfachen, nur lose verbundenen Teile einer getrennten Gemeinschaft wurden zusammengebracht, vereint und zu einem ganzheitlichen System verschmolzen. Auch wenn diese Ganzheit weiter wachsende innere Anziehungskraft gewinnen kann, auch wenn die vollzogene Einheit weiter gefestigt werden mag, auch wenn die Kultur, die nur aus dieser Einheit geboren werden konnte, sich ausbreiten und blühen mag, läßt sich doch sagen, daß der für diese Entfaltung lebenswichtige Apparat damals aufgebaut und der für ihre Steuerung und Erhaltung notwendige Anstoß damals vermittelt worden ist. Über diese Vollendung der nationalen Einheit hinaus ist in den geographischen Grenzen jener Nation keine weitere Entwicklungsstufe vorstellbar, wenngleich die höchste Bestimmung ihres Volkes als Bestandteil einer noch größeren, die ganze Menschheit umfassenden Ganzheit noch unerfüllt bleibt. Betrachtet man jene Nation als gesonderte Einheit, dann läßt sich sagen, daß dieser Vorgang der Einswerdung seine höchste, endgültige Vollendung erreicht hat.

#237

Das ist auch die Stufe, der sich eine in der Entwicklung befindliche Menschheit gemeinsam nähert. Die Offenbarung, die der Allmächtige Gebieter Bahá'u'lláh anvertraut hat, ist nach dem festen Glauben Seiner Anhänger mit Möglichkeiten ausgestattet, wie sie der Reife des Menschengeschlechts, der krönenden, folgenschwersten Etappe zwischen seiner Kindheit und seiner Mannhaftigkeit, angemessen sind.

Die aufeinanderfolgenden Begründer aller vergangenen Religionen, die seit unvordenklichen Zeiten mit wachsender Stärke den Glanz einer gemeinsamen Offenbarung auf die verschiedenen Stufen des Fortschritts der Menschheit zu ihrer Reife hin ergossen haben, mögen daher in gewissem Sinn als vorläufige Manifestationen Gottes, als Vorboten und Wegbereiter für das Kommen jenes Tages der Tage betrachtet werden, da die ganze Erde Frucht tragen und der Baum der Menschheit seine vorbestimmte Ernte bringen wird.

So unbestreitbar diese Wahrheit ist, darf ihr herausfordernder Charakter doch nie die Absicht verdunkeln oder den Grundsatz verdrehen, der allen Äußerungen Bahá'u'lláhs zugrunde liegt, Äußerungen, die für alle Zeiten die völlige Einheit aller Propheten Gottes, Ihn selbst einbegriffen, in der Vergangenheit wie in der Zukunft, begründen. Obwohl die Sendung der Bahá'u'lláh vorangegangenen Propheten in dem erwähnten Lichte gesehen werden kann, obwohl das jedem von ihnen anvertraute Maß göttlicher Offenbarung im Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses notwendig unterschiedlich ist, dürfen ihr gemeinsamer Ursprung, ihre Wesenseinheit, ihre gleiche Absicht zu keiner Zeit und unter keinen Umständen mißverstanden oder geleugnet werden. Daß alle Gottgesandten so zu sehen sind, daß sie »im gleichen Heiligtum wohnen, im gleichen Himmel schweben, auf dem gleichen Throne sitzen, die gleiche Rede führen und den gleichen Glauben verkünden«, muß die unabänderliche Grundlage, der Hauptlehrsatz des Bahá'í-Glaubens bleiben, wie sehr wir auch das Maß göttlicher Offenbarung preisen, das der Menschheit auf dieser krönenden Stufe ihrer Entwicklung gewährt worden ist. Unterschiede in dem Strahlenglanz, den jede dieser Manifestationen des göttlichen Lichtes über die Welt ergossen hat, sollten nicht einer innewohnenden Überlegenheit zugeschrieben werden, mit der die eine oder andere von ihnen wesenhaft ausgestattet worden wäre, sondern vielmehr der fortschreitenden Fassungskraft, der stetig wachsenden geistigen Empfänglichkeit, die das Menschengeschlecht auf seinem Fortschritt zur Reife unabänderlich an den Tag gelegt hat.



+7:4 #238
Die letzte Vollendung

Nur wer willens ist, die Offenbarung Bahá'u'lláhs mit der Vollendung einer so gewaltigen Entwicklung im Gemeinschaftsleben des ganzen Menschengeschlechts in Verbindung zu bringen, kann die Bedeutung jener Worte begreifen, die Er als passend für eine Anspielung auf die Herrlichkeit dieses verheißenen Tages und auf die Dauer des Bahá'í-Zeitalters erachtet hat. »Dies ist der König der Tage«, ruft Er aus, »der Tag, welcher den Heißgeliebten hat kommen sehen, Ihn, nach dem die Sehnsucht der Welt seit aller Ewigkeit gegangen.« »Die Heiligen Schriften früherer Sendungen«, versichert Er weiter, »feiern das große Jubelfest, das diesen größten Tag Gottes begrüßen muß. Wohl steht es um den, der diesen Tag erlebt und schaut und seine Stufe erkennt.« »Es ist klar«, erläutert Er an anderer Stelle, »daß jedes Zeitalter, in dem eine Manifestation Gottes gelebt hat, göttlich verordnet ist und in gewissem Sinn als Gottes festgesetzter Tag bezeichnet werden kann. Dieser Tag jedoch ist einzigartig und muß von den vorausgegangenen unterschieden werden. Die Bezeichnung `Siegel der Propheten` enthüllt seine hohe Stufe völlig. Der prophetische Zyklus ist wahrlich beendet. Er, der die Ewige Wahrheit ist, ist jetzt gekommen. Er hat das Banner der Macht gehißt und ergießt nunmehr auf die Welt den unumwölkten Glanz Seiner Offenbarung.« »In dieser mächtigsten Offenbarung«, erklärt Er in kategorischer Sprache, »haben alle Sendungen der Vergangenheit ihre höchste, ihre letzte Vollendung erlangt. Was in dieser überragenden, dieser erhabensten Offenbarung kundgemacht worden ist, steht ohne Beispiel in den Annalen der Vergangenheit da, noch werden künftige Zeitalter Gleichartiges schauen.«

#239

'Abdu'l-Bahás verbürgte Erklärungen sollten gleichfalls ins Gedächtnis gerufen werden, da sie nicht weniger nachdrücklich die beispiellose Unermeßlichkeit der Sendung Bahá'u'lláhs bestätigen. »Jahrhunderte«, bekräftigt Er in einem Seiner Sendschreiben, »nein, ungezählte Zeitalter müssen vergehen, ehe das Tagesgestirn der Wahrheit wieder in seiner hochsommerlichen Pracht erstrahlt oder aufs neue im Glanze frühlingsfrischer Herrlichkeit scheint ... Allein die innere Schau der Sendung, die von der Gesegneten Schönheit eingeleitet wurde, konnte genügen, die Heiligen vergangener Zeitalter zu verzücken - Heilige, die sich danach sehnten, auch nur für einen Augenblick an seiner großen Herrlichkeit teilzuhaben.« »Was jene Manifestationen angeht, die zukünftig `in den Schatten der Wolken` herniederkommen werden«, bestätigt Er in noch deutlicherer Sprache, »so wisse wahrlich, daß sie in ihrer Beziehung zur Quelle ihrer Eingebung unter dem Schatten der Altehrwürdigen Schönheit stehen. Jedoch in ihrer Beziehung zu dem Zeitalter, in dem sie erscheinen, tut jeder von ihnen, `was immer Er will.`« »Diese heilige Sendung«, erläutert Er mit Blick auf die Offenbarung Bahá'u'lláhs»,ist vom Lichte der Sonne der Wahrheit erleuchtet, wie sie von ihrer erhabensten Stufe, in der Fülle ihres Glanzes, ihrer Glut und ihrer Herrlichkeit strahlt.«



+7:5 #240
Todesqualen und Geburtswehen

Innig geliebte Freunde! Obgleich die Offenbarung Bahá'u'lláhs geschehen ist, ist doch die Weltordnung, die eine solche Offenbarung zeugen muß, noch ungeboren. Obgleich das heroische Zeitalter Seines Glaubens vergangen ist, sind die schöpferischen Kräfte, die jenes Zeitalter entfesselt hat, noch nicht in derjenigen Weltgesellschaft auskristallisiert, die in der Fülle der Zeit den Glanz Seiner Herrlichkeit widerspiegeln soll. Obgleich das Rahmenwerk Seiner Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung errichtet ist, obgleich der gestaltgebende Abschnitt des Bahá'í-Zeitalters begonnen hat, ist doch das verheißene Reich Gottes, zu dem die Saat Seiner Institutionen heranreift, noch nicht ausgerufen. Obgleich Er Seine Stimme erhoben hat, obgleich die Zeichen Seines Glaubens in nicht weniger als vierzig Ländern des Ostens wie des Westens aufgerichtet worden sind, ist doch die Ganzheit des Menschengeschlechts noch nicht anerkannt, seine Einheit noch nicht verkündet, das Banner des Größten Friedens noch nicht gehißt.

»Die Höhen«, bezeugt Bahá'u'lláh selbst, »die durch Gottes huldvollste Gnade der sterbliche Mensch an diesem Tag erreichen kann, sind seinem Blick bis jetzt verborgen. Noch nie hat die Welt des Seins die Fassungskraft für eine solche Offenbarung besessen und besitzt sie auch heute nicht. Der Tag naht jedoch heran, da die Möglichkeiten einer so großen Gunst kraft Seines Geheißes den Menschen offenbart werden.«

#241

Für die Offenbarung einer so großen Gunst scheint eine Übergangszeit schlimmer Unruhen und weitverbreiteter Leiden unausweichlich. So glänzend das Zeitalter war, das den Beginn der Bahá'u'lláh anvertrauten Sendung miterlebte, wird doch in wachsendem Maße offenkundig, darf die Zeitspanne, die zu verstreichen hat, ehe jenes Zeitalter seine köstlichste Frucht trägt, von sittlicher und gesellschaftspolitischer Finsternis überschattet sein muß, weil nur so eine unbußfertige Menschheit auf das reiche Erbe vorbereitet wird, das sie antreten soll.

In eine solche Übergangszeit gleiten wir jetzt stetig und unwiderstehlich hinein. Inmitten der Schatten, die sich immer dichter um uns scharen, können wir am Horizont der Weltgeschichte schwach den ersten Schimmer von Bahá'u'lláhs überirdischer Herrschaft erkennen. Uns fällt als »Generation des Zwielichts«, deren Lebenstage als die Brutzeit des von Bahá'u'lláh vorhergeschauten Weltgemeinwesens bezeichnet werden können, eine Aufgabe zu, deren hohes Vorrecht wir niemals hinreichend würdigen können und deren Mühsal wir bis jetzt erst in Umrissen wahrnehmen. Berufen, das Wirken dunkler Mächte, welche eine Flut lähmender Heimsuchungen auszulösen bestimmt sind, am eigenen Leibe zu erfahren, können wir wohl glauben, daß die finsterste Stunde, die dem Anbruch des Goldenen Zeitalters unseres Glaubens vorangehen muß, noch nicht geschlagen hat. So undurchdringlich das Düster ist, das die Welt bereits umgibt, ist doch das Gottesgericht, das diese Welt erwartet, erst in Vorbereitung, und keiner kann sich bereits vorstellen, wie finster es werden wird. Wir stehen an der Schwelle eines Zeitalters, dessen Zuckungen zugleich die Todesqualen der alten Ordnung und die Geburtswehen der neuen künden. Durch den zeugenden Einfluß des von Bahá'u'lláh gestifteten Glaubens ist, so kann man sagen, diese neue Weltordnung empfangen worden. Wir können gegenwärtig ihre Bewegungen im Mutterleib eines kreißenden Zeitalters wahrnehmen - eines Zeitalters, das auf die festgesetzte Stunde wartet, in der es seine Last abwerfen und seine schönste Frucht erbringen kann.

#242

»Die ganze Erde«, schreibt Bahá'u'lláh, »ist jetzt in einem Zustand der Trächtigkeit. Der Tag naht heran, da sie ihre edelsten Früchte zeitigt, da ihr die stattlichsten Bäume, die köstlichsten Blüten, die himmlischsten Segnungen entsprießen. Unermeßlich erhaben ist der Hauch, der dem Gewande deines Herrn, des Gepriesenen, entströmt. Denn siehe, Sein Duft ist verbreitet und macht alle Dinge neu. Wohl dem, der begreift.« »Die brausenden Winde der göttlichen Gnade«, verkündet Er in der Súratu'l-Haykal, »sind über alle Dinge gekommen. Jedes Geschöpf ist mit all den Möglichkeiten, die es tragen kann, ausgestattet worden. Und doch haben die Völker der Welt diese Gnade abgelehnt! Jeder Baum ist mit den erlesensten Früchten begabt, jedes Meer mit den leuchtendsten Edelsteinen bereichert worden. Der Mensch selbst wurde mit den Gaben des Verständnisses und der Erkenntnis belehnt. Die ganze Schöpfung ist zur Empfängerin geworden für die Offenbarung des Allbarmherzigen, und die Erde zur Schatzkammer für solche Dinge, die unerforschlich sind für alle außer Gott, der Wahrheit, dem Wissenden um das Ungeschaute. Die Zeit naht, da alles Erschaffene seine Last abwirft. Verherrlicht sei Gott, der Verleiher dieser Gnade, die alles umfaßt, das Sichtbare wie das Unsichtbare!«

»Als der Ruf Gottes erhoben ward«, so hat 'Abdu'l-Bahá geschrieben, »hauchte er dem Körper der Menschheit neues Leben ein und goß einen neuen Geist in die ganze Schöpfung. Aus diesem Grunde ist die Welt bis in ihre Tiefen bewegt, Herz und Gewissen der Menschen sind erfrischt. Binnen kurzem werden die Zeichen dieser Wiedergeburt offenbar, die tief Schlafenden werden erweckt.«



+7:6 #243
Umfassende Gärung

Wenn wir die Welt um uns betrachten, können wir nicht umhin, die mannigfachen Beweise der umfassenden Gärung wahrzunehmen, welche die Menschheit in jedem Teil des Erdballs und auf jedem Gebiet des menschlichen Lebens im Vorgefühl des Tages, an dem die Ganzheit des Menschengeschlechts anerkannt und ihre Einheit begründet sein wird, läutert und neu gestaltet. Ein zweifacher Vorgang läßt sich hier jedoch unterscheiden, wobei jeder dieser beiden Prozesse auf seine eigene Weise und mit wachsender Schwungkraft darauf angelegt ist, jene Mächte, die das Antlitz unseres Planeten umgestalten, zum Höhepunkt zu führen. Der erste Vorgang ist dem Wesen nach ein Integrationsprozeß, während der zweite von Grund auf zersetzend ist. Im Zuge seiner stetigen Entwicklung entfaltet der erste Prozeß ein System, das recht wohl als Modell jenes Weltgemeinwesens dienen kann, zu dem eine seltsam in Unordnung geratene Welt beständig fortschreitet. Demgegenüber führt der zweite Prozeß in dem Maße, wie sein zersetzender Einfluß sich vertieft, zu einem immer gewaltsameren Niederreißen der veralteten Schranken, die den Fortschritt der Menschheit zu ihrem vorbestimmten Ziel zu hemmen drohen. Der aufbauende Prozeß ist verknüpft mit dem jugendlichen Glauben Bahá'u'lláhs; er ist der Vorbote der neuen Weltordnung, die dieser Glaube bald errichten muß. Die zerstörerischen Mächte, die den anderen Vorgang kennzeichnen, sollten mit einer Zivilisation gleichgesetzt werden, die ihre Antwort auf die Erwartung eines neuen Zeitalters verweigert hat und demzufolge in Chaos und Niedergang verfällt.

#244

Ein titanischer, ein geistiger Kampf, noch nie dagewesen in solchen Ausmaßen und doch unaussprechlich herrlich in seinen letzten Folgen, wird im Ergebnis dieser gegensätzlichen Bestrebungen während der heutigen Übergangszeit, die von der organisierten Gemeinschaft der Anhänger Bahá'u'lláhs und von der Menschheit als Ganzem durchschritten werden muß, geführt.

Der in den Institutionen eines aufsteigenden Glaubens verkörperte Geist stieß auf seinem Vormarsch zur Erlösung der Welt auf Mächte, die ihn bekriegen und größtenteils seine genaue Verneinung sind. Der Fortbestand dieser Mächte muß ihn unausweichlich hindern, sein Ziel zu erreichen. Sinnentleerte, abgetragene Institutionen, veraltende Lehren und Bekenntnisse, abgenutzte, unglaubwürdig gewordene Überlieferungen, wie jene Mächte sie vertreten, sind in gewissen Fällen - und das muß bemerkt werden - infolge ihrer Altersschwäche, ihres Verlusts an innerem Zusammenhalt und der ihnen eigentümlichen Verdorbenheit völlig untergraben. Einzelne dieser Mächte sind von den anstürmenden Gewalten, die der Bahá'í-Glaube zur Stunde seiner Geburt auf so geheimnisvolle Weise entfesselt hat, hinweggefegt worden, Andere sind als unmittelbare Folge eines vergeblichen, schwächlichen Widerstands gegen den Aufstieg dieses Glaubens während der frühen Abschnitte seiner Entwicklung ausgestorben und völlig in Mißkredit geraten. Wieder andere hatten aus Furcht vor dem durchdringenden Einfluß der Institutionen, in denen sich eben jener Geist späterhin verkörpern sollte, alle Kräfte gesammelt und ihren Angriff vorangetragen, nur um nach kurzem, trügerischem Erfolg eine schimpfliche Niederlage zu erleiden.



+7:7 #245
Unsere Zeit des Übergangs

Es ist nicht meine Absicht, die nachfolgenden geistigen Kämpfe in Erinnerung zu rufen oder gar im einzelnen genau zu untersuchen, noch will ich die Siege aufzählen, die dem Glauben Bahá'u'lláhs seit dem Tage seiner Begründung zum Ruhm gereichten. Die Hauptsache sind mir nicht jene Geschehnisse, die das erste, das apostolische Zeitalter der Bahá'í-Sendung ausgezeichnet haben, sondern viel eher die herausragenden Ereignisse und Strömungen, die den gestaltgebenden Abschnitt ihrer Entwicklung, unsere Zeit des Übergangs, kennzeichnen - eine Zeit, deren Trübsale Vorboten sind für jene Ära der Wonne und der Glückseligkeit, die Gottes letztes Ziel für die ganze Menschheit verkörpert.

Auf den katastrophalen Zusammenbruch mächtiger Königtümer und Kaiserreiche am Vorabend des Hinscheidens 'Abdu'l-Bahás, dessen Heimgang als Beginn der Eröffnungsphase unserer Zeit des Übergangs angesprochen werden kann, habe ich in einer früheren Mitteilung kurz angespielt. Die Auflösung des deutschen Kaiserreiches, die demütigende Niederlage, die seinem Herrscher zugefügt wurde, dem Nachfolger und geradlinigen Abkommen jenes preußischen Königs und Kaisers, an den Bahá'u'lláh Seine feierliche, historische Warnung gerichtet hatte, wie auch die Auslöschung der österreichisch-ungarischen Monarchie, Überbleibsel des vormals großen Heiligen Römischen Reiches, wurden beide durch einen Krieg beschleunigt, dessen Ausbruch den Beginn eines Zeitalters der Frustration kennzeichnet, das seinerseits der Errichtung der Weltordnung Bahá'u'lláhs voranzugehen bestimmt ist. Beide bedeutsamen Ereignisse können als die ersten Vorfälle dieses wirren Zeitalters betrachtet werden, und heute treten wir in die Randzonen seines Kernschattens langsam ein.

#246

An den Besieger Napoleons III. richtete der Begründer unseres Glaubens unmittelbar nach des Königs Sieg in Seinem Heiligsten Buche diese klare, bedeutungsschwere Warnung: »O König von Berlin! ... Hüte dich, daß nicht Hochmut dich hindere, den Tagesanbruch göttlicher Offenbarung zu erkennen, daß irdische Begierden dich nicht wie ein Schleier von dem Herrn des Thrones in der Höhe und hienieden auf Erden trennen. Dies rät dir die Feder des Höchsten. Er, wahrlich, ist der Gnädigste, der Allgütige. Denke an den, dessen Macht deine Macht überstieg¹ und dessen Rang deinen Rang übertraf. Wo ist er? Wohin ist entschwunden, was er besaß? Sei gewarnt und gehöre nicht zu denen, die tief schlafen. Er war es, der das Sendschreiben Gottes wegwarf, als Wir ihm kundtaten, was die Scharen der Tyrannei Uns hatten erdulden lassen. Deshalb kam Schande von allen Seiten über ihn, und er fiel in den Staub mit großem Verlust. Denke tief über ihn nach, o König, und über jene, die gleich dir Städte erobert und Menschen beherrscht haben. Der Allbarmherzige brachte sie aus ihren Palästen hinab in ihre Gräber. Sei gewarnt und gehöre zu denen, die nachdenken.«

»O Ufer des Rheins!« prophezeit Bahá'u'lláh an einer anderen Stelle desselben Buches, »Wir haben euch mit Blut bedeckt gesehen, weil die Schwerter der Vergeltung gegen euch gezückt wurden. Und so wird es euch noch einmal ergehen. Und wir hören das Wehklagen Berlins, obwohl es heute in deutlichem Ruhmesglanz steht.«

¹ vorletzter Absatz: Napoleon III



+7:8 #247
Der Zusammenbruch des Islam

Der Machtverfall der shí'itischen Geistlichkeit in einem Lande, das Jahrhundertelang zu den uneinnehmbaren Bollwerken des muslimischen Fanatismus gehört hatte, war die unvermeidliche Folge jener Woge der Verweltlichung, die später auch einige der mächtigsten, konservativsten Kircheneinrichtungen auf dem europäischen wie dem amerikanischen Kontinent durchdringen sollte. Auch wenn sie nicht das unmittelbare Ergebnis des letzten Krieges war, verstärkte diese plötzliche Erschütterung der bislang bewegungslosen Pfeiler Islámischer Orthodoxie die Probleme und vermehrte die Ruhelosigkeit, die eine kriegsmüde Welt quälten. In Bahá'u'lláhs Geburtsland hatte der shí'itische Islám als unmittelbare Folge seiner unerbittlichen Feindseligkeit gegen Bahá'u'lláhs Glauben alle kämpferische Kraft verloren, seine Rechte und Privilegien eingebüßt. Er wurde erniedrigt und sittenverderbt, endgültig zu hoffnungsloser Finsternis und zum schließlichen Erlöschen verurteilt. Nicht weniger als zwanzigtausend Märtyrer mußten jedoch ihr Leben opfern, ehe die Sache, für die sie lebten und starben, diesen ersten Sieg über jene verzeichnen konnte, welche die ersten gewesen waren, deren Ansprüche zu verwerfen und deren tapfere Krieger niederzumähen. »Niedertracht und Elend waren ihnen eingeprägt, und mit Zorn kehrten sie von Gott zurück.«

#248

»Sehet«, bemerkt Bahá'u'lláh zum Niedergang eines gefallenen Volkes, »wie die Sprüche und Taten des Shí'ah-Islám die Freude und den Eifer seiner frühen Tage abgestumpft, wie sie den vormaligen Glanz seines Lichtes getrübt haben. In den ersten Tagen, als sie sich noch an die Regeln hielten, die mit dem Namen ihres Propheten, des Herrn der Menschheit, verbunden sind, da war ihr Lebenslauf gekennzeichnet von einer ununterbrochenen Kette von Siegen und Triumphen. Als sie aber Schritt um Schritt vom Pfade ihres vollkommenen Vorbilds und Meisters abirrten, als sie sich vom Lichte Gottes abkehrten und den Grundsatz Seiner göttlichen Einheit verfälschten, als sie ihr Augenmerk immer mehr und immer ausschließlicher auf jene richteten, die nur Entschleierer waren für die Macht Seines Wortes, da wandelte sich ihre Macht in Ohnmacht, ihr Ruhm in Schande, ihr Mut in Angst. Du selbst bist Zeuge, wie weit es mit ihnen gekommen ist.«

Der Sturz der Qájáren-Dynastie, der anerkannten Verteidigerin und des willigen Werkzeugs einer verrotteten Geistlichkeit, fiel zeitlich fast zusammen mit der Demütigung, welche die shí'itischen Glaubensführer über sich ergehen lassen mußten. Von Muhammad Sháh bis zu dem letzten, schwächlichen Monarchen dieses Herrscherhauses wurde dem Glauben Bahá'u'lláhs die unvoreingenommene Beachtung, die interessenfreie und gerechte Behandlung versagt, die die Sache Bahá'u'lláhs rechtmäßig gefordert hatte, im Gegenteil: Dieser Glaube wurde grausam gequält, fortgesetzt verraten und verfolgt. Das Martyrium des Báb, die Verbannung Bahá'u'lláhs, die Beschlagnahme Seiner weltlichen Besitzungen, Seine Einkerkerung in Mázindarán, die Schreckensherrschaft, welche ihn in das ekelhafteste aller verließe warf, die Ränke, Proteste und Verleumdungen, die ihn dreimal aufs neue verbannten und schließlich zu Seiner Gefangenschaft in der trostlosesten aller Städte führten, die schändlichen Urteilssprüche, die im stillschweigenden Einvernehmen von richterlichen und geistlichen Gewalten gegen Person, Eigentum und Ehre Seiner unschuldigen Anhänger ergingen - dies sind die auffälligsten Schandtaten, für welche die Nachwelt dieses blutbefleckte Herrscherhaus zur Rechenschaft ziehen wird. Ein weiteres Hindernis, das den Vormarsch des Glaubens aufzuhalten versucht hatte, war jetzt beseitigt.

#249

Auch nach der Verbannung Bahá'u'lláhs aus Seinem Vaterland war die Flut der Leiden, die mit solchem Ungestüm über ihm und den Anhängern des Báb zusammengeschlagen war, noch keineswegs abgeebbt. Im Rechtsbereich des Sultáns der Türkei, des Erzfeindes Seiner Sache, war ein neues Kapitel der Geschichte Seiner immer wiederkehrenden Prüfungen eröffnet worden. Der Sturz des Sultanats und Kalifats, der Doppelpfeiler des sunnitischen Islám, kann daher in keinem anderen Lichte denn als unvermeidliche Folge der grimmigen, nachhaltigen, wohlüberlegten Verfolgungen betrachtet werden, welche die Herrscher des wankenden Hauses 'Uthmán, die anerkannten Nachfolger des Propheten Muhammad, der Sache Gottes zuteil werden ließen. Von der Stadt Konstantinopel aus, dem überkommenen Sitz sowohl des Sultanats als auch des Kalifats, hatten die Herrscher der Türkei während einer Zeitspanne von fast drei vierteln eines Jahrhunderts mit unvermindertem Eifer die Flut eines Glaubens, den sie fürchteten und verabscheuten, zu dämmen gesucht. Beginnend mit der Zeit, als Bahá'u'lláh den Fuß auf türkischen Boden setzte, als Er damit im Grunde genommen Gefangener des mächtigsten Potentaten des Islám wurde, bis zum Jahr der Befreiung des Heiligen Landes vom türkischen Joch hatten die aufeinanderfolgenden Kalifen, besonders die Sultáne 'Abdu'l-'Aziz und 'Abdu'l-Hamid, in uneingeschränkter Ausübung der geistlichen wie weltlichen Gewalt, die ihr erhabenes Amt ihnen verlieh, den Begründer unseres Glaubens ebenso wie den Mittelpunkt Seines Bündnisses mit Qualen und Leiden gepeinigt, wie kein Geist sie ergründen und keine Feder oder Zunge sie beschreiben kann. Nur sie selbst konnten solche Pein ermessen und ertragen.

#250

Von diesen schmerzlichen Prüfungen hat Bahá'u'lláh wiederholt Zeugnis abgelegt: »Bei der Gerechtigkeit des Allmächtigen! Würde Ich dir alles aufzählen, was Mich befallen hat, Seele und Gemüt der Menschen wären unfähig, die Last all dessen zu tragen. Gott selbst ist Mir Zeuge.« »Zwanzig Jahre sind vergangen«, schrieb Er, an die Könige der Christenheit gewandt», in denen Wir jeden Tag die Pein einer neuen Trübsal gekostet haben. Keiner von denen, die vor Uns waren, hat Dinge erduldet, wie Wir sie erdulden. Könntet ihr es doch erkennen! Die sich gegen uns erhoben, haben uns hingerichtet, unser Blut vergossen, unser Eigentum geplündert, unsere Ehre verletzt.« »Gedenke Meiner Schmerzen«, offenbart Er in anderem Zusammenhang, »Meiner Sorge und Unruhe, Meiner Leiden und Prüfungen, Meines Zustands der Gefangenschaft, der Tränen, die Ich vergoß, und nun Meiner Kerkerhaft in diesem entlegenen Lande ... Könnte man dir sagen, was die Altehrwürdige Schönheit befallen hat, du flöhest hinaus in die Wildnis und weintest mit großem Wehe . . . Jeden Morgen, den Ich Mich von Meinem Lager erhob, fand Ich die Heerscharen ungezählter Heimsuchungen hinter Meiner Tür versammelt, und jeden Abend, wenn Ich Mich niederlegte, siehe, da war Mein Herz zerrissen von all dem, was es von der teuflischen Grausamkeit seiner Feinde erduldet hat.«

#251

Die Befehle, welche diese Feinde erließen, die Verbannungen, welche sie anordneten, die Beleidigungen, welche sie zufügten, die Pläne, welche sie schmiedeten, die Untersuchungen, welche sie einleiteten, die Drohungen, welche sie aussprachen, die Greueltaten, zu denen sie gewillt waren, die Ränke und Niederträchtigkeiten, zu denen sie, ihre Minister, ihre Statthalter und Militärgewaltigen sich erniedrigten - dies alles ergibt einen Bericht, wie er kaum seinesgleichen in der Geschichte einer Offenbarungsreligion findet. Die bloße Aufzählung der hervorstechendsten Züge dieses dunklen Dramas würde Bände füllen. Sie waren sich wohl bewußt, daß der geistige und administrative Mittelpunkt der Sache, die auszurotten sie bestrebt waren, nunmehr in ihren Herrschaftsbereich übergewechselt war, daß deren Führer türkische Untertanen waren, daß alle Hilfsquellen, über die jene verfügten, ihrer eigenen Gnade ausgeliefert waren. Daß es während einer Zeit von fast siebzig Jahren dieser Gewaltherrschaft, die noch in der Fülle ihrer unangefochtenen Zwangsmittelstand, die durch nie endende Machenschaften der staatlichen und geistlichen Behörden eines Nachbarlandes noch gekräftigt und durch die Unterstützung jener verwandten Bahá'u'lláhs, die sich gegen Seine Sache aufgelehnt und sich davon getrennt hatten, noch ermutigt wurden - daß es dieser Gewaltherrschaft am Ende nicht gelungen ist, eine bloße Handvoll verurteilter Untertanen auszurotten, muß für jeden nichtgläubigen Betrachter eine der fesselndsten, geheimnisvollsten Episoden der Zeitgeschichte bleiben.

#252

Die Sache, deren sichtbares Oberhaupt noch immer Bahá'u'lláh war, hatte trotz der Berechnungen eines kurzsichtigen Feindes unbestreitbar triumphiert. Kein unbefangener Geist, der durch die äußeren Lebensumstände des Gefangenen von 'Akká hindurchblickte, konnte dies noch länger verkennen oder abstreiten. Obgleich sich die verminderte Spannung in den Verhältnissen nach dem Hinscheiden Bahá'u'lláhs vorübergehend wieder erhöhte und die Gefahren einer immer noch ungefestigten Lage wieder auflebten, war es doch in wachsendem Maße offenkundig, daß die heimtückischen Kräfte des Verfalls, die sich durch lange Jahre in die Eingeweide einer zerrütteten Nation gewühlt hatten, nunmehr einem Gipfelpunkt zustrebten. Eine Reihe innerer Zuckungen, jede verheerender als die vorhergehende, war bereits entfesselt, um schließlich eines der katastrophalsten Ereignisse der Neuzeit nach sich zu ziehen. Die Ermordung jenes anmaßenden Despoten im Jahre 1876, der russisch-türkische Zusammenstoß, der kurz darauf folgte, dann die Befreiungskriege, der Aufstieg der jungtürkischen Bewegung, die türkische Revolution von 1909, die den Sturz 'Abdu'l-Hamids beschleunigte, die Balkankriege mit ihren unheilvollen Folgen, die Befreiung Palästinas mit den Städten 'Akká und Haifa, dem Weltzentrum eines der Knechtschaft entronnenen Glaubens, im Herzen dieses Landes, die weitere Zerstückelung des türkischen Reiches durch den Vertrag von Versailles, die Abschaffung des Sultanats und der Untergang des Hauses der Osmanen, die Auslöschung des Kalifats, die Beseitigung der Staatsreligion, die Aufhebung des Gesetzes der Sharí'ah und die Verkündung eines allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, die Unterdrückung verschiedener Orden, Glaubensbekenntnisse, Überlieferungen und Zeremonien, die man für unauflöslich verwoben mit der Struktur der muslimischen Religion gehalten hatte - all dies folgte mit einer Leichtigkeit und Schnelligkeit, wie sie kein Mensch sich auszumalen gewagt hätte. in diesen verheerenden Schlägen, die von Freunden und Feinden, von christlichen Nationen wie von bekennenden Muslimen gleichermaßen ausgeteilt wurden, erkannte jeder Anhänger des verfolgten Glaubens Bahá'u'lláhs Zeichen der lenkenden Hand des verstorbenen Begründers seiner Religion, der aus dem Reich des Unsichtbaren eine Flut wohlverdienter Trübsale über einer widersetzlichen Religion und Nation entfesselte.

#253

Vergleichen Sie die Zeichen göttlicher Heimsuchung, wie sie die Verfolger Jesu Christi befiel, mit diesen geschichtsträchtigen Vergeltungen, die im zweiten Teil des ersten Jahrhunderts des Bahá'í-Zeitalters die Hauptfeinde der Religion Bahá'u'lláhs in den Staub warfen. Hatte nicht der römische Kaiser in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung nach einer qualvollen Belagerung Jerusalems die heilige Stadt verwüstet, den Tempel zerstört, das Allerheiligste entweiht und seiner Schätze beraubt, um diese nach Rom zu schaffen? Hatte er nicht auf dem Berge Zion eine heidnische Kolonie errichtet, die Juden niedergemetzelt, die überlebenden verbannt und zerstreut?

Vergleichen Sie ferner die Worte, die der verfolgte Christus nach dem Zeugnis des Evangeliums an Jerusalem richtete, mit Bahá'u'lláhs Botschaft für Konstantinopel, die Er in Seinem fernen Gefängnis offenbarte und in Seinem Heiligsten Buche aufzeichnete: »O Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und sie steinigest, die zu dir gesandt sind, wie oft wollte Ich deine Kinder versammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel nimmt!« Und wieder, als Er über diese Stadt weinte: »Hättest du doch, gerade du, wenigstens an diesem deinem Tage die Dinge erkannt, die deinem Frieden dienen! Aber nun sind sie vor deinen Augen verborgen. Denn die Tage werden über dich kommen, da deine Feinde einen Graben um dich legen und dich umzingeln und von jeder Seite bezwingen und dem Erdboden gleichmachen werden, und deine Kinder mit dir. Und sie werden keinen Stein in dir auf dem andern lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht kanntest.«

#254

»O Ort, an den Ufern zweier Meere gelegen!« so wendet sich Bahá'u'lláh an die Stadt Konstantinopel. »Wahrlich, der Thron der Tyrannei ist in dir errichtet, und die Flamme des Hasses ist in deinem Busen auf solche Weise entzündet, daß die Scharen der Höhe und jene, die den Erhabenen Thron umkreisen, jammern und wehklagen. Wir sehen in dir die Narren über die Weisen herrschen, und die Finsternis brüstet sich gegenüber dem Lichte. Du bist in der Tat von sichtbarem Hochmut erfüllt. Hat dein äußerer Glanz dich hoffärtig gemacht? Bei Ihm, welcher der Herr der Menschheit ist! Er soll bald vergehen, und deine Töchter und deine Witwen und alle Geschlechter, die in dir wohnen, werden wehklagen. So belehrt dich der Allwissende, der Allweise.«

An Sultán 'Abdu'l-'Aziz, jenen Monarchen, der alle drei Verbannungen Bahá'u'lláhs anordnete, richtete der Begründer unseres Glaubens während Seiner Gefangenschaft in des Sultáns Hauptstadt diese Worte: »Höre, o König, auf die Rede Dessen, der die Wahrheit spricht, der nicht von dir verlangt, daß du Ihn mit dem entlohnest, was Gott dir zu schenken beliebte, und der unfehlbar auf dem geraden Pfade wandelt ... Halte dir Gottes unfehlbare Waage vor Augen und wäge damit wie einer, der in Seiner Gegenwart steht, deine Handlungen jeden Tag, jeden Augenblick deines Lebens. Ziehe dich selbst zur Verantwortung, ehe du zur Rechenschaft gezogen wirst an dein Tag, da aus Furcht vor Gott kein Mensch die Kraft haben wird, aufrecht zu stehen, an dem Tag, da die Herzen der Achtlosen erzittern werden.«

#255

Den Ministern des türkischen Staates offenbarte Er im selben Sendschreiben: »Euch geziemt es, o Minister des Staates, die Gebote Gottes zu halten, eure eigenen Gesetze und Verordnungen aufzugeben und zu den Rechtgeleiteten zu gehören ... Binnen kurzem werdet ihr die Folgen dessen erkennen, was ihr in diesem eitlen Leben getan habt, und werdet dafür entlohnt werden ... Wie viele haben in vergangenen Zeiten dasselbe wie ihr getan und sind, auch wenn sie euch im Rang übertrafen, am Ende zum Staube zurückgekehrt und unausweichlich dem Gericht verfallen! ... Ihr werdet den Spuren jener folgen und eine Wohnstatt betreten müssen, wo keiner euch Freund noch Helfer ist ... Die Tage eures Lebens werden schwinden, und alles, womit ihr euch abgebt und worin ihr euch rühmt, wird vergehen, und ganz sicherlich wird euch eine Schar Seiner Engel an jenen Ort laden, da die Glieder der ganzen Schöpfung erbeben und jeder Bedrücker erschaudert ... Dies ist der Tag, der unentrinnbar über euch kommen wird, die Stunde, die niemand aufschieben kann.«

An die Bewohner Konstantinopels richtete Bahá'u'lláh, während Er als verbannter unter ihnen lebte, im selben Sendschreiben diese Worte: »Fürchtet Gott, ihr Bewohner der Stadt, und säet nicht die Saaten der Zwietracht unter den Menschen ... Eure Tage werden schwinden wie die Tage jener, die vor euch waren. Zum Staube werdet ihr zurückkehren, wie eure Vorväter zum Staube zurückkehrten.« »Bei Unserer Ankunft in der Stadt«, bemerkt Er ferner, »kamen Uns ihre Herrscher und Ältesten wie Kinder vor, die sich zusammentun und mit Lehm spielen ... Unser inneres Auge weinte bitterlich über sie und ihre Übertretungen und ihre völlige Mißachtung dessen, wozu sie erschaffen sind ... Der Tag naht, da Gott ein Volk erwecken wird, das sich Unserer Tage erinnern, die Geschichte Unserer Prüfungen erzählen und Unsere Rechte von denen einfordern wird, die Uns ohne den geringsten Beweis offenbares Unrecht getan haben. Wahrlich, Gott ist der Herr über das Leben Unserer Peiniger, und Er ist ihrer Werke wohl gewahr. Er wird sie gewiß um ihrer Sünden willen ergreifen. Wahrlich, Er ist der grimmigste der Rächer.« »Höret daher auf meine Rede«, ermahnt Er sie in Güte, »kehret zurück zu Gott und bereuet, damit Er in Seiner Gnade sich euer erbarme, eure Sünden hinwegwasche und eure Schuld vergebe. Die Größe Seines Erbarmens übertrifft den Ingrimm Seines Zornes, und Seine Gnade um greift in der Zukunft wie in der Vergangenheit alle, die ins Dasein gerufen und mit dem Gewande des Lebens bekleidet werden.«

#256

Schließlich finden wir im Lawh-i-Ra'ís die folgenden prophetischen Worte aufgezeichnet: »Höre, o Anführer, ... auf die Stimme Gottes, des Herrschers, des Helfers in Gefahr, des Selbstbestehenden ... Du hast begangen, o Anführer, was Muhammad, den Gesandten Gottes, im Erhabensten Paradiese aufstöhnen ließ. Die Welt hat dich so stolz gemacht, daß du dich abkehrtest von dem Angesicht, dessen Glanz die Himmlischen Heerscharen erleuchtet hat. Bald wirst du offenkundig verloren sein ... Der Tag naht heran, da das Land der Geheimnisse (Adrianopel) und seine Umgebung verwandelt und den Händen des Königs entgleiten werden. Aufruhr wird entstehen, die Stimme des Wehklagens wird erschallen, und die Zeichen des Unheils werden überall offenbar werden, und Verwirrung wird sich ausbreiten um dessentwillen, was diesen Gefangenen zugestoßen ist von den Scharen der Unterdrücker. Der Lauf der Dinge wird sich ändern, und die Zustände werden so drückend werden, daß sogar die Sandkörner auf den öden Hügeln stöhnen und die Bäume auf den Bergen weinen werden, und Blut wird überall fließen. Dann wirst du das Volk in schmerzlichem Elend schauen.«

#257

Dreizehnhundert Jahre mußten seit dem Tode des Propheten Muhammad vergehen, ehe voll und öffentlich die Unrechtmäßigkeit der Institution des Kalifats bewiesen werden konnte, deren Begründer die Amtsgewalt der rechtmäßigen Nachfolger des Gesandten Gottes an sich gerissen hatten. Diese Institution, die an ihrem Anfang so heiliges Recht mit Füßen getreten und die Kräfte einer so unseligen Glaubensspaltung entfesselt hatte, diese Institution, die in ihren letzten Tagen einem Glauben, dessen Vorläufer ein Nachkomme derselben Imáme war, deren Vollmacht sie verwarf, so empfindliche Schläge versetzte, verdiente durchaus die Züchtigung, die nun ihr Schicksal besiegelte.

Der Wortlaut gewisser Überlieferungen von Muhammad, deren Echtheit die Muslime selbst anerkennen und die von bedeutenden Bahá'í-Gelehrten und -Schriftstellern ausführlich zitiert worden sind, wird den Beweis erhärten und den Gegenstand beleuchten, den ich zu erläutern versuche: »In den letzten Tagen wird schwere Trübsal Mein Volk von seinen Herrschern her befallen, so schlimm, daß keiner je Schlimmeres hörte. So heftig wird sie sein, daß niemand Zuflucht finden kann. Dann wird Gott einen Meiner Nachkommen, einen Sproß Meiner Familie herniedersenden, und Er wird die Erde mit Redlichkeit und Gerechtigkeit erfüllen, wie sie mit Ungerechtigkeit und Tyrannei gefüllt gewesen ist.« Und weiterhin: »Eines Tages wird Mein Volk bezeugen, daß vom Islám nichts weiter geblieben ist als ein Name und vom Qur'án nichts als bloße Erscheinung. Die Schriftgelehrten jener Zeit werden die schlimmsten sein, die die Welt je gesehen hat. Unheil ist von ihnen ausgegangen, und auf sie wird es zurückfallen.« Und ein andermal: »Zu jener Stunde wird Sein Fluch auf euch herabkommen, und euer Fluch wird euch heimsuchen, und eure Religion wird ein leeres Wort auf eurer Zunge bleiben. Und wenn diese Zeichen unter euch erscheinen, dann erwartet den Tag, da der rotglühende Wind über euch hinjagt, oder den Tag, da ihr verunstaltet werdet oder da Steine auf euch herabregnen.«

#258

»O Volk des Qur'án«, so bezeugt Bahá'u'lláh bedeutungsschwer, an die vereinten Kräfte des sunnitischen und des shí'itischen Islám gewandt, »wahrlich, der Prophet Gottes, Muhammad, vergießt Tränen beim Anblick eurer Grausamkeit. Zweifellos seid ihr euren üblen und verderbten Lüsten gefolgt und habt euer Gesicht vom Lichte der Führung abgekehrt. Bald werdet ihr die Folgen eurer Taten bezeugen; denn der Herr, Mein Gott, ist auf der Hut und wacht über euer Verhalten ... O Schar der Muslim-Geistlichen! Eure Taten haben die erhabene Stufe des Volkes erniedrigt, das Banner des Islám umgestoßen und seinen mächtigen Thron gestürzt.«

So viel über den Islám und die lähmenden Schläge, die seine Führer und Institutionen in diesem ersten Jahrhundert der Bahá'í- Zeitrechnung erhalten haben - und vielleicht noch erhalten werden. Wenn ich zu lange bei diesem Thema verweilt bin, wenn ich in übergroßem Maße Stellen aus den heiligen Schriften zur Unterstützung meiner Aussagen herangezogen habe, so war es nur in der festen Überzeugung, daß diese Vergeltungsschläge, die auf den schlimmsten Unterdrücker des Glaubens Bahá'u'lláhs herabgeregnet sind, zu den erregenden Begebenheiten unserer Übergangszeit und darüber hinaus zu den bestürzendsten, bedeutsamsten Geschehnissen der Zeitgeschichte zu zählen sind.



+7:9 #259
Verfall der christlichen Kirchen

Der sunnitische wie der shí'itische Islám hatten mit den Erschütterungen, die sie ergriffen haben, zur Beschleunigung des oben erwähnten Zersetzungsprozesses beigetragen - eines Vorgangs, der seinem Wesen nach den Weg für die völlige Neugestaltung und Einigung der Welt in jedem Lebensbereich bereiten muß. Wie aber steht es mit dem Christentum und seinen Glaubensbekenntnissen? Läßt sich sagen, daß dieser Vorgang der Entartung, der die Religion Muhammads in ihrer Struktur angegriffen hat, die dem Glauben Jesu Christi verbundenen Institutionen mit seinem Gifthauch verschont hat? Oder haben diese Institutionen bereits den Aufprall jener drohenden Mächte erfahren? Sind ihre Grundlagen so sicher, ist ihre Lebenskraft so groß, daß sie dem Angriff jener Mächte widerstehen können? Oder werden sie deren Heftigkeit zur Beute fallen, wenn sich nunmehr die Verwirrung einer chaotischen Welt ausbreitet und vertieft? Haben sich die Strenggläubigen unter ihnen erhoben, und wenn nicht, werden sie sich erheben, um den Andrang einer Sache zurückzuschlagen, welche bereits die Schranken muslimischer Orthodoxie niedergerissen hat und jetzt im europäischen wie im amerikanischen Erdteil zum Herzen der Christenheit vordringt? Würde solcher Widerstand die Saaten weiterer Zwietracht und Verwirrung säen und folglich mittelbar zur beschleunigten Ankunft des verheißenen Tages beitragen?

Auf solche Fragen können wir nur teilweise antworten. Die Zeit allein kann jene Rolle ihrem Wesen nach enthüllen, welche die unmittelbar mit dem christlichen Glauben verbundenen Institutionen in diesem gestaltgebenden Abschnitt des Bahá'í-Zeitalters, dieser dunklen Zeit des Übergangs für die ganze Menschheit, zu übernehmen bestimmt sind. Ereignisse jedoch, die bereits eingetreten sind, können ihrer Natur nach die Richtung aufzeigen, in die sich diese Institutionen bewegen. Bis zu einem gewissen Grade können wir die wahrscheinlichen Rückwirkungen jener Kräfte abschätzen, die innerhalb wie außerhalb des Bahá'í-Glaubens auf die Kirchen Einfluß gewinnen.

#260

Daß die Kräfte des Unglaubens, einer rein materialistischen Philosophie, des unverhohlenen Heidentums entfesselt sind, daß sie sich nunmehr ausbreiten, sich festigen und dadurch in mancherlei besonders machtvolle christliche Institutionen der westlichen Welt einzudringen beginnen, muß jeder unbefangene Beobachter zugestehen. Daß diese Institutionen zunehmend starrsinnig werden, daß einige wenige unter ihnen bereits in Umrissen den durchdringenden Einfluß der Sache Bahá'u'lláhs erkennen, daß sie in dem Maße, wie ihre innere Kraft abnimmt und ihre Disziplin sich lockert, mit wachsender Bestürzung den Aufstieg Seiner neuen Weltordnung verfolgen und sich nach und nach zum Angriff auf diese entschließen werden, daß solcher Widerstand jedoch ihren Niedergang beschleunigt, wird unter denen, die den fortschritt Seiner Sache aufmerksam beobachten, kaum jemand in Frage stellen wollen.

»Die Lebenskraft des Glaubens der Menschen an Gott«, bezeugt Bahá'u'lláh, »stirbt aus in allen Landen. Nur Seine heilende Arznei kann sie jemals wiederherstellen. Der Rost der Gottlosigkeit frißt sich in das Triebwerk der menschlichen Gesellschaft. Was außer dem Heiltrank Seiner mächtigen Offenbarung kann sie reinigen und neu beleben?« »Die Welt liegt in Wehen«, schreibt Er weiterhin, »ihre Unruhe wächst von Tag zu Tag. Ihr Antlitz ist auf Eigensinn und Unglauben gerichtet. Ihr Zustand wird so werden, daß es nicht angemessen noch schicklich wäre, ihn jetzt zu enthüllen.«

#261

Die Gefahr der Verweltlichung, die den Islám angreift und seine noch übriggebliebenen Institutionen untergräbt, die Persien befällt, Indien durchdringt und in der Türkei triumphierend das Haupt hebt, hat sich bereits in Europa ebenso wie in Amerika kundgetan und stellt nunmehr jede fest begründete Religion von der Grundlage her in Frage, besonders aber jene Institutionen und Gemeinschaften, die mit dem Glauben Jesu Christi gleichzusetzen sind. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, daß wir in einen Zeitabschnitt eintreten, den der künftige Geschichtsschreiber als einen der kritischsten in der Geschichte des Christentums betrachten wird.

Schon räumen einige Hauptfiguren der christlichen Religion ein, wie ernst die Lage ist, der sie gegenüberstehen. »Eine Woge des Materialismus fegt rund um die Welt«, lautet das Zeugnis ihrer Missionare, wie es in amtlichen Berichten bekundet ist. »Die Druckwelle des modernen Industrialismus dringt bis in die Urwälder Zentralafrikas und die Steppen Innerasiens. Sie macht die Menschen überall abhängig von materiellen Dingen und nimmt sie ganz dafür in Anspruch. Daheim hat die Kirche vielleicht zu glattzüngig von der Kanzel oder vom Rednerpult herunter über die Gefahr der Verweltlichung gesprochen, obgleich wir selbst in England mehr als nur einen Schimmer von ihrer Tragweite mitbekommen. Aber für die Kirche in Übersee ist das schreckliche Wirklichkeit, ein Feind, mit dem sie bereits handgemein ist ... In einem Land nach dem andern sieht sich die Kirche einer neuen Gefahr gegenüber, einem entschlossenen, feindseligen Angriff. Aus Sowjetrußland stößt ein entschieden religionsfeindlicher Kommunismus westwärts nach Europa und Amerika, ostwärts nach Persien, Indien, China und Japan vor. Er ist eine Wirtschaftstheorie, untrennbar mit der Gottlosigkeit zusammengeschirrt. Er ist religiöse Religionslosigkeit ... Er hat einen leidenschaftlichen Missionsgeist, betreibt seinen Feldzug gegen Gott daheim an den Grundmauern der Kirche und greift ihre vorderste Linie in den nichtchristlichen Ländern an. Ein derart vollbewußter, unverhohlener, organisierter Angriff gegen die Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen ist etwas Neues in der Weltgeschichte. Ebenso wohlüberlegt in seiner entschiedenen Feindschaft gegenüber dem Christentum ist in einigen Ländern eine andere Form des sozialen und politischen Glaubens: der Nationalismus. Aber im Gegensatz zum Kommunismus ist der nationalistische Angriff auf das Christentum oft eng verknüpft mit irgendeiner Form nationaler Religion: mit dem Islám in Persien und in Ägypten, mit dem Buddhismus in Ceylon, während der Kampf um Selbstverwaltungsrechte in Indien mit einer Wiederbelebung sowohl des Hinduismus als auch des Islám verbunden ist.«

#262

Ich brauche in diesem Zusammenhang nicht zu versuchen, den Ursprung und das Wesen jener Wirtschaftstheorien und Gesellschaftsphilosophien der Nachkriegszeit zu erläutern, die direkt und mittelbar ihren verderblichen Einfluß auf die Institutionen und die Glaubenslehren eines der weitestverbreiteten, bestorganisierten Religionssysteme dieser Welt ausgeübt haben und weiterhin ausüben. Ich befasse mich mehr mit ihrem Einfluß als mit ihrem Ursprung. Das übermäßige Wachstum der Industrialisierung und ihrer üblen Begleitumstände, von denen das vorstehende Zitat Zeugnis ablegt, die aggressive Politik und die beharrlichen Anstrengungen der Urheber und Organisatoren der kommunistischen Bewegung, die Verstärkung eines kriegerischen Militarismus, in gewissen Ländern mit einer systematischen VerIeumdungskampagne gegen jede Form kirchlichen Einflusses verbunden - dies alles hat zweifellos zur Entchristlichung der Massen beigetragen und ist für den bemerkenswerten Niedergang der Kirche, was ihre Autorität, ihr Ansehen und ihre Macht angeht, verantwortlich. »Die ganze Vorstellung von Gott«, verkünden die Verfolger der christlichen Religion hartnäckig, »ist vom altorientalischen Despotismus abgeleitet, eine Vorstellung, die des freien Mannes völlig unwürdig ist.« »Religion«, hat einer ihrer Führer behauptet, »ist das Opium des Volkes«. »Religion«, so der Wortlaut ihrer amtlichen Veröffentlichungen, »ist eine Brutalisierung des Volkes. Die Erziehung muß so gesteuert werden, daß sie diese schwachsinnige Erniedrigung aus der Seele des Volkes auslöscht.«

#263

In anderen Ländern hebt die Hegelsche Philosophie in Gestalt eines unduldsamen, kämpferischen Nationalismus den vergöttlichten Staat hervor, schärft den Kriegsgeist und reizt zum Rassenhaß. So führt sie gleichermaßen zu einer auffallenden Schwächung der Kirche und zu einer schweren Minderung ihres geistigen Einflusses. Im Unterschied zu dem kühnen Angriff, den eine erklärtermaßen atheistische Bewegung innerhalb der Sowjetunion wie außerhalb ihrer Grenzen gegen die Kirche in Gang setzt, ist diese nationalistische Philosophie, von christlichen Führern und Regierungen vertreten, eine Attacke gegen die Kirche, die ihre eigenen bisherigen Anhänger gegen sie richten, ein Verrat ihrer Sache durch ihr eigenes Fleisch und Blut. So wird sie durch einen artfremden, kriegerischen Atheismus von außen und durch die Prediger einer ketzerischen Lehre von innen gleichermaßen durchbohrt. Beide Kräfte, jede in ihrem besonderen Bereich wirkend und ihre eigenen Waffen und Methoden gebrauchend, werden mächtig gestärkt und ermutigt durch den herrschenden Geist des Modernismus mit seiner Betonung einer rein materialistischen Philosophie, die in dem Maße, wie sie sich ausbreitet, die Religion vom Alltagsleben des Menschen abzutrennen droht.

#264

Der Wirkungsverbund dieser seltsamen, verderbten Lehren, dieser gefährlichen, trügerischen Philosophien, wird natürlich von jenen besonders stark empfunden, die von ihren Glaubenslehren einen entgegengesetzten, völlig unvereinbaren Geist und Grundsatz eingeimpft bekommen. Die Folgen des unvermeidlichen Zusammenpralls dieser widerstreitenden Interessen waren in manchen Fällen verheerend, der entstandene Schaden nicht wiedergutzumachen. Die Entstaatlichung und Zerstückelung der orthodoxen Kirche in Rußland, die auf den von der römischen Kirche erlittenen Schlag im Gefolge des Zusammenbruchs der österreichisch-ungarischen Monarchie folgte, die Erregung, welche die katholische Kirche in Spanien ergriff und in ihrer Trennung vom Staate gipfelte, die Verfolgung derselben Kirche in Mexiko, die Haussuchungen, Verhaftungen, Einschüchterungen und Unterdrückungen, denen Katholiken und Lutheraner im Herzen Europas gleichermaßen unterworfen werden, die Unruhe, in die ein anderer Zweig der Kirche im Ergebnis des Kriegszuges in Afrika versetzt ist, der Niedergang in den Geschicken christlicher Missionen, anglikanischer wie presbyterianischer, in Persien, in der Türkei und im Fernen Osten, die unheilvollen Zeichen, die ernste Verwicklungen in den heutzutage zweideutigen, unsicheren Beziehungen zwischen dem päpstlichen Stuhl und gewissen Nationen auf dem europäischen Kontinent ankünden - dies sind die hervorstechenden Züge der Rückschläge, welche die Mitglieder und die Führer der kirchenchristlichen Institutionen erleiden.

#265

Daß der innere Zusammenhalt von manchen dieser Institutionen in nicht wiedergutzumachender Weise erschüttert ist, liegt für jeden scharfsinnigen Betrachter zu offen, als daß er es mißdeuten oder abstreiten könnte. Die Kluft zwischen den Buchstabengläubigen und den Freisinnigen unter den Kirchenmitgliedern weitet sich stetig aus. Die Glaubenssätze und Dogmen dieser Institutionen sind verwässert; in manchen Fällen sind sie unbeachtet und aufgegeben. Ihr Zugriff auf das menschliche verhalten lockert sich, ihr Klerus schwindet in seiner Personalstärke wie in seinem Einfluß dahin. Die Furchtsamkeit und Unaufrichtigkeit ihrer Prediger zeigt sich an vielen Beispielen. Ihre Stiftungen sind in manchen Ländern verschwunden, der Gehalt ihrer religiösen Ausbildung ist abgesunken. ihre Andachtsstätten sind zum Teil verlassen, zum Teil zerstört; Mißachtung für Gott, Seine Lehren und Seine Ziele hat sie gelähmt und Erniedrigung auf sie gehäuft.

Könnte es nicht sein, daß die Auflösungserscheinungen, unter denen der sunnitische und der shí'itische Islám so auffallend leiden, in dem Maße, wie sie ihren Höhepunkt erreichen, noch weiteres Unheil für die verschiedenen Bekenntnisse der christlichen Kirche entfesseln? in welcher Weise und mit welcher Geschwindigkeit dieser Vorgang, der bereits eingesetzt hat, sich weiter entwickelt, das kann nur die Zukunft zeigen. Auch kann gegenwärtig noch nicht abgeschätzt werden, in welchem Ausmaß die Angriffe einer noch immer mächtigen Geistlichkeit gegen die Bollwerke des Glaubens Bahá'u'lláhs im Westen diesen Niedergang verstärken und die Reichweite unausbleiblicher Unglücksfälle erweitern.

Wenn die Christenheit wünscht und erwartet, der Welt in der gegenwärtigen Krise zu dienen, so schreibt ein Geistlicher der presbyterianischen Kirche in Amerika, dann muß sie »durch das Christentum hindurch zu Christus zurückblenden, durch die Jahrhundertealte Religion um Jesus zurück zur ursprünglichen Religion Jesu«. Andernfalls, fügt er bedeutungsvoll hinzu, »wird der Geist Christi in anderen Institutionen als den unsrigen leben«.

#266

Ein so deutlicher Niedergang an Kraft und Zusammenhalt der Bestandteile, welche die christliche Gesellschaft bilden, führt seinerseits, wie leicht vorauszusehen, zum Aufstieg einer wachsenden Zahl obskurer Kulte, seltsamer neuer Andachtsformen, fruchtloser Philosophien, deren ausgeklügelte Lehren die Verwirrung eines geplagten Zeitalters mehren. in ihren Lehrsätzen und Bestrebungen spiegeln und bezeugen sie, so kann man sagen, den Aufruhr, die Unzufriedenheit, die wirren Hoffnungen der enttäuschten Massen, welche die Sache der christlichen Kirchen verlassen und ihre Mitgliedschaft aufgegeben haben.

Fast kann man eine Parallele ziehen zwischen den verworrenen und verwirrenden Gedankensystemen, die das unmittelbare Ergebnis der Hilflosigkeit und des Durcheinanders im christlichen Glauben sind, und der großen Vielfalt von Volkskulten, von Mode- und Fluchtphilosophien, wie sie während der ersten Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung blühten und die Staatsreligion des römischen Volkes aufzusaugen und zu verkehren suchten. Die heidnischen Gottsucher, die damals die große Bevölkerungsmasse des weströmischen Reiches ausmachten, sahen sich umringt, vielfach sogar bedroht, von der weitverbreiteten Sekte der Neuplatoniker, von den Anhängern der Naturreligionen, von gnostischen Philosophen, vom Philonismus, vom Mithraskult, von den Anhängern des alexandrinischen Kultes und einer Menge verwandter Sekten und Glaubenslehren, ganz ähnlich wie die Verteidiger des christlichen Glaubens, der heute vorherrschenden Religion der westlichen Welt, im ersten Jahrhundert der Bahá'í-Zeitrechnung gewahr werden, wie ihr Einfluß unterspült wird von einer Flut widerstreitender Glaubenslehren, Gebräuche und Richtungen, die ihr eigener Bankrott zu schaffen geholfen hat. Damals war aber dieselbe christliche Religion, die heute in einen solchen Zustand der Unfähigkeit verfallen ist, schließlich fähig, die Institutionen des Heidentums hinwegzufegen, die zuvor blühenden Kulte zu überlagern und zu unterdrücken.

#267

Institutionen, die vom Geist und von den Lehren Jesu Christi weit abgeirrt sind, müssen in dem Maße, wie die keimende Weltordnung Bahá'u'lláhs Gestalt annimmt und sich entfaltet, zwangsläufig in den Hintergrund treten und dem Fortschritt der göttlich eingesetzten Institutionen Platz machen, die mit Seinen Lehren unzertrennlich verwoben sind. Der innewohnende Geist Gottes, der im apostolischen Zeitalter der Kirche ihre Mitglieder beseelte, die ursprüngliche Reinheit ihrer Lehren, der erste Glanz ihres Lichtes werden ohne Zweifel als unausbleibliche Folge dieser erneuten Bestimmung ihrer grundlegenden Wahrheiten und als Klarstellung ihres eigentlichen Zieles wiedergeboren und neu belebt werden.

Denn der Glaube Bahá'u'lláhs kann, wenn wir ihn glaubenstreu einordnen, niemals und unter keinem Gesichtspunkt seiner Lehren von dem Ziel, das den Glauben Jesu Christi beseelt, oder von der göttlichen Vollmacht, die in den Glauben Jesu Christi gelegt ist, abweichen oder gar damit im Streite liegen. Die glühende Huldigung, die Bahá'u'lláh selbst dem Begründer der christlichen Religion darzubringen sich bewogen fühlte, stellt ein allgenügendes Zeugnis für die Wahrheit dieses zentralen Grundsatzes im Bahá'í-Glauben aus: »Wisse, daß die ganze Schöpfung in großer Trauer weinte, als der Menschensohn Seinen Odem zu Gott aufgab. Indem Er sich selbst opferte, wurde jedoch allem Erschaffenen eine neue Fähigkeit eingeflößt. Die Beweise hierfür, bei allen Völkern der Erde bezeugt, sind nun vor dir offen bar. Die tiefste Weisheit, welche die Weisen äußern, die gründlichste Gelehrsamkeit, die irgendein Geist entfaltet, die Künste, welche die fähigsten Hände hervorbringen, der Einfluß, den die kraftvollsten Herrscher üben, sind nur Offenbarungen der belebenden Macht, die Sein überragender, Sein alldurchdringender und strahlender Geist entfesselt hat. Wir bezeugen, daß Er, als Er in die Welt trat, den Glanz Seiner Herrlichkeit über alles Erschaffene ergoß. Durch Ihn wurde der Aussätzige vom Aussatz der Verderbtheit und der Unwissenheit geheilt. Durch Ihn wurden der Unreine und der Widerspenstige geläutert. Durch Seine aus dem allmächtigen Gott geborene Macht wurden dem Blinden die Augen geöffnet und dem Sünder die Seele geheiligt ... Er ist es, Der die Welt geläutert hat. Selig ist der Mensch, der sich Ihm mit lichtstrahlendem Angesicht zuwendet.«



+7:10 #268
Zeichen des sittlichen Niedergangs

Über den Niedergang der religiösen Institutionen, deren Auflösung einen so wichtigen Gesichtspunkt des gestaltgebenden Abschnitts im Bahá'í-Zeitalter darstellt, braucht meines Erachtens nichts mehr gesagt zu werden. Der Islám ist, als Ergebnis der anschwellenden Flut der Verweltlichung und in unmittelbarer Folge seiner erklärten, beharrlichen Feindschaft gegen den Glauben Bahá'u'lláhs gleichermaßen, zu Tiefen der Erniedrigung abgesunken, wie er sie nur selten in seiner Geschichte erreicht hat. Das Christentum ist ebenfalls aus Gründen, die denen im Fall seines Schwesterglaubens nicht ganz unähnlich sind, ständig schwächer geworden und steuert in wachsendem Maße sein Teil zum Vorgang allgemeinen Verfalls bei - zu einem Vorgang, der dem Wiederaufbau der menschlichen Gesellschaft von Grund auf notwendig vorangehen muß.

#269

Die Merkmale sittlichen Niedergangs, wie sie sich von den Anzeichen für den Verfall der religiösen Institutionen unterscheiden, scheinen nicht weniger bemerkbar und bedeutsam zu sein. Der Verfall, der in den Geschicken der islámischen und christlichen Institutionen eingesetzt hat, findet, so kann man wohl sagen, im Leben und verhalten der einzelnen Menschen, die jene Institutionen bilden, sein Gegenstück, in welche Richtung wir auch den Blick wenden, wie oberflächlich wir auch die Taten und Reden der gegenwärtigen Generation beobachten, wir können nicht umhin, von den Beweisen sittlichen Verfalls, welche die Männer und Frauen um uns her in ihrem persönlichen Leben nicht weniger denn als Bestandteile der Gesellschaft zur Schau stellen, betroffen zu sein.

Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß der Verfall der Religion als gesellschaftlicher Macht, für den die Entartung religiöser Institutionen ja nur ein äußeres Anzeichen ist, die Hauptverantwortung für einen derart schlimmen, derart offenkundigen Übelstand trägt. »Die Religion«, schreibt Bahá'u'lláh, »ist das wichtigste Mittel zur Begründung von Ordnung in der Welt und zur Befriedung aller, die darin wohnen. Die Schwächung der Pfeiler der Religion stärkt die Hände der Unwissenden und macht sie dreist und anmaßend. Wahrlich, Ich sage, was immer die erhabene Stellung der Religion erniedrigt, vermehrt die Widerspenstigkeit der Gottlosen, und das Ergebnis kann nur Gesetzlosigkeit sein.« »Die Religion«, stellt Er in einem anderen Sendschreiben fest, »ist ein strahlendes Licht und ein uneinnehmbares Bollwerk für den Schutz und die Wohlfahrt der Völker dieser Welt; denn die Gottesfurcht treibt den Menschen an, sich fest an das zu halten, was gut ist, und alles Böse zu meiden. Sollte die Lampe der Religion verdunkelt werden, so werden Chaos und Wirrnis die Folge sein, und die Lichter der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens werden zu scheinen aufhören.« »Wisse«, schreibt Er in wieder anderem Zusammenhang, »daß die wahrhaft Weisen die Welt mit dem menschlichen Tempel vergleichen. Wie der Körper des Menschen eines Gewandes bedarf, sich zu kleiden, so muß der Menschheit Körper mit dem Mantel der Gerechtigkeit und Weisheit geschmückt sein. Ihr Prachtgewand ist die Offenbarung, die Gott ihr verliehen hat.«

#270

Kein Wunder, daß beklagenswerter Niedergang einsetzt, wenn als Ergebnis menschlicher Verderbtheit das Licht der Religion in den Menschenherzen erlischt, wenn das gottbestimmte Prachtgewand, das den menschlichen Tempel schmücken soll, mit Vorbedacht weggeworfen wird, und kein Wunder, daß dieser Niedergang alle Übel nach sich zieht, die eine widerspenstige Seele zu enthüllen vermag. Die Verderbnis der menschlichen Natur, die Erniedrigung des menschlichen Verhaltens, die Entartung und Auflösung menschlicher Institutionen offenbaren sich unter solchen Umständen in ihren schlimmsten, abstoßendsten Bildern. Der menschliche Charakter wird entwürdigt, jedes Vertrauen wird erschüttert, die Nervenstränge der Zucht und Ordnung erschlaffen, die Stimme des menschlichen Gewissens wird zum Schweigen gebracht, der Sinn für Scham und Anstand wird verdunkelt, die Vorstellungen von Pflicht, Zusammenhalt, Gegenseitigkeit und Treue werden verdreht, das Empfinden für Friedfertigkeit, Freude und Hoffnung wird nach und nach ausgelöscht.

#271

Das ist, gestehen wir es uns nur ein, der Zustand, dem sich die einzelnen Menschen und die Institutionen gleichermaßen nähern. »Keine zwei Menschen«, schreibt Bahá'u'lláh, die traurige Lage einer irrenden Menschheit beklagend, »keine zwei Menschen lassen sich finden, von denen man sagen könnte, sie seien äußerlich wie innerlich einig. Die Zeichen der Zwietracht und Bosheit sind überall sichtbar, obgleich alle zu Einklang und Eintracht erschaffen sind.« »Wie lange«, ruft Er im selben Sendschreiben aus, »will die Menschheit in ihrem Eigensinn verharren? Wie lange wird das Unrecht fortbestehen? Wie lange sollen Chaos und Verwirrung unter den Menschen herrschen? Wie lange wird Zwietracht das Antlitz der Gesellschaft zerwühlen? Die Winde der Verzweiflung wehen aus jeder Richtung, und der Hader, der das Menschengeschlecht spaltet und peinigt, nimmt täglich zu.«

Der Wiederausbruch der religiösen Unduldsamkeit, der Rassenfeindschaft, der chauvinistischen Anmaßung, die wachsenden Beweise von Selbstsucht, Argwohn, Angst und Betrug, die Ausbreitung des Terrorismus, der Gesetzlosigkeit, der Trunksucht, des Verbrechens, der unstillbare Durst und das fieberhafte Trachten nach weltlichen Nichtigkeiten, Reichtümern und Vergnügungen, die Schwächung der Familienzusammengehörigkeit, die Lockerung der elterlichen Gewalt, das Abgleiten in schwelgerisches Sichgehenlassen, die verantwortungslose Einstellung zur Ehe und ihr zufolge die steigende Flut von Scheidungen, die Entartung von Kunst und Musik, die Vergiftung der Literatur und die Verderbnis der Presse, der wachsende Einfluß und die Geschäftigkeit jener »Propheten des Verfalls«, die für die Kameradschaftsehe eintreten, eine Philosophie der Nacktkultur predigen, Mäßigung ein Hirngespinst nennen, Propheten, welche die Hervorbringung von Kindern als geheiligten Hauptzweck der Ehe ablehnen, die Religion als Opium des Volkes schmähen und, wenn man ihnen freien Lauf ließe, die Menschheit zurück zur Barbarei, zum Chaos und zum schließlichen Erlöschen führen würden - das sind die hervorstechenden Merkmale einer zerfallenden Gesellschaft, die entweder wiedergeboren wird oder umkommen muß.



+7:11 #272
Der Zusammenbruch der politischen und wirtschaftlichen Struktur

Politisch ist ein ähnlicher Niedergang, ein nicht minder deutlicher Beweis für Auflösung und Wirrnis in der Epoche, in der wir leben, festzustellen - in einer Zeit, die ein künftiger Geschichtsschreiber sehr wohl als Einleitung zu dem großen Zeitalter, dessen goldene Tage wir uns erst in Umrissen vorstellen können, erkennen mag.

Die leidenschaftlichen, gewalttätigen Ereignisse, die sich in den letzten Jahren bis fast zu dem Punkte zugespitzt haben, da die politische und wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft völlig zusammenbricht, sind zu zahlreich und zu verwickelt, als daß wir im Rahmen dieses allgemeinen Überblicks versuchen könnten, zu einer angemessenen Bewertung ihrer Wesenszüge zu gelangen. Auch scheinen diese Heimsuchungen, so schmerzlich sie gewesen sein mögen, noch nicht den Höhepunkt erreicht und die volle Wucht ihrer Zerstörungskraft ausgeübt zu haben. Die ganze Welt, wo und wie wir sie auch überblicken, bietet uns das traurige, jämmerliche Schauspiel eines ungeheuren, entkräfteten, im Sterben liegenden Organismus, politisch zerrissen und wirtschaftlich erdrosselt von Kräften, die er nicht mehr kontrollieren oder auch nur begreifen kann. Die Weltwirtschaftskrise, Nachspiel der schlimmsten Gottesgerichte, welche die Menschheit je erlitten hat, die Auflösung des Versailler Systems, das Wiedererstarken des Militarismus in seiner bedrohlichsten Erscheinung, der Fehlschlag ausgedehnter Experimente und das Versagen neugeborener Institutionen vor der Aufgabe, Ruhe und Frieden der Völker, Klassen und Nationen zu sichern, all dies hat die Menschheit bitter enttäuscht und niedergeschlagen. ihre Hoffnungen sind größtenteils zunichte gemacht, ihre Lebenskraft verebbt, ihr Dasein ist seltsam aus den Fugen geraten, ihre Einheit ist ernstlich gefährdet.

#273

Auf dem europäischen Festland gliedern eingefleischter Haß und wachsender Wettkampf die unglücklichen Völker und Nationen ein weiteres Mal in Fronten, die unerbittlich die schrecklichsten Heimsuchungen herbeizuführen drohen, welche die Menschheit in der ganzen langen Geschichte ihres Martyriums erduldet hat. Auf dem nordamerikanischen Kontinent deuten wirtschaftliche Not, industrielle Zerrüttung, weitverbreitete Unzufriedenheit über die fehlgeschlagenen Versuche, eine unausgeglichene Wirtschaftsstruktur wieder in Ordnung zu bringen, ferner eine unruhige Furcht vor der Möglichkeit politischer Verwicklungen in Europa und in Asien darauf hin, daß eine Entwicklungsphase im Kommen ist, die sich als eine der kritischsten in der Geschichte der amerikanischen Republik erweisen könnte. Asien befindet sich noch weitgehend im Griff einer der schwersten Prüfungen seiner neueren Geschichte und sieht sich nunmehr an seinen östlichen Grenzen bedroht und bestürmt von Mächten, welche die Kämpfe des wachsenden Nationalismus und der fortschreitenden Industrialisierung seiner sich befreienden Volksgruppen zu verstärken trachten. Im Herzen Afrikas flammt das Feuer eines grimmigen, blutigen Krieges, der, wie sein Ausgang auch werden mag, durch seine weltweiten Rückwirkungen einen verwirrenden Einfluß auf die Rassen und die farbigen Nationen der Menschheit ausstrahlt.

#274

Mit nicht weniger als zehn Millionen Mann unter Waffen, gedrillt und ausgebildet im Umgang mit den scheußlichsten Vernichtungsmaschinen, welche die Wissenschaft ersonnen hat, mit dreimal so vielen, die über die Herrschaft fremder Rassen und Regierungen aufgebracht und erzürnt sind, mit einem gleich großen Heer verbitterter Bürger, die sich jene materiellen Güter primitivster Notdurft nicht beschaffen können, welche andere bewußt vernichten, mit einer noch größeren Masse menschlicher Wesen, die unter weiter wachsenden Rüstungslasten ächzen und durch den Zusammenbruch des Welthandels verarmt sind - mit Übelständen wie diesen scheint die Menschheit endgültig in den Vorhof der qualvollsten Zeitspanne ihres Daseins einzutreten.

Muß man sich darüber wundern, daß ein bekannter europäischer Minister kürzlich in einer Erklärung mit Vorbedacht diese Warnung geäußert haben soll: »Wenn in Europa nochmals ein Krieg größeren Umfangs ausbricht, muß das den Zusammenbruch der Zivilisation, wie wir sie kennen, zur Folge haben. In den Worten des verstorbenen Lord Bryce: `Wenn ihr den Krieg nicht beendet, wird der Krieg euch beenden.`« »Das arme Europa ist nervenschwach«, bekundet eine der herausragenden Figuren unter seinen gegenwärtigen Diktatoren. »Es hat seine Erholungsfähigkeit verloren, die Lebenskraft des Zusammenhalts, der Synthese. Ein weiterer Krieg würde uns vernichten.« »Wahrscheinlich«, so schreibt einer der hervorragendsten, gelehrtesten Würdenträger der christlichen Kirche, »muß es einen weiteren großen Konflikt in Europa geben, damit ein für allemal eine internationale Gewalt endgültig begründet wird. Dieser Konflikt wird der schrecklichste der schrecklichen werden, und möglicherweise wird unsere Generation bestimmt sein, Hunderttausende von Leben zu opfern.«

#275

Das unglückselige Scheitern sowohl der Abrüstungs- als auch der Wirtschaftskonferenz, die Hemmnisse gegen die Verhandlungen über die Begrenzung der Bewaffnung zur See, der Rückzug zweier der mächtigsten, am schwersten bewaffneten Nationen der Welt aus ihrer Tätigkeit im Völkerbund und ihrer Zugehörigkeit dazu, die Untauglichkeit des parlamentarischen Systems, wie sie die neuesten Entwicklungen in Europa und Amerika bezeugen, die Unfähigkeit der Führer und Vertreter der kommunistischen Bewegung, den vielgepriesenen Grundsatz der Diktatur des Proletariats durch ihr Verhalten zu rechtfertigen, die Gefahren und Entbehrungen, denen die Herrscher der totalitären Staaten in den letzten Jahren ihre Untertanen ausgesetzt haben - all dies beweist über den Schatten eines Zweifels hinaus die Unfähigkeit der heutigen Institutionen, jenes Unheil abzuwenden, das die menschliche Gesellschaft in wachsendem Maße bedroht. Was bleibt da übrig, so mag ein verwirrtes Geschlecht wohl fragen, um die Kluft zu beseitigen, die sich ständig weitet und es jederzeit verschlingen kann?

#276

Auf allen Seiten von sich häufenden Beweisen der Auflösung, des Aufruhrs und des Bankrotts umgeben, beginnen ernsthafte Männer und Frauen aus fast allen Lebensbereichen daran zu zweifeln, daß die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation sich aus eigener Kraft aus dem Morast ziehen kann, in den sie immer tiefer sinkt. Außer der Vereinigung der ganzen Menschheit wurde jedes System versucht, immer aufs neue versucht und für mangelhaft befunden. Kriege wurden immer wieder ausgetragen, Konferenzen ohne Zahl veranstaltet. Verträge, Pakte und Bündnisse wurden emsig ausgehandelt, abgeschlossen und neu überarbeitet. Regierungssysteme wurden geduldig durchgeprüft, beständig neugeformt und voneinander abgelöst. Pläne des wirtschaftlichen Wiederaufbaus wurden sorgfältig ausgedacht und peinlich genau ausgeführt. Und dennoch folgte Krise auf Krise. Die Geschwindigkeit des Niedergangs einer gefährlich schwankenden Welt hat sich entsprechend beschleunigt. Ein gähnender Abgrund droht satte wie hungrige Nationen, Demokratien wie Diktaturen, Kapitalisten wie Lohnempfänger, Europäer wie Asiaten, Juden wie Heiden, Weiße wie Farbige zu verschlingen. Eine zornige Vorsehung, so könnte ein Zyniker bemerken, hat einen hilflosen Planeten seinem Verhängnis überlassen und sein Schicksal unwiderruflich besiegelt. Schmerzgeprüft und enttäuscht, hat die Menschheit zweifellos die Orientierung und, wie es scheint, auch Glauben und Hoffnung verloren. Schwankend, hirtenlos, blind steht sie am Rande des Unheils. Ein Gefühl von unabwendbarem Verhängnis scheint sie zu durchdringen. Immer tieferes Düster senkt sich auf ihr Geschick, während sie immer weiter aus dem Vorhof in die eigentliche Dunkelzone ihres aufgewühlten Lebens hineingleitet.

Und doch: Sollten wir nicht, während die Schatten sich schwarz verdichten, alle Aufmerksamkeit darauf richten, daß Schimmer der Hoffnung immer wieder am internationalen Horizont aufblinken und das Dunkel mindern, das die Menschheit umgibt? Wäre es Lüge zu behaupten, in einer Welt unsteten Glaubens und wirren Denkens, in einer Welt stetig wachsender Kriegsrüstungen, unersättlichen Hasses und Wettkampfes lasse sich der - wenn auch unausgewogene - Fortschritt jener Kräfte, die im Einklang mit dem Zeitgeist arbeiten, bereits ausmachen? Obgleich der Urschrei des Nachkriegs-Nationalismus tagtäglich lauter und aufdringlicher schallt, obgleich der Völkerbund noch im Keimzustand ist, obgleich die Gewitterwolken, die sich zusammenziehen, vorübergehend seine Kräfte völlig verdunkeln und seinen Apparat völlig vernichten mögen, ist doch die Richtung, in der diese Institution wirkt, höchst bedeutungsvoll. Die seit ihrem Anbeginn erhobenen Stimmen, die unternommenen Anstrengungen, die bereits geleistete Arbeit lassen jene Triumphe erahnen, welche die jetzt geschaffene Institution oder eine andere, sie ablösende Körperschaft, zu erringen bestimmt ist.



+7:12 #277
Bahá'u'lláhs Grundsatz kollektiver Sicherheit

Ein allgemeines Sicherheitsabkommen war das Hauptziel, in welchem diese Bemühungen seit der Geburtsstunde des Völkerbundes zusammenstrebten. Der Sicherheitspakt, den die Mitglieder des Bundes in seiner ersten Entwicklungsphase erwogen und beraten hatten, die Debatte über das Genfer Protokoll, dessen Erörterung später unter den Nationen innerhalb wie außerhalb des Bundes so heftigen Streit erregte, der darauf folgende Vorschlag für Vereinigte Staaten von Europa und für den wirtschaftlichen Zusammenschluß des Kontinents, und nicht zuletzt die von den Mitgliedern eingeleitete Sanktionspolitik lassen sich als die wichtigsten Marksteine der wechselvollen Geschichte des Völkerbunds betrachten. Daß nicht weniger als fünfzig Nationen der Welt, alle Mitglieder des Völkerbundes, nach reiflicher Beratung zur Verurteilung einer Angriffshandlung kamen, die einer ihrer Bundesgenossen, eine Großmacht Europas, ihrer Meinung nach vorsätzlich begangen hatte, daß sie sich veranlaßt sahen, dieses Urteil zu verkünden, daß sie meistenteils übereinkamen, gemeinsame Sanktionen gegen den verurteilten Angreifer zu verhängen, daß ihnen die Durchführung dieses Beschlusses sehr weitgehend gelang, ist zweifellos ein Ereignis ohnegleichen in der menschlichen Geschichte. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde so das System kollektiver Sicherheit, das Bahá'u'lláh vorhergesagt und 'Abdu'l-Bahá erläutert hat, ernsthaft erwogen, erörtert und versucht. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde von Amts wegen anerkannt und öffentlich festgestellt, daß für die wirksame Errichtung dieses Systems kollektiver Sicherheit Festigkeit und Anpassungsfähigkeit gleichermaßen vonnöten sind - Festigkeit mit Einschluß des Gebrauchs angemessener Machtmittel als Gewähr für die Wirksamkeit des vorgeschlagenen Systems, Anpassungsfähigkeit des geplanten Apparats, damit er die rechtmäßigen Bedürfnisse und Bestrebungen seiner zu Schaden gekommenen Verfechter sicherstellen kann. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben sich die Nationen der Welt um den Versuch gemüht, kollektive Verantwortung auf sich zu nehmen und ihre verbalen Versprechungen durch die wirkliche Vorbereitung für gemeinsame Maßnahmen zu ergänzen. Und weiter machte sich zum ersten Mal in der Geschichte eine öffentliche Meinung als Bewegung bemerkbar, welche die von den nationalen Führern und Volksvertretern verkündete Entscheidung unterstützte, um kollektive Maßnahmen im Verfolg dieser Entscheidung zu sichern.

#278

Wie klar, wie prophetisch müssen im Lichte der jüngsten internationalen Entwicklungen die Worte klingen, die Bahá'u'lláh geäußert hat: »Seid einig, o Schar der Herrscher dieser Welt, denn dadurch wird der Sturm des Haders unter euch gestillt, und eure Völker finden Ruhe. Sollte einer von euch gegen einen anderen die Waffen ergreifen, so erhebt euch alle gegen ihn, denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.« »Die Zeit muß kommen«, schreibt Er in Voraussicht der tastenden Bemühungen, die jetzt angestellt werden, »da die gebieterische Notwendigkeit für die Abhaltung einer ausgedehnten, allumfassenden Versammlung der Menschen weltweit erkannt wird. Die Herrscher und Könige der Erde müssen ihr unbedingt beiwohnen, an ihren Beratungen teilnehmen und solche Mittel und Wege erörtern, die den Grund zum Größten Weltfrieden unter den Menschen legen ... Sollte ein König die Waffen gegen einen anderen ergreifen, so müssen sich alle vereint erheben und ihn daran hindern.«

#279

»Die Herrscher der Welt«, schreibt 'Abdu'l-Bahá in Ausarbeitung dieses Themas, »müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen eindeutig, unverletzlich und bestimmt sind. Sie müssen ihn der ganzen Welt bekanntgeben und die Bestätigung des gesamten Menschengeschlechts für ihn erlangen ... Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und den Bestand dieses größten aller Bündnisse zu sichern ... Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so festgelegt werden, daß bei einer späteren Verletzung einer Bestimmung durch eine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die Menschheit als Ganzes sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu stürzen.«

#280

So bedeutend und beispiellos das bisher Erreichte auch in der Menschheitsgeschichte dasteht, bleibt es doch ohne jeden Zweifel unermeßlich weit hinter den lebensnotwendigen Anforderungen des Systems, das diese Worte voraussehen, zurück. Dem Völkerbund fehlt noch, wie seine Gegner bemerken, die Weltweite, das Grunderfordernis dauerhaften Erfolges in der wirksamen Erledigung internationaler Streitfragen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, sein Stammvater, haben ihn verschmäht und halten sich abseits, während Deutschland und Japan, die zu seinen mächtigsten Stützen zählten, seine Sache im Stich ließen und ihre Mitgliedschaft niederlegten. Die gefaßten Beschlüsse und die bislang durchgeführten Maßnahmen, so werden andere behaupten, sollten nicht für mehr als eine großartige Geste gehalten werden, kaum jedoch für einen schlüssigen Beweis internationaler Solidarität. Wieder andere mögen behaupten, daß trotz der verkündeten Entscheidung, trotz der gegebenen Zusagen kollektive Maßnahmen letzten Endes den eigentlichen Zweck verfehlen, daß der Völkerbund selbst zugrundegehen und von der Flut von Heimsuchungen, die über das ganze Menschengeschlecht kommen müsse, weggespült werde. Sei es, wie es will, die Bedeutung der bereits unternommenen Schritte ist nicht zu leugnen. Wie immer die gegenwärtige Rechtslage des Völkerbunds auch sei, was immer seine historische Entscheidung nach sich ziehe, welche Prüfungen und Rückschläge er in nächster Zukunft auch gewärtigen und ertragen muß, die Tatsache bleibt anzuerkennen, daß eine derart wichtige Entscheidung einen der bedeutendsten Meilensteine auf dem langen, mühseligen Weg darstellt, der den Bund zu seinem Endziel führen muß: der Stufe, auf der die Einheit der gesamten Körperschaft der Nationen zum Leitgrundsatz des internationalen Lebens gemacht sein wird.

#281

Dieser historische Schritt ist jedoch nur ein matter Schimmer in dem Dunkel, das eine aufgewühlte Menschheit umhüllt. Wohl kann er sich gar nur als ein kurzes Aufleuchten, ein flüchtiger Schein inmitten immer tieferer Wirrnis erweisen. Unerbittlich muß der Prozeß der Auflösung weitergehen, muß seinen ätzenden Einfluß immer tiefer ins Mark eines hinfälligen Zeitalters hineintreiben, viel Leid wird nötig sein, ehe die streitenden Nationen, Bekenntnisse, Klassen und Rassen der Menschheit im Schmelztiegel weltweiter Heimsuchung verschmolzen und im Feuer eines grimmigen Gottesgerichts zu einem organischen Gemeinwesen, einem großen, geeinten, harmonisch arbeitenden System geschmiedet sein werden. Unvorstellbar schreckliche Not, ungeahnte Krisen und Aufstände, Krieg, Hunger und Pestilenz mögen sich wohl vereinen, um in die Seele eines achtlosen Geschlechts jene Wahrheiten und Grundsätze einzugraben, die anzuerkennen und zu befolgen es verschmäht hat. Eine Lähmung, schmerzlicher als jede, die sie bis jetzt erlitten hat, muß das Gewebe einer zerbrochenen Gesellschaft durchschaudern und heimsuchen, ehe sie neu erbaut und wiedergeboren werden kann.

»Die von den gelehrten Größen der Kunst und der Wissenschaft so oft gepriesene Zivilisation«, schreibt Bahá'u'lláh, »wird großes Unglück über die Menschen bringen, wenn man ihr gestattet, die Grenzen der Mäßigung zu überschreiten ... Ins Übermaß gesteigert, wird sich die Zivilisation als eine ebenso ergiebige Quelle des Übels erweisen, wie sie, in den Schranken der Mäßigung gehalten, eine Quelle des Guten war ... Es naht der Tag, da ihre Flamme die Städte verschlingt, da die Zunge der Größe verkündet: `Das Reich ist Gottes, des Allmächtigen, des Allgepriesenen!`« »Seit dem Augenblick, da die Súriy-i-Ra'ís¹ offenbart wurde«, so erklärt Er weiter, »bis auf den heutigen Tag ist weder die Welt zur Ruhe gekommen noch sind die Herzen ihrer Bewohner in Frieden gewesen ... Ihre Krankheit nähert sich dem Zustand äußerster Hoffnungslosigkeit, da der wahre Arzt gehindert wird, das Heilmittel zu reichen, während man ungeübte Quacksalber mit Wohlgefallen sieht und ihnen volle Handlungsfreiheit gewährt. Der Staub des Aufruhrs umwölkt der Menschen Herzen und blendet ihre Augen. Bald werden sie die Folgen dessen sehen, was ihre Hände am Tage Gottes bewirkt haben.« »Dies ist der Tag«, schreibt Er weiter, »da die Erde ihre Botschaft preisgeben soll. Die Übeltäter sind ihr eine Last ... Der Rufer hat gerufen, und die Menschen wurden hinweg gefegt, so groß war Seines Zornes Rasen. Das Volk zur Linken seufzt und klagt. Das Volk zur Rechten aber wohnt in herrlichen Gemächern. Sie trinken den Wein, der wahrhaft Leben ist, aus den Händen des Allbarmherzigen, und sie sind, wahrlich, die Glückseligen.«

¹ das Sendschreiben an den türkischen Großwesir 'Alí Páshá, August 1868



+7:13 #282
Die Gemeinde des Größten Namens

Wer anders können die Glückseligen sein, wenn nicht die Gemeinde des Größten Namens, deren weltumfassende, ständig mehr gefestigte Wirksamkeit den eigentlichen Integrationsprozeß darstellt in einer Welt, deren weltliche wie geistliche Institutionen sich meistenteils auflösen? Sie sind wahrlich »das Volk zur Rechten«, dessen »herrliche Gemächer« auf den Grundmauern der Weltordnung Bahá'u'lláhs errichtet sind, der Arche ewigen Heils an diesem schrecklichsten aller Tage. Sie allein unter allen Geschlechtern auf Erden können inmitten der Wirrnis einer stürmischen Zeit erkennen, wie die Hand des göttlichen Erlösers den Lauf der Dinge vorzeichnet und die Geschicke lenkt. Sie allein wissen um das stille Wachstum jener geordneten Weltverfassung, deren Stoff sie selbst weben.

#283

Im Bewußtsein ihrer hohen Berufung, im vertrauen auf die gesellschaftsbildende Macht ihres Glaubens, drängen sie unerschrocken vorwärts, unverzagt bemüht, die notwendigen Werkzeuge für die Aufzucht und Entwicklung der keimhaften Weltordnung Bahá'u'lláhs zu schmieden und zu vervollkommnen. Das ist der langsame, unaufdringliche Aufbauvorgang, dem das gesamte Leben der weltweiten Bahá'í-Gemeinschaft geweiht ist. Er verkörpert die einzige Hoffnung einer todkranken Gesellschaft; denn dieser Vorgang wird vorangetrieben durch den schöpferischen Einfluß des unveränderlichen göttlichen Willens, und er entfaltet sich im Rahmenwerk der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung Seines Glaubens.

In einer Welt, deren Gefüge politischer und gesellschaftlicher Institutionen schadhaft, deren Gewissen irregeführt ist, deren Religionssysteme blutleer geworden sind und ihre Tugendkraft verloren haben, hat nun dieses heilende Mittel, diese den Teig durchsäuernde Macht, diese zementierende Kraft, allbelebend und alldurchdringend, Gestalt angenommen. Sie verdichtet sich in Institutionen, mobilisiert ihre Kräfte und bereitet sich für die geistige Eroberung und völlige Erlösung der Menschheit. Mag die Gemeinschaft, die solche Ideale verkörpert, auch klein sein, mag der unmittelbare, greifbare Nutzen, den sie stiftet, auch noch unbedeutend sein, so sind doch die Möglichkeiten, mit denen sie ausgestattet ist und durch die sie den einzelnen Menschen zur Wiedergeburt, die zerbrochene Welt zum Wiederaufbau zu führen bestimmt ist, völlig unabsehbar.

#284

Fast ein Jahrhundert lang konnte diese Gemeinschaft inmitten des Lärms und des Aufruhrs einer außer sich geratenen Zeit, trotz der ununterbrochenen Verfolgungen, denen ihre Führer, ihre Institutionen und ihre Anhänger ausgesetzt waren, ihre Identität wahren, ihre innere Kraft und Stärke mehren, ihre organische Einheit behaupten, ihre Gesetze und Grundsätze rein erhalten, ihre Verteidigungsanlagen bauen, ihre Institutionen erweitern und festigen. Zahlreich und mächtig waren die Kräfte, die von innen wie von außen, in fernen Landen und im nahen Umkreis, ihr Licht zu löschen und ihren heiligen Namen zu tilgen suchten. Manche haben sich von ihren Grundsätzen abgekehrt und ihre Sache schmählich verraten. Andere haben gegen sie die zornigsten Bannflüche geschleudert, deren erbitterte Führer kirchlicher Institutionen fähig sind. Wieder andere haben Trübsale und Demütigungen auf sie gehäuft, wie sie nur eine unumschränkte Obrigkeit in der Fülle ihrer Macht verhängen kann.

Das Äußerste, was ihre offenen und geheimen Feinde zu erreichen hoffen konnten, war eine Verzögerung ihres Wachstums und eine vorübergehende Verdunkelung ihrer Ziele. Was sie aber wirklich erreichten, war, daß ihr Leben geläutert, gereinigt und zu noch größerer Tiefe angeregt wurde, daß ihre Seele förmlich galvanisiert wurde, ihre Institutionen ausgeputzt, ihre Einheit verfestigt. Ein Schisma, eine bleibende Kluft in der großen Körperschaft ihrer Anhänger, konnten die Feinde nie schaffen.

Die Verräter an der Sache Gottes, die Lauen und verzagten unter ihren Anhängern, welkten dahin und fielen wie dürre Blätter ab, ohne die Macht, ihren Strahlenglanz zu umwölken oder ihren Bau zu gefährden, ihre unerbittlichsten Feinde, die Angreifer von außen, wurden aus ihren Machtstellungen gestürzt und auf die erstaunlichste Weise von ihrem Schicksal ereilt. Persien war das erste Land, das die Sache Gottes unterdrückte und bekämpfte, und Persiens Monarchen waren elend zugrunde gegangen, ihr Herrscherhaus war zusammengebrochen, ihr Name wurde verflucht, die Geistlichkeit, die mit ihnen verbündet war und ihren Staat im Niedergang gestützt hatte, war gänzlich in Verruf geraten. Die Türkei, die den Begründer dieser Sache dreimal verbannt und ihm Seine grausame, lebenslange Kerkerhaft auferlegt hatte, war durch eines der schwersten Gottesgerichte, eine der folgenreichsten Revolutionen ihrer Geschichte gegangen und von einem der mächtigsten Großreiche zu einer bescheidenen asiatischen Republik zusammengeschrumpft. Ihr Sultanat war ausgelöscht, ihr Herrscherhaus gestürzt, ihr Kalifat, die mächtigste Institution des Islám, abgeschafft.

Unterdessen schritt der Glaube, welcher Gegenstand so ungeheurer Verrätereien, Ziel so schmerzlicher Angriffe gewesen war, von Erfolg zu Erfolg, unerschrocken und ungespalten durch die Wunden, die er einstecken mußte. Mitten in den Heimsuchungen begeisterte er seine getreuen Anhänger mit einer Entschlossenheit, die kein noch so furchtbares Hindernis untergraben konnte. In ihren Herzen hatte er eine Zuversicht entzündet, wie sie kein noch so finsteres Unglück mehr zu löschen in der Lage war. Ihren Herzen hatte er eine Hoffnung eingegeben, die keine noch so entschlossene Macht mehr erschüttern konnte.



+7:14 #285
Eine Weltreligion

Der Glaube Bahá'u'lláhs hat aufgehört, sich als eine Bewegung zu verstehen, als eine Bruderschaft oder dergleichen - Bezeichnungen, die seinem stetig sich entfaltenden System grobes Unrecht getan haben. Er rückt ab von Benennungen wie Bábí-Sekte, asiatischer Kult und Ableger des shí'itischen Islám, womit ihn die Unwissenden und Böswilligen zu behängen pflegten. Er lehnt es ab, als bloße Lebensphilosophie, als eklektisches System sittlicher Lebensführung, ja selbst als nur eine neue Religion etikettiert zu werden. Vielmehr beweist der Glaube Bahá'u'lláhs nunmehr mit sichtbarem Erfolg seinen Anspruch und sein Anrecht auf Anerkennung als eine Weltreligion, dazu bestimmt, in der Fülle der Zeit die Stellung eines weltumfassenden Gemeinwesens einzunehmen, das gleichzeitig Werkzeug und Hüter des von seinem Begründer angekündigten Größten Friedens ist. Weit davon entfernt, die Vielzahl der bestehenden Religionssysteme vermehren zu wollen, deren gegensätzliche Treuepflichten viele Menschenalter hindurch den Frieden der Menschheit gestört haben, vermittelt dieser Glaube jedem seiner Anhänger eine neue Liebe für die verschiedenen Religionen, die in seinem Bereich vertreten sind, und für die Einheit, die ihnen allen zugrundeliegt.

#286

»Er ist wie eine weite Umarmung«, so das Zeugnis einer Königin¹ für den Anspruch und die Stellung dieses Glaubens, »eine Umarmung, die alle jene zusammenführt, welche lange nach Worten der Hoffnung gesucht haben. Er anerkennt alle großen Propheten, die ihm vorangegangen sind, reißt keine anderen Glaubensbekenntnisse nieder und läßt alle Türen offen.« »Die Bahá'í-Lehre«, schreibt sie weiter, »bringt der Seele Frieden und dem Herzen Hoffnung. Wer nach Gewißheit sucht, dem sind die Worte des Vaters wie ein Springquell in der Wüste nach langer Wanderschaft.« »Ihre Schriften«, bezeugt sie in einer anderen Erklärung mit Bezug auf Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá, »sind ein großer Ruf zum Frieden, der über alle Grenzpfähle hinausreicht und alle Meinungsverschiedenheiten wegen Riten und Dogmen übersteigt ... Es ist eine wundersame Botschaft, die Bahá'u'lláh und Sein Sohn 'Abdu'l-Bahá uns gegeben haben. Beide haben diese Botschaft nicht aggressiv aufgemacht, weil sie wußten, daß der Keim ewiger Wahrheit, der in ihrem Innersten liegt, WurzeIn schlagen und sich ausdehnen muß.« »Wenn je der Name Bahá'u'lláhs oder 'Abdu'l-Bahás«, so ihre abschließende Mahnung, »Ihnen zur Kenntnis kommt, legen Sie ihre Schriften nicht beiseite! Durchforschen Sie ihre Bücher, lassen Sie ihre herrlichen, friedebringenden, liebeschaffenden Worte und Lehren in Ihr Herz dringen, wie sie in das meinige gedrungen sind.«

¹ Königin Maria von Rumänien, Enkelin der Queen Victoria und des Zaren Alexander II., an die Bahá'u'lláh Sendschreiben gerichtet hatte, nahm 1926 den Bahá'í-Glauben an und bekannte sich öffentlich zu ihm.

#287

Kraft seiner schöpferischen, steuernden, veredelnden Energien hat der Glaube Bahá'u'lláhs die vielerlei Rassen, Nationalitäten, Glaubensbekenntnisse und Gesellschaftsschichten, die seinen Schatten gesucht und seiner Sache unverbrüchliche Lehenstreue gelobt haben, einander angeglichen. Er hat die Herzen seiner Anhänger gewandelt, ihre Vorurteile hinweggeschmolzen, ihre Leidenschaften gestillt, ihren Lebensstil gehoben, ihre Beweggründe veredelt, ihre Bemühungen aufeinander abgestimmt, ihre Erwartungen umgestaltet. Ihre Vaterlandsliebe haben die Anhänger Bahá'u'lláhs bewahrt. Ihre nachgeordneten Treuepflichten haben sie abgesichert, aber darüber hinaus hat sie ihr Glaube zu Liebenden der Menschheit und zu festen Stützen für deren besten, wahrsten Interessen gemacht. Ihren Glauben an den göttlichen Ursprung ihrer jeweiligen Religionen haben sie sich unversehrt erhalten, aber darüber hinaus hat sie ihre neue Überzeugung befähigt, sich von dem Zweck, der diesen Religionen zugrundeliegt, ein Bild zu machen, deren besonderen Verdienste, Aufeinanderfolge, wechselseitige Abhängigkeit, Ganzheit und Einheit wahrzunehmen und das Band anzuerkennen, das sie mit ihrem neuen Glauben lebendig verknüpft. Die allumfassende, überragende Liebe der Anhänger des Bahá'í-Glaubens für ihre Mitmenschen, gleich welcher Rasse, welchen Bekenntnisses, welcher Klasse oder Nation, ist weder geheimnisvoll noch könnte man sagen, sie sei künstlich aufgeputscht. Sie ist spontan und echt. Wessen Herz vom kraftspendenden Einfluß der schöpferischen Liebe Gottes erwärmt ist, der liebt Gottes Geschöpfe um Gottes willen und erkennt in jedem menschlichen Antlitz ein Zeichen Seiner widerstrahlenden Herrlichkeit.

#288

Von solchen Männern und Frauen kann in Wahrheit gesagt werden, für sie sei »jedes fremde Land ein Vaterland, und jedes Vaterland ein fremdes Land«. Denn ihr Bürgerrecht - das muß festgehalten werden - ist das Königreich Bahá'u'lláhs. Durchaus willens, an den zeitlichen Segnungen und flüchtigen Freuden dieses irdischen Lebens bis zum letzten teilzuhaben, durchaus darauf bedacht, an jeder Tätigkeit für Reichtum, Glück und Frieden dieses Erdenlebens mitzuwirken, können sie doch keinen Augenblick lang vergessen, daß es sich hier nur um einen vorübergehenden, nur um einen kurzen Abschnitt ihres Daseins handelt, daß jene, die diesen Abschnitt durchleben, nur Pilger und Wanderer sind, deren Ziel die Himmlische Stadt und deren Heimat das Land unversieglicher Freude und Herrlichkeit ist.

Ihren jeweiligen Regierungen treu ergeben, an allen Fragen, die deren Sicherheit und Wohlfahrt berühren, ernsthaften Anteil nehmend, auf ihren eigenen Beitrag zur Förderung der besten Interessen ihrer Regierungen bedacht, glauben die Anhänger Bahá'u'lláhs dennoch fest, daß Gott die Sache, für die sie einstehen, hoch über die Stürme, Spaltungen und Gegensätze der politischen Kampfbahn erhoben hat. Sie erfassen ihren Glauben als dem Wesen nach unpolitisch, supranational, streng unparteiisch und völlig losgelöst von nationalistischen Ambitionen, Bestrebungen und Plänen. Solcher Glaube kennt keine Teilung in Klassen oder Parteien. Ohne Zögern, ohne Zweideutigkeit ordnet er jedes Sonderinteresse persönlicher, regionaler oder nationaler Art den alles überragenden Interessen der Menschheit unter, fest davon überzeugt, daß in einer Welt gegenseitig abhängiger Völker und Nationen das Wohl des Teils am besten durch das Wohl des Ganzen zu erreichen ist und daß der Teil keinen bleibenden Nutzen gewinnen kann, wenn das allgemeine Wohl des Ganzen bestritten oder vernachlässigt wird.

#289

Kein Wunder, daß die Feder Bahá'u'lláhs in der Vorausschau auf den gegenwärtigen Zustand der Menschheit offenbarte:»Ruhm gebührt nicht dem, der sein eigenes Land liebt, sondern dem, der die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.« Und wiederum: »Der wahrlich ist Mensch, der sich heute dem Dienste an der ganzen Menschheit weiht.« »Durch die Macht, die mit diesen erhabenen Worten entfesselt worden ist, hat Er den Vögeln der Menschenherzen frischen Schwung und neue Richtung gegeben und jede Spur von Vorbehalt und Grenze aus Gottes Heiligem Buch getilgt.«

Mehr noch: Ihr Glaube ist nach der festen Überzeugung der Bahá'í überkonfessionell, nicht sektiererisch, und völlig getrennt von jedem Kirchensystem, einerlei, welcher Form, welchen Ursprungs oder welcher Tätigkeit es auch sei. Keine kirchliche Organisation mit den ihr eigenen Glaubensbekenntnissen, Überlieferungen, Begrenzungen und beschränkten Erwartungen läßt sich - ebensowenig wie alle bestehenden politischen Gruppierungen, Parteien, Systeme und Programme - als nach allen Gesichtspunkten vereinbar mit den Hauptlehren des Bahá'í-Glaubens bezeichnen. Manche dieser Grundsätze und Ideale, wie sie politische und kirchliche Institutionen beseelen, kann jeder gewissenhafte Anhänger des Glaubens Bahá'u'lláhs ohne Zweifel bereitwillig unterschreiben, aber mit keiner dieser Institutionen kann er sich identifizieren, noch kann er deren Glaubensbekenntnisse, Grundsätze und Programme vorbehaltlos unterzeichnen.

#290

Wie könnte ein Glaube - das sollte weiterhin bedacht werden -, dessen gottgewollte Institutionen im Rechtsbereich von nicht weniger als vierzig verschiedenen Ländern begründet sind, Ländern, deren Regierungspolitik und Interessen ständig aneinanderstoßen und Tag für Tag wirrer und verwickelter werden, - wie könnte ein solcher Glaube erfolgreich die Unversehrtheit seiner Lehren und die Einheit seiner Anhänger wahren, wenn er diesen verstattete, sich einzeln oder organisiert durch ihre Räte auf politische Betätigungen einzulassen? Wie könnte er die kraftvolle, ununterbrochene, friedliche Entwicklung seiner sich ausbreitenden Institutionen sichern? Wie könnte ein Glaube, den seine Verzweigungen mit gegenseitig unvereinbaren Religionssystemen, Sekten und Bekenntnissen in Berührung gebracht haben, die unbedingte Ergebenheit derer beanspruchen, die er in sein gottbestimmtes System einzugliedern sucht, wenn er seinen Anhängern erlaubte, in überholte Bräuche und Lehren einzuwilligen? Wie könnte er die fortgesetzten Reibereien, Mißverständnisse und Streitigkeiten vermeiden, die sich aus einer formellen Angliederung - im Unterschied zu einem geselligen Umgang - unvermeidlich ergäben?

#291

Diese leitenden und steuernden Grundsätze des Bahá'í-Glaubens zu verfechten und umsichtig anzuwenden, sehen sich die Vertreter der Sache Bahá'u'lláhs in dem Maße gehalten, wie sich ihre Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung erweitert und festigt. Die Erfordernisse eines langsam kristallisierenden Glaubens auferlegen ihnen eine Verpflichtung, die sie nicht umgehen, eine Verantwortung, der sie sich nicht entziehen können.

Auch vergessen sie nicht die gebieterische Notwendigkeit, die Gesetze, welche Bahá'u'lláh gegeben hat - im Unterschied zu Seinen Leit- und Grundsätzen - zu verfechten und anzuwenden, bilden doch Gesetze und Grundsätze zusammen Kette und Schuß jener Institutionen, auf denen der Bau Seiner Weltordnung letzten Endes ruhen muß. Um ihre Nützlichkeit und Wirksamkeit darzulegen, um sie auszuführen und anzuwenden, ihre Unversehrtheit zu wahren, ihre Folgerungen zu begreifen und ihre öffentliche Verbreitung zu ermöglichen, entfalten die Bahá'í-Gemeinden im Osten und neuerdings im Westen äußerste Anstrengungen und sind nötigenfalls zu allen verlangten Opfern bereit. Der Tag mag nicht mehr fern sein, da in gewissen Ländern des Ostens, in denen die Religionsgemeinschaften standesamtliche Rechte üben, die Bahá'í-Räte berufen sein werden, die Pflichten und Verantwortlichkeiten amtlich verfaßter Bahá'í-Gerichtshöfe zu übernehmen. Sie werden dann bevollmächtigt sein, in Sachen wie Eheschließung, Scheidung und Erbschaft innerhalb ihres jeweiligen Rechtsbereichs und mit Genehmigung der Zivilbehörden solche Gesetze und Verordnungen auszuführen und anzuwenden, die ausdrücklich in ihrem Heiligsten Buche vorgesehen sind.

#292

Über solche Strömungen und Tätigkeiten hinaus, wie sie die Entwicklung jetzt zeigt, hat der Glaube Bahá'u'lláhs auf anderen Gebieten, wo immer der Glanz seines Lichtes in die Tiefe gedrungen ist, die Kraft seines inneren Zusammenhalts, seiner Integrationsfähigkeit, seines unbesiegbaren Geistes unter Beweis gestellt. Die Errichtung und Einweihung des Hauses der Andacht im Herzen des nordamerikanischen Erdteils, der Aufbau und die Vermehrung der Verwaltungssitze im Lande seiner Geburt und in den Nachbarstaaten, die Gestaltung der gesetzlichen Werkzeuge für die Sicherung und Leitung des Gemeinschaftslebens in seinen Institutionen, die Ansammlung ausreichender materieller wie kultureller Hilfsmittel auf jedem Kontinent des Erdballs, die Stiftungen, die der Glaube in nächster Umgebung der Schreine an seinem Weltzentrum begründet hat, die Bemühungen um die Sammlung, Beglaubigung und systematische Ordnung der Schriften seiner Begründer, die Maßnahmen für den Erwerb jener historischen Stätten, die mit dem Leben seines Vorläufers und seines Begründers, seiner Helden und Märtyrer verknüpft sind, die Grundlagen, die für die allmähliche Bildung und den Bau seiner Erziehungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen gelegt worden sind, die tatkräftigen Bemühungen um die Sicherung der besonderen Wesensart, die Anregung der Initiative und die Zuordnung der weltweiten Tätigkeiten seiner Jugend, die außergewöhnliche Lebenskraft, mit der seine tapferen Verteidiger, seine gewählten Vertreter, seine Reiselehrer und seine bahnbrechenden Verwalter seine Sache vertreten, seine Grenzpfähle weitertragen, sein Schrifttum bereichern und die Grundlagen seiner geistigen Eroberungen und Triumphe stärken, die Anerkennung, welche die Zivilbehörden in gewissen Fällen der Körperschaft ihrer örtlichen und nationalen Vertreter zu zollen veranlaßt wurden, wodurch jene in der Lage waren, ihre Räte gesetzlich einzutragen, ihre Hilfsinstitutionen aufzubauen und ihre Stiftungen rechtlich abzusichern, die Vergünstigungen, welche jene selben Behörden den Schreinen dieses Glaubens, seinen geweihten Bauten und seinen Erziehungseinrichtungen gewährten, die entschlossene Begeisterung, mit der gewisse schwergeprüfte und gequälte Gemeinden ihre Tätigkeiten wieder aufnehmen, die spontane Anerkennung, die eine Königin, Prinzen, Staatsmänner und Gelehrte der Erhabenheit seiner Sache und der Stufe seines Begründers zollten - diese und viele andere Erscheinungen beweisen über jeden Zweifel hinaus die Kraft und Fähigkeit, mit der der Glaube Bahá'u'lláhs jenen zerstörerischen Einflüssen entgegenwirkt, denen Religionssysteme, sittliche Maßstäbe, politische und gesellschaftliche Institutionen ansonsten ausgesetzt sind.

#293

Von Island bis Tasmanien, von Vancouver bis zum chinesischen Meer breitet sich der Glanz und dehnen sich die Verzweigungen dieses weltumspannenden Systems, dieser vielfarbigen, festverknüpften Bruderschaft. Jedem Mann und jeder Frau, die es für seine Sache gewonnen hat, vermittelt dieses System eine Hoffnung und eine Tatkraft, wie sie ein eigensinniges Geschlecht seit langem verloren hat und wieder zu erlangen machtlos ist. Jene, die über die unmittelbaren Geschicke dieser gepeinigten Welt die Aufsicht führen, für ihren chaotischen Zustand, ihre Ängste, Zweifel und Trübsale verantwortlich sind, tun in ihrer Verwirrung gut daran, ihr Augenmerk auf die Beweise dieser rettenden Gnade des Allmächtigen zu lenken und in ihrem Herzen darüber nachzudenken - einer Gnade, die ihre eigene Last erleichtern, ihre Verlegenheit beseitigen, ihren Pfad erleuchten kann.



+7:15 #294
Göttliche Vergeltung

Das ganze Menschengeschlecht stöhnt und schmachtet danach, zur Einheit geführt zu werden und sein lange Zeitalter währendes Martyrium zu beenden. Und dennoch weigert es sich hartnäckig, das Licht aufzunehmen und die souveräne Amtsgewalt jener einzigen Macht anzuerkennen, die es aus seinen Verwicklungen befreien und das leidvolle Unheil abwenden kann, das es in den Abgrund zu reißen droht.

Schicksalsträchtig ist in der Tat die Stimme Bahá'u'lláhs, die aus diesen prophetischen Worten klingt: »O Völker der Welt! Wisset wahrlich, daß unerwartetes Unheil euch verfolgt und schmerzliche Vergeltung euer harrt. Wähnet nicht, was ihr begangen habt, sei vor Meinem Angesicht getilgt.« Und wiederum: »Wir haben euch eine Frist gesetzt, o Völker. Wenn ihr versäumt, euch bis zur festgesetzten Stunde Gott zuzuwenden, wird Er wahrlich gewaltig Hand an euch legen und schwere Leiden von allen Seiten über euch kommen lassen. Wie streng ist fürwahr die Züchtigung, mit der euer Herr euch dann züchtigen wird!«

Muß die Menschheit wirklich, gepeinigt wie sie schon ist, noch schlimmer von Drangsalen befallen werden, ehe deren läuternder Einfluß sie für den Eintritt in das himmlische Königreich, das auf Erden errichtet werden soll, vorbereiten kann? Muß der Beginn eines so großen, so einzigartigen, so erleuchteten Zeitalters angekündigt werden durch eine Katastrophe in den menschlichen Angelegenheiten von solchen Ausmaßen, daß sie den entsetzlichen Zusammenbruch der römischen Kultur in den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters in Erinnerung ruft, ja übertrifft? Muß eine Folge tiefgreifender Erschütterungen das Menschengeschlecht rütteln und schütteln, ehe Bahá'u'lláh im Herzen und Gewissen der Massen auf den Thron gesetzt werden kann, ehe Seine Überlegenheit allgemein und unumstritten anerkannt wird, ehe das edle Bauwerk Seiner Weltordnung aufgeschlagen und errichtet wird?

Die langen Zeiten der Kindheit und der Minderjährigkeit, welche die Menschheit zu durchschreiten hatte, sind in den Hintergrund getreten. Die Menschheit erlebt jetzt die Erregungen, die unabänderlich mit der stürmischsten Stufe ihrer Entwicklung, dem Jünglingsalter, verbunden sind. In dieser Zeit erreichen jugendliche Unbändigkeit und Heftigkeit den Höhepunkt; sie müssen Schritt für Schritt von der Ruhe, der Weisheit und der Vollendung abgelöst werden, welche die Stufe des Mannesalters kennzeichnen. Dann wird das Menschengeschlecht jene Gestalt der Reife erlangen, die es befähigen wird, alle die Kräfte und Fähigkeiten zu erwerben, von denen seine Entwicklung letztlich abhängt.



+7:16 #295
Welteinheit ist das Ziel

Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschliche Gesellschaft heute nähert. Die Einheit der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation ist nacheinander in Angriff genommen und völlig erreicht worden. Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit zustrebt. Der Aufbau von Nationalstaaten ist zu einem Ende gekommen. Die Anarchie, die der nationalstaatlichen Souveränität anhaftet, nähert sich heute einem Höhepunkt. Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muß diesen Fetisch aufgeben, die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für allemal den Apparat aufrichten, der diesen Leitgrundsatz ihres Daseins am besten zu verkörpern vermag.

#296

»Neues Leben«, verkündet Bahá'u'lláh, »regt sich in diesem Zeitalter bei allen Völkern der Erde, und doch hat niemand seine Ursache entdeckt oder seinen Antrieb wahrgenommen.« »O ihr Menschenkinder«, redet Er Seine Zeitgenossen an, »die Grundabsicht, die den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist, das Wohl des Menschengeschlechts zu sichern und seine Einheit zu fördern ... Dies ist der gerade Pfad, die feste, unverrückbare Grundlage. Was immer auf diese Grundlage gebaut wird, dessen Stärke können Wandel und Wechsel der Welt nie beeinträchtigen, noch wird der Ablauf zahlloser Jahrhunderte seinen Bau untergraben.« »Die Wohlfahrt der Menschheit«, erklärt Er, »ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn und bevor nicht ihre Einheit fest begründet ist.« »So mächtig ist das Licht der Einheit«, so lautet Sein weiteres Zeugnis, »daß es die ganze Erde zu erleuchten vermag. Der eine wahre Gott, der alle Dinge kennt, bezeugt die Wahrheit dieser Worte ... Dieses Ziel überragt jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst allen Strebens.« »Er, der euer Herr ist, der Allerbarmer«, so hat Er ferner geschrieben, »hegt in Seinem Herzen den Wunsch, die ganze Menschheit als eine Seele und einen Körper zu sehen. Eilt, euren Anteil an Gottes Huld und Barmherzigkeit zu erlangen an diesem Tage, der alle anderen erschaffenen Tage in den Schatten stellt.«

#297

Die Einheit des Menschengeschlechts, wie sie Bahá'u'lláh vorausschaut, umschließt die Begründung eines Weltgemeinwesens, in welchem alle Nationen, Rassen, Glaubensbekenntnisse und Klassen eng und dauerhaft vereint, die Autonomie seiner nationalstaatlichen Glieder sowie die persönliche Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Menschen, aus denen es gebildet ist, ausdrücklich und völlig gesichert sind. Dieses Gemeinwesen muß, soweit wir es uns vorstellen können, aus einer Weltlegislative bestehen, deren Mitglieder als Treuhänder der ganzen Menschheit die gesamten Hilfsquellen aller Mitgliedstaaten überwachen. Sie muß die erforderlichen Gesetze geben, um das Leben aller Rassen und Völker zu steuern, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre wechselseitigen Beziehungen anzupassen. Eine Weltexekutive, gestützt auf eine internationale Streitmacht, wird die Beschlüsse jener Weltlegislative ausführen, deren Gesetze anwenden und die organische Einheit des ganzen Gemeinwesens sichern. Ein Weltgerichtshof wird seine bindende, endgültige Entscheidung in sämtlichen Streitfragen, die zwischen den vielen Gliedern dieses allumfassenden Systems auftreten können, fällen und zustellen. Ein Netzwerk weltweiter Kommunikation wird ersonnen werden; es wird den ganzen Erdball umspannen und, von allen nationalen Hindernissen und Beschränkungen frei, mit wunderbarer Schnelligkeit und vollkommener Pünktlichkeit ablaufen. Eine Welthauptstadt wird als Nervenzentrum einer Weltzivilisation und als Brennpunkt wirken, in dem die einigenden Lebenskräfte zusammenlaufen und von dem ihre kraftbringenden Einflüsse ausstrahlen werden. Eine Weltsprache wird entweder geschaffen oder unter den bestehenden Sprachen ausgewählt und in den Schulen aller verbündeten Nationen als ein Hilfsmittel neben der jeweiligen Muttersprache gelehrt werden. Eine Weltschrift, eine Weltliteratur, ein einheitliches, allumfassendes Währungs-, Gewichts- und Maßsystem werden den Verkehr und die Verständigung unter den Nationen und Rassen der Menschheit vereinfachen und erleichtern. In dieser Weltgesellschaft werden Wissenschaft und Religion, die beiden gewaltigsten Kräfte im menschlichen Leben, in Einklang gebracht sein; sie werden zusammenwirken und sich harmonisch entwickeln. Die Presse wird in einem solchen System der Darlegung der verschiedenen Ansichten und Überzeugungen der Menschheit vollen Spielraum gewähren, aber nicht mehr durch althergebrachte Interessen, seien sie persönlicher oder allgemeiner Natur, unheilvoll gelenkt sein; vom Einfluß streitender Regierungen und Völker wird sie befreit sein. Die wirtschaftlichen Hilfsmittel der Welt werden organisiert, ihre Rohstoffquellen erschlossen und restlos nutzbar gemacht, ihre Märkte aufeinander abgestimmt und entwickelt, die Verteilung ihrer Erzeugnisse unparteiisch geregelt werden.

#298

Nationale Rivalität, Haß und Intrigen werden aufhören, Feindseligkeiten und Rassenvorurteile werden durch Freundschaft, Verständigung und Zusammenarbeit ersetzt werden. Die Ursachen religiöser Zwistigkeiten werden für immer aus dem Wege geräumt werden; wirtschaftliche Schranken und Hindernisse werden völlig beseitigt, der maßlose Klassenunterschied verwischt werden. Mangel auf der einen Seite und unmäßige Anhäufung von Eigentumsrechten auf der anderen Seite werden verschwinden. Die ungeheuren Kräfte, die für die wirtschaftliche oder politische Kriegsführung verzettelt und vergeudet werden, fließen Zwecken zu, welche die Reichweite menschlicher Erfindungen erweitern, die technische Entwicklung fördern, die Produktivität der Menschheit steigern, Krankheiten ausrotten, wissenschaftliche Forschungen ausdehnen, den körperlichen Gesundheitszustand heben, den menschlichen Verstand schärfen und verfeinern, die ungenutzten, ungeahnten Hilfsquellen dieser Erde ausbeuten, das menschliche Dasein verlängern und jedwedes andere Mittel fördern, welches das verstandliche, sittliche und geistige Leben des ganzen Menschengeschlechts anzuregen vermag.

#299

Ein Weltbundsystem, das die ganze Erde beherrscht und unanfechtbare Amtsgewalt über ihre unvorstellbar großen Hilfsquellen hat, das die Ideale sowohl des Ostens wie auch des Westens verkörpert und in Einklang bringt, vom Fluch und Elend des Krieges befreit und auf die Ausnützung aller verfügbaren Kraftquellen der Erdoberfläche bedacht ist, ein System, in dem die Gewalt zur Dienerin der Gerechtigkeit gemacht ist, dessen Leben von der allumfassenden Anerkennung eines Gottes und vom Gehorsam gegen eine gemeinsame Offenbarung getragen ist - dies ist das Ziel, dem die Menschheit, durch die vereinenden Lebenskräfte angetrieben, zustrebt.

»Eines der großen Ereignisse«, bekräftigt 'Abdu'l-Bahá, »welches sich am Tage der Offenbarung jenes unvergleichlichen Zweiges zuträgt, ist das Aufpflanzen des Banners Gottes unter allen Nationen. Damit ist gemeint, daß alle Nationen und Geschlechter im Schatten dieses göttlichen Banners, welches nichts anderes als der Zweig des Herrn selbst ist, versammelt und zu einer einzigen Nation verschmolzen werden. Religiöser und sektierischer Gegensatz, Rassen- und Völkerfeindschaft, Streitigkeiten zwischen den Nationen werden ausgemerzt werden. Alle Menschen werden einer Religion angehören, werden einen gemeinsamen Glauben haben, werden zu einer einzigen Rasse vermischt und ein einziges Volk werden. Alle werden in einem gemeinsamen Vaterland wohnen, und das ist der Erdball als Ganzes.« »Nunmehr hat in der Welt des Seins«, so erklärt Er weiter, »die Hand göttlicher Macht die Grundlagen dieser allerhöchsten Gnadengabe fest begründet. Was auch im Innersten dieses heiligen Zyklus verborgen ruht, es wird allmählich erscheinen und offenbar gemacht werden; denn jetzt ist erst der Beginn seines Wachstums und der Morgen der Offenbarung seiner Zeichen. Noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts und dieses Zeitalters wird klar und augenscheinlich gemacht sein, wie wundersam jene Frühlingszeit war und wie himmlisch jene Gabe.«

#300

Nicht weniger fesselnd ist die Vision Jesajas, des größten der jüdischen Propheten, der schon vor zweitausendfünfhundert Jahren die Bestimmung vorausschaute, zu der die Menschheit im Zustand ihrer Reife gelangen muß: »Und Er (der Herr) wird richten unter den Nationen und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Sicheln machen. Denn kein Volk wird das Schwert gegen das andere erheben, und sie werden hinfort nicht mehr die Kriegskunst lernen ... Und es wird ein Reis aufgehen aus Isais Stamm und ein Schößling aus seinen Wurzeln hervorbrechen ... Und er wird die Erde schlagen mit dem Stabe seines Mundes und mit dem Odem seiner Lippen den Frevler töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und Glaube der Gurt seiner Hüften. Der Wolf wird beim Lamme wohnen, und der Parder wird lagern beim Böcklein. Das Kalb und der junge Löwe und das Mastvieh sind beisammen ... Und der Säugling wird spielen am Loch der Natter, und ein Entwöhnter wird seine Hand in die Höhle des Basilisken stecken. Nirgends wird man Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll sein der Erkenntnis des Herrn, wie die Wasser das Meer bedecken.«

Der Verfasser der Apokalypse legt, die tausendjährige Herrlichkeit einer erlösten, frohlockenden Menschheit vorstellend, ein ähnliches Zeugnis ab: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen; auch das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, herniedersteigen aus dem Himmel von Gott her, gekleidet wie eine Braut, die geschmückt ist für ihren Mann. Und ich hörte eine laute Stimme vom Himmel her rufen: `Sehet, das Zelt Gottes unter den Menschen! Er wird wohnen bei ihnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein als ihr Gott. Und Gott wird alle Tränen wegwischen von ihren Augen; der Tod wird nicht mehr sein und nicht Trauer und Klage und Mühsal; denn das Frühere ist vergangen.`«

#301

Wer könnte bezweifeln, daß solche Vollendung - die Volljährigkeit des Menschengeschlechts - ihrerseits den Beginn einer Weltkultur bezeichnen muß, wie sie noch kein sterbliches Auge je gesehen, kein menschlicher Geist je erfaßt hat? Wer ist da, der sich die erhabene Stufe vorstellen könnte, die eine solche Kultur in dem Maße, wie sie sich entfaltet, zu erreichen bestimmt ist? Wer kann die Höhen ermessen, zu denen sich der menschliche Verstand aufschwingen wird, wenn er erst von seinen Fesseln befreit ist? Wer kann die Reiche schauen, die der Menschengeist entdecken wird, nachdem er von dem strömenden Licht Bahá'u'lláhs in der Fülle seiner Herrlichkeit belebt sein wird?

Welchen passenderen Abschluß gäbe es für dieses Thema als diese Worte Bahá'u'lláhs, die Er in der Vorausschau auf das Goldene Zeitalter Seines Glaubens schrieb, das Zeitalter, da das Antlitz der Erde von Pol zu Pol den unbeschreiblichen Strahlenglanz des Paradieses Abhá widerspiegeln wird? »Dies ist der Tag, da nichts als der Glanz des Lichtes zu sehen ist, der vom Antlitz deines Herrn, des Gnädigen, des Mildtätigsten, leuchtet. Wahrlich, Wir haben jede Seele verhauchen lassen kraft Unserer unwiderstehlichen, allunterwerfenden Herrschaft. Wir haben sodann eine neue Schöpfung ins Dasein gerufen, als ein Zeichen unserer Gnade für die Menschen. Ich bin wahrlich der Allgütige, der Altehrwürdige der Tage. Dies ist der Tag, da die unsichtbare Welt ausruft: `Groß ist deine Glückseligkeit, o Erde, denn du bist zum Schemel deines Gottes gemacht und zum Sitz seines mächtigen Thrones erkoren!` Das Reich der Herrlichkeit ruft laut: `Könnte doch mein Leben ein Opfer für dich sein, denn Er, der Geliebte des Allerbarmers, hat auf dir seine Herrschaft errichtet durch die Macht seines Namens, der allen Dingen, den vergangenen wie den künftigen, verheißen worden ist.`«

Shoghi

Haifa, Palästina, 11. März 1936






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SHOGHI EFFENDI DIE WELTORDNUNG BAHA'U'LLAHS



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