Freiheit und Ordnung

Eine Botschaft des
Universalen Hauses der Gerechtigkeit
An die Bahá'í der
Vereinigten Staaten von Amerika


© Bahá’í-Verlag GmbH
D-6238 Hofheim-Langenhain,

1989-146 ISBN 3-87037-249-4 <451-20>


Gliederung Absätze

I. Grundlegende Vorüberlegungen 1 - 10
II. Die Freiheit und ihr Platz in der Bahá'í-Gemeinde 11 - 47
a. Freiheit 11 - 15
b. Freiheit in der Bahá'í-Gemeinde 16 – 47
i. Definition der Freiheit 16 – 18
ii. Die Bahá'í-Institutionen 19 – 23
iii. Die einzelnen Gläubigen – ihre Rechte 24 – 33
iv. Die einzelnen Gläubigen – ihre Pflichten 34 – 41
ihre Verantwortung für Schutz und Entwicklung
der Sache Gottes
v. Zusammenhang zwischen Überprüfung von Texten 42 – 47
Entwicklungsstadium des Glaubens / Opposition
ist gewiss



DAS UNIVERSALE HAUS DER GERECHTIGKEIT

29. Dezember 1988

An die Anhänger Bahá’u’lláhs
in den Vereinigten Staaten von Amerika

Liebe Bahá’í-Freunde

1 Mit Sorge stellen wir bei manchen Freunden eine gewisse Konfusion fest, wenn sie Schwierigkeiten haben, Bahá’í-Grundsätze auf aktuelle Probleme anzuwenden. Einerseits bekennen sie ihren Glauben an Bahá'u'lláh und Seine Lehren; andererseits berufen sie sich aufwestliche liberal-demokratische Traditionen, wenn Bahá’í-Institutionen oder einige ihrer Bahá’í-Freunde sich nicht so verhalten wie sie es erwarten. Diese Konfusion beruht im Kern auf falschen Vorstellungen über so grundsätzliche Fragen wie die Rechte des einzelnen und die Meinungsfreiheit in der Bahá’í-Gemeinde. Die latenten Schwierigkeiten dieser Situation resultieren, wie uns scheint, aus einem mangelnden Glaubensverständnis mancher Gläubigen wie auch ihrer Institutionen.
2 Angesichts der großen Herausforderung, der Sie sich bei der Überwindung einer solchen Konfusion gegenübersehen, möchten wir mit Ihnen über diese Punkte nachdenken, um den Kontext zu finden, in welchem die Gemeinde wichtige Grundfragen diskutieren und verstehen kann.
3 Die herausragenden Fälligkeiten des amerikanischen Volkes wie auch die Vorkämpferrolle dieser Bahá’í-Gemeinde wurden in den Schriften unseres Glaubens oftmals gepriesen. In Seinen Sendbriefen und Ansprachen entwarf ‘Abdu’l-Bahá, der Mittelpunkt des Bündnisses, eine überwältigende Vision der weltumspannenden Zukunftsaussichten dieses an Talenten so reichen Landes. »Die amerikanische Nation«, versicherte Er, »verfügt über das geistige Rüstzeug und die Fähigkeit zu Taten, welche die Seiten im Buch der Geschichte zieren werden. Die ganze Welt wird sie darum beneiden und Ost und West werden sie um der Triumphe ihres Volkes willen selig preisen«. 1 In einer anderen, an die Bahá’í-Gemeinde gerichteten Erklärung sprach Er Worte von überragender Bedeutung: »... eure Sendung ist unaussprechlich ruhmreich. Wenn euer Unternehmen von Erfolg gekrönt sein wird, wird sich Amerika sicherlich zu einem Mittelpunkt entwickeln, von dem Wellen geistiger Kraft ausstrahlen; der Thron des Reiches Gottes wird dann in der Fülle seiner Majestät und Herrlichkeit fest gegründet sein«2
4 Shoghi Effendi pries die bemerkenswerten Leistungen und den möglichen zukünftigen Ruhm dieser besonders gesegneten Gemeinde bei vielen Gelegenheiten; doch sah er sich in seinem Werk »Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit« auch zu einer ernsten Warnung veranlasst, die wesentlich ist für das rechte Verständnis der Beziehung zwischen dieser Bahá’í-Gemeinde und der Nation, aus der sie hervorgegangen ist. »Das glühende Lob, das der Fälligkeit, dem Geist, dem Verhalten und dem hohen Rang der amerikanischen Gläubigen (des einzelnen wie der gesamten Gemeinde) gezollt wurde, darf auf keinen Fall mit den Wesensmerkmalen des Volkes verwechselt werden, aus dem sie Gott erhöht hat. Ein scharfer Unterschied muss zwischen dieser Gemeinde und jenem Volk getroffen und ebenso entschlossen wie furchtlos vertreten werden, wenn wir die verwandelnde Kraft des Glaubens Bahá’u’lláhs, seinen Einfluss auf Leben und Maßstäbe derer, die sich um Sein Banner scharen, gebührend würdigen wollen. Andernfalls wird der höchste Zweck Seiner Offenbarung, nämlich die Schaffung eines neuen Menschengeschlechts, völlig unverstanden und verschleiert bleiben.«3 Wir bitten Sie, gerade über diese Unterscheidung und deren weitreichende, umgestaltende Folgen nachzudenken.
5 Der richtungweisende Ausgangspunkt, die Basis unseres Glaubens und Handelns, ist die Anerkennung der Souveränität Gottes und die Unterwerfung unter Seinen Willen, wie ihn Bahá'u'lláh, Seine höchste Manifestation für diesen verheißenen Tag, offenbart. Gottes Propheten zu Seiner Zeit anzuerkennen und in Seinen Geboten zu wandeln, sind die beiden wesentlichen, untrennbaren Pflichten, die zu erfüllen jede Seele erschaffen wurde. Die Erfüllung dieser Zwillingspflichten liegt in der freien Entscheidung jedes einzelnen. Dieser Akt ist höchster Ausdruck der Willensfreiheit, mit der ein allliebender Schöpfer jeden Menschen ausgestattet hat.
6 Das Instrument zur Erfüllung dieser Pflichten ist in diesem strahlenden Zeitalter der Bund Bahá'u'lláhs. Sein Bund ist in der Tat für den, der an Ihn glaubt, das machtvolle Werkzeug für die Umsetzung seines Glaubens in konstruktives Handeln. Der Bund umfasst göttlich verordnete Einrichtungen, die zur Bewahrung der organischen Einheit des Glaubens erforderlich sind. geliebten Meisters, »der Lebensader gleicht, die im Körper der Welt schlägt.« 4 »Es gibt keinen Zweifel«, stellt Er fest, »dass der Angelpunkt der Einheit der Menschheit nichts anderes ist als die Macht des Bundes.«5 Durch den Bund wird die Bedeutung des göttlichen Wortes - theoretisch wie praktisch - sichtbar im Lebenswerk 'Abdu'l-Bahás, des ernannten Auslegers, des vollkommenen Vorbilds, des Mittelpunkts des Bündnisses. Durch den Bund kommen die Funktionen der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems6 in Gang.
7 Shoghi Effendi betont die Einmaligkeit dieser Ordnung und weist darauf hin, dass sie sich »insofern grundlegend von allem unterscheidet, was je ein Prophet vordem eingesetzt hat, als Bahá’u’lláh selbst ihre Grundlagen offenbart, ihre Institutionen gestiftet, den Ausleger Seines Wortes berufen und der Körperschaft, die bestimmt ist, Seine Gesetze und Gebote zu ergänzen und anzuwenden, die erforderliche Amtsgewalt verliehen hat.«7 An anderer Stelle betont er, dass es »völlig irreführend wäre, einen Vergleich zwischen dieser einzigartigen Ordnung göttlichen Ursprungs und einem der vielen Systeme zu versuchen, die der Menschengeist in verschiedenen Epochen der Geschichte für die Herrschaft von Institutionen ersonnen hat.«8 Ein solcher Versuch, so fand er, »verriete allein schon einen Mangel an Wertschätzung für die Vortrefflichkeit des Werkes ihres großen Urhebers.« 9
8 Wem dieses Verständnis fehlt, der wird von falschen Voraussetzungen ausgehen, wenn er die Funktionsweise der Bahá’í-Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung anhand der in der heutigen Gesellschaft maßgebenden Anschauungen beurteilt. Wenn sie auch intern demokratischen Verfahren den Vorzug gibt und einige ihrer Strukturen Ähnlichkeit mit denen anderer Systeme haben, darf die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung keineswegs nur als eine Vervollkommnung vergangener oder bestehender Systeme gesehen werden; sie ist in ihrem Ursprung wie auch konzeptionell ein Neuanfang. »Diese neugeborene Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung«, so erklärt Shoghi Effendi, »vereint in ihrer Struktur gewisse Element, die in jeder der drei anerkannten Formen weltlicher Herrschaft zu finden sind, ohne doch in irgendeiner Hinsicht eine bloße Wiederholung einer von ihnen zu sein, und ohne in ihren Mechanismus irgendwelche störenden Elemente einzuführen, die jenen eigen sind. Sie verschmilzt und vereint, wie keine von sterblicher Hand geformte Herrschaft es jemals vermochte, die zweifellos in jedem dieser Systeme enthaltenen gesunden Bestandteile, ohne die Reinheit der gottgegebenen Wahrheiten zu verfälschen, auf die sie sich letztlich gründet.«10
9 Sie sind gewiss vertraut mit den Ausführungen des Hüters zu diesem Thema. Wozu dann diese eindringliche Betonung? Warum immer wieder auf die Grundlagen zurückkommen? Diese Betonung, dieser Rückblick sind ein Appell zu klarem Denken, zur rechten Perspektive und zum richtigen Standpunkt. Ohne tieferes Verständnis der elementaren Grundsätze unseres Glaubens ist dies nicht zu erreichen.
10 Das große Gewicht, das auf die Besonderheit der Ordnung Bahá’u’lláhs gelegt wird, soll andere, heute bestehende Herrschaftsformen nicht herabsetzen. Sie sind anerkanntermaßen die Frucht einer langen Geschichte gesellschaftlicher Evolution; in ihnen manifestiert sich eine fortgeschrittene Entwicklungsstufe sozialer Organisation. Was uns bewegt, ist vielmehr die Erkenntnis, dass die höchste Bestimmung der Offenbarung Bahá’u’lláhs, des Trägers dieser Ordnung, die - wie Shoghi Effendi formuliert - »organische geistige Einheit aller Nationen« 11 ist. Sie markiert »den Eintritt des gesamten Menschengeschlechts in den Zustand der Mündigkeit«. 12 Die erstaunliche Folgerung daraus ist, dass die Erfüllung einer uralten Hoffnung durch das Kommen Bahá’u’lláhs nun endlich in greifbarerer Nähe liegt. Praktisch gesprochen, signalisiert Seine Sendung »eine organische strukturelle Veränderung der heutigen Gesellschaft, eine Veränderung, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat.«13 Es ist dies ein erneuter Beweis dafür, wie Gott unmittelbar in der Geschichte wirkt, eine erneute Zusicherung, dass Er Seine Kinder nicht sich selbst überlässt, ein Zeichen der überströmenden himmlischen Gnade, welche es der ganzen Menschheit ermöglicht, endlich ohne Kampf und Streit zu leben und die Höhen des Weltfriedens und einer göttlichen Kultur zu erklimmen. Darüber hinaus ist sie ein Beweis jener Liebe zu Seinen Kindern, um die Er in der Tiefe Seines »unvordenklichen Seins. und »in der Urewigkeit« 14 Seines Wesens wusste und die bewirkte, dass Er uns alle erschuf. Dass wir den Erfordernissen Seiner Weltordnung Achtung zollen, ist im edelsten Sinne ein Erwidern der Liebe.
11 Diese Einsicht hilft uns, die Frage der Freiheit und ihren Stellenwert im Bahá’í-Denken und -Handeln zu verstehen. Idee und Praxis der Freiheit prägen in zahllosen Formen und Vorstellungen alle Lebensbereiche des Menschen. Freiheit ist in der Tat wesentlich für alle menschlichen Lebensäußerungen.
12 Gedankenfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung und Handlungsfreiheit sind Freiheiten, denen über die Jahrhunderte hinweg die Philosophen leidenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet haben. Die Ergebnisse dieser tiefsinnigen Reflexionen hatten einen gewaltigen befreienden Einfluss auf die Gestaltung der modernen Gesellschaft. Generationen von Unterdrückten kämpften und starben im Namen der Freiheit. Unterdrückung und das Verlangen nach Freiheit waren ganz gewiss beherrschende Faktoren im Umbruch der Zeiten: Man denke nur an die Fülle von Bewegungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb weniger Jahre zur Bildung neuer Staaten führten. Eine sorgfältige Lektüre der Lehren Bahá’u’lláhs läßt keinen Zweifel an der grollen Bedeutung dieser Freiheiten für den Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Nehmen wir nur Bahá’u’lláhs Verkündigung an die Könige und Herrscher. Läßt sich nicht allein aus ihr ableiten, dass Freiheit ein wesentlicher Zweck Seiner Offenbarung ist? Seine Verdammungsurteile gegen die Tyrannei und Seine eindringlichen Appelle für die Unterdrückten liefern den deutlichen Beweis. Doch bedeutet die in Seiner Offenbarung angekündigte Freiheit nicht eine edlere, reichere Manifestation menschlichen Fortschritts? Weist sie nicht auf eine organische Einheit zwischen der inneren und äußeren Wirklichkeit des Menschen hin, eine Einheit, wie sie bislang noch nie erreicht wurde?
13 In einer Zusammenfassung der wesentlichen Bahá’í-Lehren schreibt Shoghi Effendi über Bahá'u'lláh: .Er schärft den Grundsatz des 'rechten Maßes in allen Dingen'16 ein, Er erklärt, dass alles, sei es 'Freiheit, Zivilisation oder dergleichen' 17, 'einen verderblichen Einfluss auf die Menschen haben wird'18, wenn es 'die Grenzen des rechten Maßes überschreitet'19. Er bemerkt, wie die Zivilisation des Westens die Völker aufwühlt und beunruhigte20 und sieht den Tag nahen, da 'die Flamme' einer 'ins Übermaß gesteigerten' Zivilisation die Städte verschlingen21 wird.
14 Auf das Thema Freiheit eingehend, stellt Bahá'u'lláh fest, dass »die Verkörperung der Freiheit und ihr Sinnbild das Tier«22 ist; dass Freiheit den Menschen veranlasst, »die Grenzen des Schicklichen zu überschreiten und die Würde seiner Stufe zu verletzten.«23 Unterwerfung des Menschen unter Meine Gebote« 24 besteht. Er erklärte: »Wir billigen die Freiheit unter gewissen Umständen, unter anderen verwerfen Wir sie.«25 Aber Er beteuerte auch: .Befolgten die Menschen, was Wir aus dem Himmel der Offenbarung auf sie herabsandten, so erlangten sie sicherlich vollkommene Freiheit.«26 Und weiter sagt Er: »Die Menschheit als Ganzes mini entschlossen dem folgen, was ihr offenbart und gewährt ist. Dann, nur dann wird sie zu wahrer Freiheit gelangen.«27
15 Bahá'u'lláhs Erläuterungen fordern deutlich eine Überprüfung der heute herrschenden Vorstellungen. Soll die Freiheit so weit gehen, wie man dies im zeitgenössischen, westlichen Denken meint? Wo beschränkt die Freiheit unsere Entwicklungsmöglichkeiten, und wo fördern Schranken der Freiheit unsere Entfaltung? Wo sind die Grenzen der Freiheit? Denn Idee und Praxis der Freiheit sind so fließend und dehnbar, dass in einer gegebenen Situation wahrscheinlich jeder Mensch die Grenzen der Freiheit anders setzen wird. Freiheit kann zum Guten, leider aber auch zum Bösen dienen. Ist es da verwunderlich, dass Bahá'u'lláh uns zur Unterwerfung unter Gottes Willen mahnt?
16 Da jede konstruktive Sicht immanente Schranken der Freiheit anerkennt, sind weitere Fragen unumgänglich: Welchen Spielraum hat die Freiheit in der Bahá’í-Gemeinde? Wie sollte er bestimmt werden? Da die Menschen erschaffen sind, »eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen«28, kann man schließen, der Gebrauch der Freiheit werde es dem Menschen ermöglichen, diesen Zweck in seinem eigenen Leben und im Gesellschaftsgefüge insgesamt zu erfüllen. Was für die Erfüllung dieses Zweckes erforderlich ist, das bemisst den Spielraum und die Grenzen der Freiheit.
17 Wenn wir über Bahá’u’lláhs Warnung nachdenken, dass »alles, was die Grenzen des rechten Maßes überschreitet., aufhört, »wohltätigen Einflug auszuüben«29, so werden wir dankbar dafür, dass Sein Entwurf der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung die notwendigen Handlungsmaximen enthält, jenes rechte Maß zu wahren, das die »wahre Freiheit«3o der Menschheit garantieren wird. Ist, nach Abwägung aller Aspekte, die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung nicht die Struktur der Freiheit für unser Zeitalter? 'Abdu'1-Bahá stützt diesen Gedanken, wenn Er sagt, dass »die maßvolle Freiheit, welche die Wohlfahrt der Menschheit garantiert und universale Beziehungen wahrt, am kraftvollsten und umfassendsten in den Lehren Bahá’u’lláhs zu finden ist«.31
18 Innerhalb dieses Freiheitsrahmens ist ein Verhaltensmuster für die Institutionen und für den einzelnen festgelegt, dessen Wirksamkeit nicht so sehr auf der Macht des Rechts beruht - das selbstverständlich zu respektieren ist - als auf der Erkenntnis des gemeinsamen Nutzens und auf dem Geist der Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit wird von der Dienstbereitschaft, dem Mut, dem Verantwortungsgefühl und der Initiative des einzelnen getragen, der damit seine Hingabe und seine Unterwerfung unter den Willen Gottes bezeugt. Es gibt also eine Balance zwischen der Freiheit der Institutionen - national wie örtlich - und der Individuen, die diese Institutionen tragen.
19 Betrachten wir beispielsweise die Bildung des Geistigen Rates und die Rolle des einzelnen bei der Wahl. Der Wähler wählt in dem Bewusstsein, dass er frei von äußeren Einflüssen denen seine Stimme geben kann, die ihm sein Gewissen eingibt, und er akzeptiert bereitwillig, dass das Wahlergebnis bindend ist. Im Wahlakt geht der Gläubige ein Bündnis ein, auf dem die Ordnung der Gesellschaft beruht. Dem Rat obliegt es zu führen, zu leiten, in Gemeindeangelegenheiten zu entscheiden und er hat zugleich Anspruch auf Gehorsam und Unterstützung der Gemeindemitglieder. Der einzelne ist verantwortlich für die Bildung und Aufrechterhaltung des Rates durch die Wahl, durch Empfehlungen, durch moralische Unterstützung und durch materiellen Beistand. Er seinerseits hat das Recht, vom Rat angehört zu werden, von ihm Führung und Hilfe zu erhalten, oder auch Rechtsmittel einzulegen gegen einen Ratsbeschluss, den er nach seinem Gewissen für ungerecht oder den Interessen der Gemeinschaft abträglich hält.
20 Doch ohne den belebenden Geist der Sache führt die bloße Beschäftigung mit den rechtlichen Mechanismen der Bahá’í-Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung zu einer Verzerrung, zu einer unfruchtbaren Verweltlichung, die dem Wesen dieser Ordnung zuwiderläuft. Ebenso bedeutsam für den Wahlvorgang - um bei diesem Beispiel zu bleiben - ist die Schaffung jener geläuterten Atmosphäre des Gebets und der Reflexion, jener ruhigen Würde des Verfahrens, das weder Kandidaturen noch Wahlkampagnen kennt, eines Verfahrens, in welchem die Wahlfreiheit des einzelnen nur von seinem Gewissen begrenzt wird, wo er allein mit sich selbst in einer Haltung wählt, die eine Zwiesprache mit dem Heiligen Geist ermöglicht. In dieser Haltung sieht der Gläubige im Wahlergebnis den Ausdruck des göttlichen Willens und er weiß die Gewählten primär diesem Willen verantwortlich, nicht der Wählerschaft. Eine Wahl unter solchen Voraussetzungen zeigt uns einen Aspekt der organischen Einheit zwischen der inneren und der äußeren Wirklichkeit des Lebens, die unerlässlich ist, wenn wir in diesem neuen Zeitalter eine reife Gesellschaft schaffen wollen. In keinem anderen System hat der einzelne bei Wahlen einen so breiten Freiheitsraum.
21 Das Gleichgewicht der Pflichten, das hier impliziert wird, setzt bei allen Beteiligten Reife voraus. Diese Reife findet eine treffende Analogie im Erwachsenwerden des Menschen. Wie groß sind die Unterschiede zwischen dem Säuglingsalter, der Kindheit, der Adoleszenz und dem Erwachsensein! In einer gesellschaftlichen Epoche, die von der aufbrandenden Energie, dem rebellischen Geist und der stürmischen Aktivität der Adoleszenz beherrscht ist, fällt es schwer, die Wesenselemente jener reifen Gesellschaft zu begreifen, zu der Bahá’u’lláh die ganze Menschheit ruft. Die Herrschaftsmodelle der alten Weltordnung lenken den Blick ab von dem, was verstanden werden muss; denn diese Modelle wurden zumeist im Aufruhr ersonnen und haben revolutionäre Elemente beibehalten, welche für die (gewiss notwendige) Sturmund Drangperiode in der gesellschaftlichen Entwicklung charakteristisch waren. Gerade die Philosophien, die das gedankliche Rüstzeug solcher Revolutionen geschmiedet haben - Hobbes, Locke, Jefferson, Mill kommen einem da in den Sinn - waren inspiriert vom Protest gegen die Unterdrückung, welche die Revolutionen beseitigen sollten.
22 Solche Elemente werden etwa besonders deutlich in der maßlosen Skepsis gegenüber der Autorität, und, als Folge davon, in dem Widerwillen, mit dem die Bürger vieler Staaten ihre Obrigkeit respektieren; sie äußern sich im unentwegten Eintreten für den Individualismus - oft zum Schaden des Gemeinwohls. Wie zutreffend passt selbst nach einem halben Jahrhundert Shoghi Effendis Urteil, durch seinen Sekretär übermittelt, zur zeitgenössischen Szene: »Es scheint, dass die heutige Generation gegen jede Art von Institution eingestellt ist - wohl eine Folge des Korruptionsverdachts, der Organisationen anhaftet. Die institutionalisierte Religion wird abgelehnt, die Obrigkeit wird abgelehnt, selbst die Ehe als Institution wird abgelehnt. Die Bahá'í sollten sich von solchen gängigen Vorstellungen nicht die Sicht verstellen lassen. Wenn das so wäre, hätten nicht alle göttlichen Manifestationen stets einen Nachfolger ernannt. Zweifellos sind diese Institutionen korrupt geworden, aber die Verderbnis liegt nicht im Wesen dieser Institutionen, sondern in mangelhafter Führung, einem unzulänglichen Umgang mit ihren Gewalten und unzulänglichen Regulativen für ihren Fortbestand. Was Bahá’u’lláh hinterließ, zielt nicht auf die Überwindung von Rechtsinstitutionen in Seiner Gemeinde, sondern auf die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, welche die Entartungen ausschließen, denen die früheren Institutionen zum Opfer fielen. Es ist höchst interessant, zu untersuchen und herauszufinden, worin diese Vorkehrungen liegen, und absolut notwendig, sie zu kennen.« 32
23 Nicht um andere Systeme zu bekritteln, machen wir diese Bemerkungen, sondern um Denkkategorien aufzuzeigen, um zur erneuten Prüfung der Grundlagen der modernen Gesellschaft zu ermutigen und um eine Perspektive zu finden, aus welcher die spezifischen Charakteristika der Ordnung Bahá’u’lláhs untersucht werden können. Man könnte fragen, wie die Gesellschaft beschaffen war, die solche Wesenszüge und solche Philosophien entstehen ließ. Wohin haben sie die Menschheit gebracht? Hat ihre Anwendung die Nöte und Erwartungen des Menschengeistes gestillt? Antworten auf solche Fragen könnten die Basis für vergleichende Betrachtungen zu Ursprung, Wesenszügen und Philosophie dieser neuen Ordnung abgeben.
24 Freie Meinungsäußerung ist ein grundlegendes Prinzip der Sache Gottes. Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung bietet einzigartige Methoden und Wege, sie zu praktizieren und zu bewahren: diese sind in den Schriften des Glaubens ausführlich beschrieben, werden aber von den Freunden noch nicht ganz verstanden. Bahá’u’lláh hat den Rahmen für den Ausdruck der Persönlichkeit erweitert und vertieft. Die Aufwertung von Kunst und Arbeit, so sie im Dienst an der Menschheit erfolgen, zum Gottesdienst, lässt auf eine gewaltige Neugeburt individueller Ausdrucksmöglichkeiten in jener Kultur schließen, die durch Seine Weltordnung antizipiert wird. Die Bedeutung dieses Prinzips, das der Herr des Zeitalters nunmehr derart erweitert und verstärkt, lässt sich nicht bezweifeln: aber gerade im Bereich der Sprache ist dafür ein klares Verstehen unabdingbar. Für den Bahá'í muss die Praxis der Redefreiheit unbedingt in eine Disziplin eingebunden sein, die aus einer gründlichen Würdigung der positiven wie der negativen Aspekte der Freiheit wie der Rede resultiert.
25 Bahá’u’lláh warnt uns: »... die Zunge ist ein schwelend Feuer, und zuviel der Rede ist ein tödlich Gift. Natürliches Feuer verbrennt den Leib«, so führt Er weiter aus, »das Feuer der Zunge aber verzehrt Herz und Seele. Die Kraft des einen währt nur eine Weile, aber die Wirkung des anderen dauert ein Jahrhundert lang.«33 Auch wo Bahá’u’lláh den Rahmen der freien Rede absteckt, rät Er wieder zum »rechten Maߋ »Menschliche Rede will ihrem Wesen nach Einfluh üben und bedarf deshalb des rechten Maßes. Ihr Einfluss ist durch Feinheit bedingt, die wiederum von losgelösten, reinen Herzen abhängt. Ihr rechtes Maß muss mit Takt und Weisheit gepaart sein, wie es in den Heiligen Büchern und Sendbriefen vorgeschrieben ist.«34
26 Bedeutsam ist nicht nur, was gesagt wird und wie es gesagt wird, sondern auch wann. Denn die Rede hat wie so vieles andere ihre Zeit. Bahá’u’lláh verstärkt diese Erkenntnis, indem Er auf folgende Maxime verweist: »Nicht alles, was ein Mensch weiß, kann enthüllt werden, noch kann alles, was er enthüllen kann, als zeitgemäß angesehen werden, noch kann jede zeitgemäße Äußerung als tauglich für die Fassungskraft der Hörer erachtet werden.« 35
27 Die Rede ist ein machtvolles Phänomen. Ihre Freiheit muss gepriesen, aber auch gefürchtet werden. Sie verlangt ein klares Urteil, denn in der Beschränkung wie im Exzess kann sie schreckliche Folgen zeitigen. Das System Bahá’u’lláhs verfügt deshalb über die notwendigen Methoden der Kontrolle und des Ausgleichs für den zuträglichen Gebrauch dieser Freiheit in einer sich entfaltenden Gesellschaft. Ein sorgfältiges Studium der Prinzipien der Bahá'í-Beratung, ihrer formalen und informellen Regeln, bietet neue Einsichten in die Dynamik der freien Meinungsäußerung.
28 Da es den Rahmen dieses Briefs sprengen würde, diese Prinzipien eingehend zu erörtern, begnügen wir uns damit, an gewisse Bedingungen der Beratung zu erinnern, besonders für diejenigen, die in Geistigen Räten dienen. Liebe und Eintracht, die Reinheit der Beweggründe, Demut und Bescheidenheit gegenüber den Freunden, Geduld und Langmut in Schwierigkeiten - dies alles beseelt die Haltung, mit der sie »in völliger Ergebenheit, Höflichkeit, Würde, Sorgfalt und Mäßigung ihre Ansichten vorbringen« 36. Ein jeder muss dabei in »vollkommener Freiheit. handeln, auch dann, wenn er »für seine Argumente die Grinde offen legt«37. »Er darf sich, sollte jemand widersprechen, auf keinen Fall verletzt fühlen, denn erst wenn eine Angelegenheit vollständig erörtert ist, kann sich der richtige Weg zeigen.. »Der strahlende Funke der Wahrheit erscheint erst nach dem Zusammenprall verschiedener Meinungen.«38 Sollte danach keine Einigkeit erreicht werden, so fallen die Beschlüsse durch Mehrheitsentscheid.
29 Sobald eine Entscheidung gefällt ist, unterstützen alle Mitglieder der beratenden Körperschaft uneingeschränkt das Ergebnis, da sie ja Gelegenheit hatten, ihre Ansichten vollständig zum Ausdruck zu bringen. Was aber, wenn die Minderheit im Recht Ist? »Wenn sie in einer Sache einig sind, erklärt 'Abdu'l-Bahá, »so ist dies, seien sie auch im Irrtum, besser als uneinig zu sein und recht zu haben; denn die Uneinigkeit wird die göttliche Grundlage zerstören. Mag eine der Parteiungen auch Recht haben - sind sie uneinig, so wird dies die Ursache für tausend Übel sein. Selbst wenn beide Parteiungen im Irrtum sein sollten, sie aber übereinstimmen, so wird, wenn es in Einigkeit geschieht, die Wahrheit offenbar und der Irrtum berichtigt werden.39. Diese Orientierung am Gemeinwohl impliziert einen völligen Wandel in den Anforderungen an öffentliche Diskussionen, wie ihn Bahá’u’lláh für eine reife Gesellschaft vorsieht.
30 Die für jede erfolgreiche Beratung erforderliche Disziplin erlangt der einzelne mit den Tugenden, die Shoghi Effendi im »Geist eines wahren Bahá'í. verkörpert sieht. Denken Sie etwa über die eindringliche Aussage in einem seiner frühesten Briefe an Ihre40 Gemeinde nach: »Nur vom Geist eines wahren Bahá'í kann je erhofft werden, dass er die Prinzipien der Gnade und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Gehorsams, der Heiligkeit persönlicher Rechte und der Selbsthingabe, der Wachsamkeit, Verschwiegenheit und Vorsicht einerseits, der Freundschaft, der Offenheit und des Mutes andererseits versöhnen wird..41 Dies war ein Aufruf zur Reife und zur Würde auf die er Ihr Denken wiederholt richtete.
31 Der Größte Friede ist unsere Sehnsucht; deshalb sind wesentliche Anstrengungen der Bahá’í-Gemeinde darauf gerichtet, Fälle von Konflikt und Streit - beides im Heiligsten Buche kategorisch verboten - abzubauen. Heißt dies, dass man keinen kritischen Gedanken äußern darf? Keinesfalls. Wie wäre Offenheit, eine Bedingung jeder Beratung, möglich, gäbe es kein kritisches Denken? Wie könnte der einzelne seiner Verantwortung gegenüber dem Glauben nachkommen, stünde ihm nicht die Freiheit zu, seine Gedanken zu äußern? Hat nicht Shoghi Effendi festgestellt, »das unbestreitbare Recht des einzelnen, sich zu äußern, die Freiheit, seinem Gewissen Ausdruck zu verleihen und seine Ansichten vorzutragen, ist ein fundamentaler Grundsatz der Sache Gottes«42?
32 Die administrative Ordnung bietet Kanäle für Kritik und erkennt damit im Grundsatz an, dass »es nicht nur das Recht, sondern die entscheidende Pflicht jedes loyalen, vernünftigen Gemeindemitgliedes ist, offen und uneingeschränkt, jedoch mit dem schuldigen Respekt gegenüber der Autorität des Rates, jedweden Vorschlag zu machen und jegliche Kritik zu üben, wenn er nach bestem Wissen und Gewissen davon überzeugt ist, dass gewisse Verhältnisse oder Tendenzen in seiner Gemeinde der Verbesserung oder der Abhilfe bedürfen..43 Mit diesem Recht des einzelnen korrespondiert die Pflicht des Rates, »alle ihm so unterbreiteten Ansichten sorgfältig zu erwägen«44.
33 Außer dem unmittelbaren Gehör beim örtlichen oder nationalen Geistigen Rat, beim Berater oder beim Hilfsamt gibt es besondere Gelegenheiten, Ansichten in der Gemeinde öffentlich kundzutun. Die häufigste derartige Gelegenheit für jeden Bahá’í ist das Neunzehntagefest, das »neben seinen sozialen und geistigen Aspekten zahlreiche administrative Funktionen und Bedürfnisse der Gemeinde erfüllt, somit an erster Stelle dem Erfordernis offener, konstruktiver Kritik und Beratung über die örtlichen Belange der Bahá’í-Gemeinde Rechnung trägt.45. Gleichzeitig betont Shoghi Effendi - wie uns sein Sekretär übermittelt -, dass »jede Kritik und Diskussion negativer Art, welche die Autorität des Rats als Institution untergraben kann, strikt zu vermeiden ist. Denn sonst gerät die Ordnung der Sache selbst in Gefahr, sonst wird die Gemeinde von Zwist und Verwirrung beherrscht.«46
34 Dies macht deutlich, dass mehr in Betracht zu ziehen ist als das Recht des Kritikers, sich zu äußern. Bewahrt werden muss auch der vereinigende Geist der Sache Gottes, die Autorität seiner Gesetze und Gebote, denn Autorität ist untrennbar mit Freiheit verbunden. Motiv, Gebaren und Form sind von Bedeutung; aber da ist auch die Frage der Liebe: Liebe für den Nächsten, Liebe für die Gemeinde, Liebe für die Institutionen.
35 Die Verantwortung des einzelnen für ein Verhalten, das gesellschaftliche Stabilität garantiert, erlangt in diesem Zusammenhang grundlegende Bedeutung. So lebensnotwendig Kritik für den Fortschritt der Gesellschaft auch ist, sie ist ein zweischneidiges Schwert: Nur zu oft ist sie der Vorbote von Hader und Streit. Die ausgewogenen Verfahren der administrativen Ordnung sollen dieses wesentliche Instrument der Kritik davor bewahren, zu einem solchen Meinungsstreit zu degenerieren, dass Opposition mit ihren schrecklichen schismatischen Folgen das Haupt erhebt. Welch unvorhersehbar negative Folgen hatte fehlgeleitete Kritik: die katastrophalen Spaltungen der Religion, die ebenso streitsüchtigen Parteiungen innerhalb politischer Systeme, die ihrerseits den Konflikt mit Konzepten wie dem der »loyalen Opposition« aufwerten und sie jeweils auf eine der verschiedenen Ausformungen politischer Überzeugung - konservativ, liberal, progressiv, reaktionär und dergleichen - beziehen.
36 Lassen die Bahá’í vorsätzlich die Ordnungsprinzipien außer Acht, die Bahá’u’lláh aufrichtete, um die menschliche Familie von ihrer Neigung zur Zwietracht zu hellen, dann wird die Sache Gottes, für die so vieles geopfert wurde, sicherlich zurückgeworfen in ihrer Mission, die Weltgesellschaft vor ihrem völligen Zerfall zu bewahren. Sollte nicht immer wieder die Existenz des Gottesbundes beschworen werden, um durch wiederholte Mahnung die nötige Perspektive zu bewahren? Denn in diesem neuen Zeitalter ist die Sache Bahá’u’lláhs geschützt vor den verderblichen Folgen eines Missbrauchs der Kritik, dank der Institution des Bündnisses und der Vorkehrung eines umfassenden administrativen Systems, das in sich Mechanismen birgt, die konstruktiven Gedanken einzelner aufzuspüren und zum Wohle des Gesamtsystems zu verwenden. Mit der Mahnung, die Einheit als Ziel Seiner Sache zu bewahren, wendet sich Bahá’u’lláh in Seinem Buch des Bundes mit folgenden eindringlichen Worten an die Menschen: »Lasst es nicht zu, dass das Mittel der Ordnung zur Quelle der Unordnung gemacht wird, das Werkzeug der Einheit zum Anlass für Zwietracht. .47 Derartige Aussagen stellen einen entscheidenden Punkt heraus: In der Logik des Bündnisses ist Uneinigkeit ein moralischer und intellektueller Widerspruch zum Hauptziel, das die Bahá’í-Gemeinde belebt - nämlich der Errichtung der Einheit der Menschheit.
37 Wenden wir uns wieder den Charakteristika der Rede zu. Gehalt, Umfang, Stil, Takt, Weisheit und rechte Zeit gehören zu den ausschlaggebenden Faktoren, die über Erfolg oder Misserfolg der Rede entscheiden. Darum müssen sich die Freunde stets über die Bedeutung dieser den Menschen von anderen Lebensformen unterscheidenden Fähigkeit bewusst sein und sie überlegt nutzen. Das Bemühen um eine entsprechende Disziplin wird Umgangsformen hervorbringen, die der künftigen Reife der Menschheit würdig sind. Wie für das gesprochene, gilt diese Disziplin auch für das geschriebene Wort; sie hat größte Bedeutung für das Wirken der Presse.
38 Bedeutung und Rolle der Presse in einem neuen Weltsystem treten deutlich vor Augen, wenn man bedenkt, welchen Nachdruck die Ordnung Bahá’u’lláhs auf die Verfügbarkeit von Information für alle Ebenen der Gesellschaft legt. Shoghi Effendi weist darauf hin, dass Bahá’u’lláh »besonders die `rasch erscheinenden Zeitungen' erwähnt und sie als 'Spiegel der Welt' bezeichnet, als .eine erstaunliche, machtvolle Erscheinung'48. Von allen, die für ihre Herausgabe verantwortlich sind, verlangt Er, dass sie geheiligt seien von Bosheit, Leidenschaft und Vorurteil, dass ihr Sinn gerecht und unparteiisch sei, dass sie bei ihren Untersuchungen gewissenhaft sind und in jedem Fall die Fakten ermitteln.« 49
39 In Seinem politischen Traktat Das Geheimnis göttlicher Kultur gibt Abdu'1-Bahä Einblick in die unentbehrliche Rolle der Presse in einer künftigen Gesellschaft. Er nennt es »dringend nötig, dass brauchbare Aufsätze und Bücher geschrieben werden, die klar und bündig darlegen, wessen das Volk heutzutage bedarf und was dem Glück und dem Fortschritt der Gesellschaft dienlich ist«50. Er bezeichnet »die Veröffentlichung edler Gedanken« als die »dynamische Kraft in den Schlagadern des Lebens«, als »die Seele der Menschenwelt«. Sodann stellt Er fest, dass »die öffentliche Meinung auf das gelenkt werden muss, was dieses Tages würdig ist. Dies ist jedoch nur möglich durch angemessene Argumente und durch klar verständliche, schlüssige Beweise.«51
40 Bezüglich Stil und Ausdrucksform ermahnt Bahá’u’lláh »Autoren unter den Freunden«, so »zu schreiben, wie es aufrichtigen Seelen annehmbar ist und nicht das Volk zum Kritteln verleitet. « und er erinnert daran: »Wir haben in der Vergangenheit gesagt, dass ein Wort wie der Frühling wirkt, die Herzen erfrischt und belebt, ein anderes aber wie Trockenfäule Blumen und Blüten vertrocknen lässt.«52
41 Im Lichte dieser Ausführungen muss der Verhaltenskodex der Presse die Prinzipien und Ziele der Beratung, wie durch Bahá’u’lláh offenbart, enthalten. Nur so wird die Presse in der Lage sein, ihren vollen Beitrag zur Wahrung der Rechte der Menschen zu leisten und ein machtvolles Instrument im gesamtgesellschaftlichen Beratungsprozess - und damit auch für die Vereinigung der gesamten Menschheit - zu werden.
42 Einige Freunde meinen, das Heraustreten des Glaubens aus der Verborgenheit sei die rechte Zeit, gewisse Beschränkungen in der Bahá'í-Gemeinde aufzugeben; ihre Sorge gilt insbesondere der vorübergehenden Notwendigkeit von Überprüfungen vor einer Publikation.
43 Auf der Weltebene ist der Glaube ganz gewiss der Verborgenheit entwachsen. Für die Anstrengungen der Gemeinde, die Existenz des Glaubens denen ins Bewusstsein zu bringen, die Einfluss auf das Weltgeschehen ausüben, bezeichnet dies ohne Zweifel eine triumphale Etappe. Bedenken Sie, wie die Sorgen der Gemeinde wegen der Leiden und Opfer der Freunde im Iran zum Gegenstand von Debatten in den Einflussreichsten Parlamenten und vor den bedeutendsten internationalen Foren wurde. Unleugbar gibt diese Entwicklung dem Glauben die Möglichkeit, Ziele zu verfolgen, die bislang unerreichbar waren; völlig zweifelhaft ist jedoch, ob damit die ersehnte Reife der Gemeinde erreicht ist.
44 Wie könnte sie auch zur Reife gelangt sein, wissen wir doch durch die eindeutige Führung des geliebten Hüters, dass die Verborgenheit nur eines von zahlreichen Stadien in der langen Entwicklung des Glaubens zu seiner goldenen Bestimmung ist. Hat er uns nicht allesamt gewarnt, dass der Glaube vor seiner Emanzipation und Anerkennung als Weltreligion ein Stadium der Unterdrückung durchlaufen muss? Können die Freunde 'Abdu'l-Bahás oft zitierte Warnung vergessen, die Sache Bahá’u’lláhs werde heftigste Gegnerschaft in den verschiedensten Ländern aller Kontinente erfahren? Hat Shoghi Effendi nicht im Hinblick auf diesen kommenden Sturm die amerikanischen Gläubigen als »die unbesiegbare Armee Bahá’u’lláhs« bezeichnet, »die im Westen, einem der potentiellen Sturmzentren, in Seinem Namen und um Seinetwillen, eine der grimmigsten, ruhmreichsten Schlachten schlagen wird«53?
45 Wer alle Beschränkungen aufgeben will, wer sich auf die Redefreiheit beruft, um schlechterdings alles faber die Bahá’í-Gemeinde zu publizieren, wer die sofortige Beendigung der Überprüfungspraxis verlangt, nachdem der Glaube jetzt aus der Verborgenheit herausgetreten ist - ist sich der dieser ernüchternden Aussichten nicht bewusst? So verbreitet die Ablehnung der derzeitigen Verfolgungen im Iran durch die Öffentlichkeit auch war, machen wir uns nichts vor über die mit Sicherheit noch zu erwartenden Widerstände in vielen Ländern, auch in der »Wiege der administrativen Ordnung«.
46 Noch steckt der Glaube in seinen Kinderschuhen. Obwohl er aus der Verborgenheit hervorgetreten ist, weiß die übergroße Mehrheit der Menschheit noch nicht einmal von seiner Existenz. Zudem sind seine Anhänger überwiegend relativ neue Bahá’í. Der Wandel, den dieses neue Stadium in der Entwicklung des Glaubens mit sich bringt, ist, dass diese zarte Pflanze, die bislang durch ihr Verborgensein vor öffentlicher Aufmerksamkeit geschützt war, sich jetzt in exponierter Lage findet. Dieses Exponiertsein lädt zu eingehender Beobachtung ein, und diese Beobachtung wird am Ende in den verschiedensten Bereichen zu Widerstand führen. Darum muss die Gemeinde, statt sich der Sorglosigkeit hinzugeben, der Notwendigkeit bewusst sein, ein korrektes Bild von sich zu bieten und ihre Ziele einer weitgehend skeptischen Öffentlichkeit unverzerrt zu vermitteln. Noch größere Anstrengung, noch größere Sorgfalt sind jetzt nötig, um die Gemeinde gegen die Bosheit der Unwissenden und den Unverstand der Freunde zu schützen.
47 Denken wir alle daran, dass dieser junge Gottesglauben inmitten der Wirren dieses Zeitalters um Wachstum und Entfaltung ringt. Wie ein zarter Spross, der kaum erkennbar die Erde durchstoßen hat, muss er gehegt werden, damit er erstarke und reife. Er braucht den nötigen Schutz gegen die Gefahren des Sturms und der drohenden Erstickung durch das Unkraut. Wenn wir, deren Sorge diese Pflanze anvertraut ist, ihre Schutzbedürftigkeit nicht sehen, dann wird der potentiell in ihr angelegte große Baum in seinem Wachstum gestört und gehindert, seine schützenden Aste über die ganze Menschheit zu breiten. Aus dieser Perspektive müssen wir alle die latente Gefahr ins Auge fassen, die der Sache von schlecht beratenen Aktionen und übertriebenen Erwartungen droht. Besonders müssen wir die Wirkung des Wortes, vor allem des gedruckten Wortes, sorgsam bedenken. Hier müssen Bahá’í-Autoren und -Verleger achtsam sein, rigorose Selbstdisziplin üben und dem Erfordernis der Überprüfung in diesem frühen Entwicklungsstadium des Glaubens genügen.
48 Das Recht des einzelnen auf freie Meinungsäußerung liegt den voranstehenden Ausführungen zu den verschiedenen Arten der Freiheit zugrunde. Dennoch ist darüber hinaus etwas zur persönlichen Freiheit zu sagen. Die Grundhaltung, die der Glaube zu dieser Frage einnimmt, läßt sich am besten anhand einiger Aussagen 'Abdu'1-Bahás über die Familie erläutern: »Die Unverletzlichkeit der Familienbande muss unablässig bedacht, die Rechte der einzelnen Familienmitglieder dürfen nicht verletzt werden... Alle Rechte sind zu wahren, zugleich aber muss die Einheit der Familie gehegt werden. Werden die Rechte eines einzelnen verletzt, so gelte dies als Verletzung der Rechte aller; des einen Wohl sei das Wohl aller, des einen Ehre die Ehre aller.«
49 Die Beziehung des einzelnen zur Gesellschaft erläutert Shoghi Effendi wie folgt: »Die Gesellschaftsvorstellung der Bahá’í gründet sich auf dem Prinzip, dass der Wille des einzelnen dem der Gesellschaft untergeordnet ist. Sie unterdrückt den einzelnen nicht, noch stellt sie ihn so sehr heraus, da¢ er zu einem antisozialen Wesen, zu einer Gefahr für die Gesellschaft, wird. Wie überall folgt sie auch hier dem 'goldenen Mittelweg'.« 55
50 Diese Beziehung, die von so grundsätzlicher Bedeutung für die Bewahrung zivilisierten Lebens ist, fordert in höchstem Maße Verständnis und Kooperation zwischen Gesellschaft und Individuum. Entsprechend der Notwendigkeit, ein Klima zu fördern, in welchem sich die ungezählten Fähigkeiten der einzelnen Gesellschaftsglieder entwickeln können, muss diese Beziehung »Freiräume. bieten, in denen sich »Individualität behaupten kann; die Mittel hierfür sind Spontaneität, Initiative und Vielfalt, welche die Lebensfähigkeit der Gesellschaft garantieren. Eine den Bahá’í-Institutionen auferlegte Pflicht mit unmittelbarem Bezug auf diese Aspekte individueller Freiheit und Entwicklung wird in der Verfassung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit wie folgt beschrieben: »... die Rechte, die Freiheit und die Initiative des einzelnen zu schützen«56. Eine logische Folge daraus ist, »das Augenmerk auf die Wahrung der Menschenwürde zu richten«57.
51 Es ist bemerkenswert, dass in der Ordnung Bahá’u’lláhs der einzelne, wenngleich sein Wille dem der Gesellschaft untergeordnet ist, sich nicht in der Masse verliert, sondern zum Brennpunkt elementarer Entwicklung wird, so dass er im Strom des Fortschritts seinen eigenen Platz findet und die ganze Gesellschaft aus dem Reservoir der Talente und Fähigkeiten der sie konstituierenden einzelnen Nutzen ziehen kann. So findet der Mensch die Erfüllung des ihm eigenen Potentials nicht in der bloßen Befriedigung seiner Bedürfnisse, sondern in der Erfahrung seiner Ganzheit durch das Einssein mit der Menschheit und dem göttlich bestimmten Zweck der ganzen Schöpfung.
52 Die Qualität der Freiheit und ihrer Äußerungen - ja die bloße Möglichkeit, in einer Gesellschaft Freiheit zu bewahren - beruht ohne Zweifel auf dem Wissen und der Bildung der Menschen und auf ihrer Befähigung, den Herausforderungen des Lebens mit Gleichmut zu begegnen. Der geliebte Meister schrieb: »Ehre und Würde des einzelnen liegen darin, dass er unter all den Massen der Weltbewohner zu einer Quelle des gesellschaftlichen Wohles wird. Gibt es eine größere Gnade als die, dass ein Mensch, wenn er in sich geht, feststellen darf, dass er, durch göttliche Gunst bestätigt, Frieden und Wohlfahrt, Glück und Nutzen unter seinen Mitmenschen bewirkt? Nein, bei dem einen wahren Gott! Es gibt keine größere Freude, kein vollkommeneres Glück.«58
53 Der Geist der Freiheit, der in den letzten Jahrzehnte mit der Gewalt eines Orkans über den Planeten fegte, ist eine Folge der Erschütterung, welche die Offenbarung Bahá’u’lláhs auslöste. Seine Worte bestätigen dies. »Die Altehrwürdige Schönheit., so schrieb Er in einem bewegenden Kommentar zu Seinen Leiden, »hat eingewilligt, in Ketten gelegt zu werden, damit die Menschheit aus ihrer Knechtschaft erlöst werde, und hat es hingenommen, zum Gefangenen in dieser mächtigen Festung zu werden, damit die ganze Welt wahre Freiheit erlange.« 59
54 Führt dies nicht zu dem nahe liegenden Schluss, dass »wahre Freiheit« Bahá’u’lláhs Liebesgabe an die Menschheit ist? Bedenken wir, was Er getan hat: Er offenbarte Gesetze und Grundsätze, die Freien zu führen; Er errichtete eine Ordnung, die Freien in ihrem Handeln zu leiten; Er verkündete einen Bund, die Einheit der Freien zu sichern.
55 So gelangen wir zu der entscheidenden Einsicht: Bahá’u’lláh kam, die Menschheit zu befreien. Seine Offenbarung ist in der Tat eine Einladung zur Freiheit - Freiheit von Mangel, Freiheit von Krieg, Freiheit zur Einheit, Freiheit zum Fortschritt, Freiheit in Frieden und Freude.
56 Sie, Bewohner eines Landes, in dem Freiheit derart hoch geschätzt wird, müssen deshalb keineswegs auf die Früchte der Freiheit verzichten; aber es ist Ihre Herausforderung und Ihre Pflicht, klar zu unterscheiden zwischen einem Freibrief, der Ihre Chancen zu wirklichem Fortschritt behindert, und dem rechten Maß, das den Genuss wahrer Freiheit verbürgt.

Das Universale Haus der Gerechtigkeit

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1 zitiert nach Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 116
2 zitiert nach Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 119
3 S.29
4 Star of the West, Bd. 10 Nr. 12 (16. Oktober 1919), S. 233
5 zitiert nach Gott geht vorüber, S. 171
6 Baha'u'lláh, Kitáb-i-Aqdas, Inhaltsübersicht und systematische Darstellung 21:1
7 Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 207
8 Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 218
9 Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 218
10 Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 219
11 Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 233
12 Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 233
13 Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 70
14 Baha'u'lláh, Die Verborgenen Worte, arab. 3
15 Gott geht vorüber, S. 248 ff
16 Baha'u'lláh, Ährenlese 110; 163:3
17 Baha'u'lláh, Botschaften aus Akká 11:19
18 Baha'u'lláh, Botschaften aus Akká 8:19
19 Baha'u'lláh, Ährenlese 163:2
20 vgl. Botschaften aus Ákká 6:33
21 Ährenlese 163:2
22 Kitáb-i-Aqdas, Inhaltsübersicht und systematische Darstellung 16:3
23 a.a.0.
24 aa.0. 16:5
25 a.a0. 16:4
26 aa0. 16:5
27 Botschaften aus Akká 7:17
28 Ährenlese 109:2
29 Botschaften aus Akká 11:19
30 Kitáb-i- Aqdas, Inhaltsübersicht und systematische Darstellung 16:5
31 Briefe und Botschaften 227:26
32 unveröffentlicht
33 Ährenlese 125:2 (Iqán 214)
34 Botschaften aus 'Akká 13:14
35 Ährenlese 89:3
36 'Abdu'l-Bahá , in: Bahá'í Administration: Selected Messages 1922 - 1932, S. 22 (Beratung, S. 8)
37 'Abdu'l-Bahá,in: Bahá'í WorldFaith, S.206
38 'Abdu'l-Bahá, in: Bahá'í Administration, S. 21 (Beratung, S. 7i)
39 Bahá'í World Faith S. 411 (Beratung, S. 11)
40 die amerikanische
41 Bahá'í Administration, S. 63f
42 Bahá'í Administration, S. 63
43 Aus einem Brief vom 13. Dezember 1939 im Auftrag des Hüters
44 a.a.0.
45 Aus einem bislang nicht veröffentlichten Brief im Auftrag Shoghi Effendis
46 a.a.0.
47 Dokumente des Bündnisses, Kitáib-i-Ahd 12
48 Vgl. Botschaften aus Akká 4:25
49 Gott geht vorüber, S. 249f
50 S.98
51 S. 98f
52 Aus einem bislang nicht veröffentlichten Sendschreiben
53 Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit S. 69
54 Prornulgation of Universal Peace, S. 168
55 Aus einem bislang nicht veröffentlichten Brief Shoghi Effendis
56 Declaration of Trust, S. 5
57 a.a.0.
58 Das Geheimnis göttlicher Kultur, S. 14
59 Ährenlese 45










Freiheit und Ordnung – Eine Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit vom 29.12.1988 an die USA


1988, Dez 29, Freiheit und Ordnung Seite 1 von 13

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