Lesen: Varqa und Ruhullah


Kazem Kazemzadeh

Varqá und Rúhu'lláh:
Unsterblich im Märtyrertum


CIP-Einheitsaufnahme der Deutschen Bibliothek:

Deutsch aufgrund des Aufsatzes "Varqá and Rúhu'lláh: Deathless in Martyrdom", World Order, Winter 1974-5, Vol. 9, Nr. 2. Copyright (c)1975 by the National Spiritual Assembly of the Bahá'ís of the United States. Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Nicola Towfigh und Claudia Voß


ISBN
(c) Bahá'í-Verlag GmbH
D-65719 Hofheim 1996 - 152
428-490



Vorwort

Der heroische Tod von Mírzá 'Alí-Muhammad Varqá und seines Sohnes Rúhu'lláh ist eine der eindrucksvollsten Episoden der Bahá'í-Geschichte, die an freudigem Opfer unvorstellbar reich ist. Von dem Zeitpunkt an, da der Báb Seine Sendung verkündete, waren Seine Anhänger einer Verfolgung ausgesetzt, die schließlich tausende von Leben dahinraffte.
In dem Gemetzel von 1852-1853 wurden die Reihen der Bábí drastisch gelichtet. Die meisten der führenden Anhänger wurden getötet, nur wenige überlebten im fernen Exil. Die folgenden zehn Jahre waren hoffnungslos verfinstert. In der Bábí-Gemeinde selbst herrschten große Verwirrung und Furcht; und manchmal schienen all der Heldenmut, all die Opfer vergeblich gewesen zu sein. Feinde weideten sich an der Ausrottung einer - wie sie meinten - verderblichen ketzerischen Sekte.
Sympathisierende Außenstehende gewannen den Eindruck, daß die Bewegung, die zu so viel Hoffnung Anlaß gegeben hatte, unter der Verfolgung ins Schwanken geriet, zusammenbrach und lediglich eine glorreiche Erinnerung zurückließ. Tatsächlich bemerkte niemand, daß der Fluß der Bábí-Geschichte nach wie vor mit großer Kraft strömte. Jetzt lenkte Bahá'u'lláh seinen Lauf vom Exil aus, zunächst von Baghdád und später von Konstantinopel, Adrianopel und 'Akká. Nach 1867 scharten sich die restlichen Mitglieder der Bábí-Gemeinde aus Persien um Bahá'u'lláh. Bald stieg die Anzahl der Bahá'í, und der Glaube begann wiederum, die Aufmerksamkeit von Freunden und Feinden gleichermaßen auf sich zu ziehen. Die schiitische Geistlichkeit war verbittert über das Wiederaufblühen einer Bewegung, von der sie glaubte, sie in Blut ertränkt zu haben. Die Hetzkampagne der Mullás verursachte den Ausbruch neuer Verfolgungen in einer Anzahl größerer und kleinerer Städte. Häufig gewährte die weltliche Obrigkeit der Geistlichkeit ihre Unterstützung.
Bahá'í wurden angegriffen, ihre Häuser geplündert, ihr Besitz beschlagnahmt und selbst ihr Leben bedroht. Das Märtyertum ereignete sich erneut in Isfahán, Zanján, Tabríz, Tihrán und an anderen Orten und fand seinen Höhepunkt 1903 im Massaker von Yazd. Erwartungsgemäß diente jeder Augenblick der Verfolgung dazu, den Geist der Bahá'í-Gemeinde zu stärken, deren Reihen sich durch neu bekehrte Gläubige erweiterten. Ihre Anzahl übertraf all jene, die in den vorangegangenen Jahrzehnten niedergemetzelt worden waren.
Mírzá 'Alí-Muhammad Varqá und Rúhu'lláh wurden im Mai 1896 während eines gewaltsamen Übergriffes gegen die Bahá'í getötet. Dieser Ausbruch war durch die Ermordung des Sháh, an der die Bahá'í nicht beteiligt waren, verursacht worden. Die Geschichte vom Märtyrertod eines Vaters und seines jungen Sohnes wurde im Iran und im Ausland sehr bekannt. Sie wurde mündlich weitergegeben und schließlich gedruckt. Im Jahr 1921 veröffentlichte Star of the West (12, No. 4, 93) eine Photographie von Varqá, Rúhu'lláh und ihren beiden Gefährten. Noch später berichtete 'Azízu'lláh Sulaymání im ersten Band seiner wertvollen Arbeit Masábih-i-Hidáyat (Tihrán, 104 B.E.) über Varqá und Rúhu'lláh; dieses Buch war eine der Hauptquellen von Herrn Kazemzadeh.
Herr Sulaymání schreibt in seinem Vorwort: "Das im Folgenden Berichtete stützt sich auf die Worte von Laqá'iyyih Khánum Kazemzadeh, der Tochter des Hájí Ímán, die zwei Jahre lang Varqás Gattin war. Alles, was sie mir sagte, war auf Varqás eigene Aussagen gegründet." Darüber hinaus schreibt Herr Sulaymání, daß er sein Kapitel über Varqá dessen überlebendem Sohn Valíu'lláh gezeigt habe, der ein paar Einzelheiten hinzufügte. Eine weitere Quelle waren die nicht veröffentlichten Memoiren von Mírzá Husayn Zanjání, der Varqás letzte Gefangensetzung teilte.
Vorliegender Bericht stützt sich wie das Essay von Herrn Sulaymání auf Mírzá Husayns Memoiren und auf die Erinnerungen von Laqá'iyyih Khánum Kazemzadeh. Während Herr Kazem Kazemzadeh den Bericht von Herrn Sulaymání mit einbezieht, fügt er seine eigenen Erinnerungen an Gespräche mit seiner Mutter Laqá'iyyih Khánum, mit seinem Großvater Hájí Ímán und mit Mírzá Husayn hinzu. Darüber hinaus hat Frau Rúhá Atái, die Tochter von Laqá'iyyih Khánum, eine Anzahl von Geschichten niedergeschrieben, die ihre Mutter erzählt hatte, und ihre Aufzeichnungen Herrn Kazemzadeh zur Verfügung gestellt. Infolgedessen enthält Herrn Kazemzadehs Artikel einige neue Informationen und stellt so einen bedeutsamen Beitrag zu unserem Wissen über das heroische Zeitalter des Glaubens dar. F.K.



Varqá und Rúhu'lláh:
Unsterblich im Märtyrertum


Im Sternenkreis der Helden, die ihr Leben dem Glauben Bahá'u'lláhs opferten, nehmen 'Alí-Muhammad Varqá und sein Sohn Rúhu'lláh eine herausragende Stellung ein.
'Alí-Muhammad, später unter dem Namen Varqá bekannt, war der Sohn von Hájí Mullá Mihdí, der den Glauben in seiner Geburtsstadt Yazd annahm und sofort einer seiner eifrigsten Verfechter wurde. 'Abdu'l-Bahá schreibt: "Dann erhoben sich die gottlosen 'Ulamás von Yazd und verfaßten sein Todesurteil. Da sich der Mujtahid, Mullá Báqir aus Ardikán, weigerte, das Urteil dieser finsteren Geistlichen zu bestätigen, blieb Mullá Midhí am Leben, war aber gezwungen, seine Heimatstadt zu verlassen."1
Mit seinen beiden Söhnen 'Alí-Muhammad und Husayn reiste er nach Tabríz, wo er herzlich willkommen geheißen wurde von Mírzá 'Abdu'lláh Khán-i-Núrí, einem ergebenen und einflußreichen Bahá'í, der in den Diensten Muzaffari-d-Dín Mírzás, des Thronerben und Gouverneurs von Adhirbayján, stand. Bald heiratete 'Alí-Muhammad Mírzá 'Abdu'lláhs Tochter. Einige Zeit später machte sich Hájí Mullá Mihdí in Begleitung seiner Söhne nach 'Akká auf, um Bahá'u'lláh zu besuchen.
"Zu Fuß machte er sich auf den Weg zum Hause Bahá'u'lláhs. Da er kein geeignetes Schuhwerk für die Reise hatte, waren seine Füße wund und geschunden. Seine Krankheit verschlimmerte sich; er konnte sich kaum bewegen und ging doch weiter. Irgendwie erreichte er das Dorf Mazra'ih, und hier, nahe dem Haus Bahá'u'lláhs, starb er... Mögen die Liebenden sich diese Geschichte zu Herzen nehmen", schreibt 'Abdu'l-Bahá, "mögen sie erkennen, wie er sein Leben hingab in seiner Sehnsucht nach dem Licht der Welt."2
Als 'Alí-Muhammad in die Gegenwart Bahá'u'lláhs gelangte, überkam ihn das deutliche Gefühl, Ihm schon früher begegnet zu sein; aber wie sehr er sich auch bemühte, so konnte er sich nicht erinnern bei welcher Gelegenheit. Einmal wandte sich Bahá'u'lláh an 'Alí-Muhammad und wies ihn an, alle Götzenbilder falscher Vorstellungen und die eitlen Einbildungen zu verbrennen. Plötzlich erinnerte sich 'Alí-Muhammad an einen Traum aus seiner Kindheit. Er spielte mit Spielzeug im Garten, als ihm plötzlich Gott erschien, sein Spielzeug hinwegnahm und es ins Feuer warf. Am Morgen erzählte das Kind seinen Eltern von seinem erstaunlichen Traum. Sie tadelten ihn, indem sie bemerkten, daß Gott selbst im Traum nicht gesehen werden könne. 'Alí-Muhammad hatte den Traum nicht vergessen. Als Bahá'u'lláh ihn aufforderte, die Götzenbilder des Zweifels und der Einbildungen zu verbrennen, erinnerte er sich an das brennende Spielzeug und fand - hellwach - die Deutung seines Kindheitstraumes.
Auf Bahá'u'lláhs Geheiß hin kehrten 'Alí-Muhammad und Husayn in den Iran zurück, um den Glauben zu verbreiten. In Tabríz begann 'Alí-Muhammad sich einen Ruf als Dichter zu erwerben; er schrieb unter dem Pseudonym Varqá, die Friedenstaube, ein Name, der ihm von Bahá'u'lláh verliehen worden war. Er besuchte Versammlungen von Schülern, Schriftstellern und Dichtern, die im Palast des Thronerbens Muzzafari'd-Dín Mírzá zusammenkamen, und er las seine Gedichte häufig einer empfänglichen Zuhörerschaft vor, die ihn mit Lob überschüttete. Er reiste außerdem kreuz und quer durch Adhirbayján, um den Glauben zu lehren.
'Abdu'l-Bahá hat versichert, daß Varqá "in seiner Beredsamkeit vollendet war, seine Worte überzeugend waren, seine Beweisführung einleuchtend. Niemand konnte sich ihm widersetzen.... In Dichtung und Prosa war er im Iran einzigartig."3
Bei einer Versammlung in der Gegenwart des Kronprinzen kam das Gespräch auf die Bábí und auf die von ihnen angewandten Mittel, ihren Glauben zu verbreiten. Ein Mullá sagte, daß die Bábí früher Leute eingeladen hätten, und die angebotenen Speisen die Bekehrung zur Bábí-Religion verursachten. Allmählich hätten die Leute jedoch diesen Trick erkannt und begonnen, auf die Essenseinladungen zu verzichten, woraufhin die Bábí ihre Taktik änderten. Sie preßten den Saft aus den Einladungen und stellten Pillen her. Der Bábí-Lehrer halte eine Pille zwischen den Fingern und beginne ein Gespräch über Religion. Er spreche so wundervoll und faszinierend, daß sich der Mund seines Zuhörers unwillkürlich öffnete. Dann lasse der Bábí die Pille schnell hineinfallen. Der Zuhörer schlucke sie hinunter und sei bekehrt.
Varqá erhielt von Muzaffari'd-Dín die Erlaubnis zu antworten und sprach auf diese Weise: "Erstens bin ich mit Medizin vertraut (Varqá war Arzt der traditionellen persischen Schule), habe aber von einem Extrakt aus Einladungen weder gehört noch gelesen. Zweitens ist es keine einfache Sache, dem Zuhörer in der von diesem Herrn beschriebenen Art und Weise eine Pille in den Mund zu werfen, und dies würde eine lange Übung erfordern. Drittens, warum lassen Leute, die sich in Anwesenheit anderer befinden, im Gegensatz zu den Regeln des feinen Benehmens ihren Mund offen, sodaß Bábí Pillen hineinwerfen können? Viertens, wie ist es möglich, eine Pille in seinen Mund zu bekommen und sie hinunterzuschlucken, ohne sich dieser Tatsache bewußt zu werden?" Weder der Mullá noch sonst irgend jemand sagte ein Wort.
Als Mírzá 'Alí-Muhammad Varqá 1883 Yazd besuchte, wurde er verhaftet und etwa ein Jahr lang inhaftiert. Anschließend wurde er nach Isfahán verlegt, wo er in die Klauen des Mas'úd Mírzá Zilli's-Sultán (Násirid-Dín-Sháhs ältesten Sohnes) geriet. Obwohl nicht Thronerbe, da seine Mutter eine Bürgerliche war und er seinem Vater nicht legal nachfolgen konnte, hielt ihn das nicht von dem Wunsch ab, sich an die Stelle seines Bruders Muzaffari'd-Dín zu setzen und die Krone an sich zu reißen. Grausam und verräterisch, durch und durch skrupellos und selbstisch, von Bahá'u'lláh als "Höllenbaum" gebrandmarkt, war Zilli's-Sultán bereit, jegliches Mittel zur Sicherung seiner Macht zu ergreifen, einschließlich des Mordes an seinen Brüdern und der Entthronung seines Vaters. Seinem brennenden Ehrgeiz folgend schickte Zilli's-Sultán einige Jahre später einen gewissen Hájí Sayyáh aus Mahallát nach 'Akká, der Bahá'u'lláh überreden sollte, Seine Anhänger in Persien anzuweisen, Zilli's-Sultáns Anspruch auf den Thron zu unterstützen. Als Gegenleistung versprach Zilli's-Sultán, die Bahá'í zu beschützen. Bahá'u'lláh schlug Hájí Sayyáhs Gesuch nachdrücklich aus, indem Er deutlich machte, daß der Bahá'í-Glaube nicht politisch sei und daß man mit ihm nicht spielen könne. Zilli's-Sultáns bittere Enttäuschung wurde bald offenkundig.
Er startete gegen die Bahá'í eine Kampagne der Verfolgung in den Provinzen, die er verwaltete, Provinzen, die annähernd halb Persien umfaßten. Viele Bahá'í wurden verhaftet und einige wurden umgebracht, unter ihnen die beiden Brüder Mírzá Muhammad Hasan und Mírzá Muhammad Husayn aus Isfahán, die "zweifach strahlenden Leuchten", von denen man jetzt als dem König der Märtyrer und dem Geliebten der Märtyrer spricht; "beide waren durch ihre Großmut, ihre Treue, ihre Güte und Frömmigkeit gefeiert."4
Im Gefängnis in Isfahán nahm Varqá sich eines bekannten Gefangenen an, des Kháns (Anführers) eines benachbarten Stammes. Als Ergebnis langer Gespräche mit Varqá nahm der Khán den Glauben an. Während Zilli's-Sultán den Khán in der Strafanstalt besuchte, bemerkte er Varqá und fragte, wer er sei. Ein Wärter antwortete, er sei ein Bábí aus Yazd. Zilli's-Sultán begann, Varqá zu verspotten, indem er ihm sarkastisch sagte, daß sein Prophet - wenn er ein wahrer Prophet sei - keine Schwierigkeiten haben sollte, ein Wunder zu vollbringen und einen Schüler von schweren Ketten zu befreien. Ein Begleiter des Prinzen trat vor und erklärte seiner Hoheit, daß Varqá eine gelehrte Person und ein bekannter Dichter sei. Dichter waren unter den Persern immer hoch geachtet. Zilli's-Sultáns Stimmung änderte sich schlagartig. Er vergaß seine verhöhnenden Bemerkungen, ließ sich auf ein lebhaftes Gespräch mit Varqá ein und war so positiv von der Gelehrsamkeit und dem Verstand des Dichters beeindruckt, daß er dem Wärter befahl, Varqá die Fesseln abzunehmen. Sobald die Ketten beseitigt waren, rief das Stammesoberhaupt aus: "Seht, Varqás Prophet hat das Wunder vollbracht!"
Schließlich wurde Varqá auf freien Fuß gesetzt und man erlaubte ihm, die Stadt zu verlassen. In Begleitung seiner beiden Söhne 'Azízu'lláh und Rúhu'lláh (letzterer war damals sechs oder sieben Jahre alt) machte Varqá 1890-1891 einen weiteren Besuch in 'Akká, wo er von Bahá'u'lláh liebevoll empfangen wurde.
Bei dieser Gelegenheit bat Bahá'u'lláh, Der sich gesundheitlich nicht auf der Höhe fühlte, Varqá um medizinische Behandlung. Varqá verschrieb Medizin, die Bahá'u'lláh einnahm und die Seinen Zustand verbesserte.
Eines Tages fragte Bahá'u'lláh Rúhu'lláh, was dieser denn so getan hätte. "Studiert", antwortete der Junge. Bahá'u'lláh fragte, was für ein Thema es gewesen sei. Als Rúhu'lláh sagte, das Thema, das er mit seinem Lehrer besprochen habe, sei die Wiederkehr der Gottesboten gewesen, bat Bahá'u'lláh ihn, den Begriff "Wiederkehr" zu erklären. Rúhu'lláh erläuterte, daß mit der "Wiederkehr" das Wiedererscheinen göttlicher Eigenschaften und Attribute in einem menschlichen Wesen gemeint sei. Bahá'u'lláh bemerkte: "Dies ist eine wörtliche, nachgeplapperte Wiederholung der Erklärung, die dein Lehrer gegeben hat. Wie verstehst du den Begriff?" "Dieses Jahr", setzte Rúhu'lláh fort, "hat ein Rosenbusch eine Rose hervorgebracht. Wir haben die Blume abgeschnitten und sie in eine Vase auf das Sims gestellt. Der selbe Busch wird im nächsten Jahr eine andere Rose hervorbringen, aber jene Rose wird nicht identisch mit der Blume dieses Jahres sein, obwohl sie gleichartig sein wird in ihren Eigenschaften: Form, Farbe, Duft."5 Bahá'u'lláh lobte Rúhu'lláh für sein Verständnis und sprach seither von ihm als seine Exzellenz der Lehrer.
Einmal besuchten Rúhu'lláh und 'Azízu'lláh Bahá'iyyih Khánum, das Größte Heilige Blatt, 'Abdu'l-Bahás Schwester. Die zukünftigen Feinde des Glaubens (Bundesbrecher), ihre Halbbrüder Mírzá Diáu'-lláh und Mírzá Badí'u'lláh, waren auch zugegen. Bahá'iyyih Khánum fragte Rúhu'lláh, was er und sein Bruder in Persien getan hätten. "Wir lehrten die Sache", antwortete er. Bahá'iyyih Khánum wollte wissen, wie sie den Glauben lehrten und was sie den Leuten sagten. "Wir sagten den Leuten, daß Gott sich offenbart hat", antwortete der Junge. Bahá'iyyih Khánum drückte Erstaunen darüber aus, daß Rúhu'lláh jedem so etwas erzählt habe. "Wir sagten es nicht jedem", erklärte Rúhu'lláh. "Wir sagten es nur denjenigen, die die geistigen Fähigkeiten besaßen, es zu hören." Bahá'iyyih Khánum fragte, wie sie entschieden, wer solche geistigen Fähigkeiten hatte. "Wir schauten in ihre Augen und sahen, ob es ihnen gesagt werden sollte oder nicht."
Bahá'iyyih Khánum lachte und sagte Rúhu'lláh, er solle in ihre Augen schauen, um zu entscheiden, ob ihr die frohen Botschaften überbracht werden könnten. Er trat näher an sie heran und sah in ihre Augen: "Du bist selbst schon davon überzeugt", sagte er. Dann bat Bahá'iyyih Khánum Rúhu'lláh, in die Augen von Diáu'-lláh und Mírzá Badí'u'lláh zu schauen. Hatten sie die geistigen Fähigkeiten, davon zu hören? Rúhu'lláh betrachtete die beiden lange und erklärte: "Das ist der Mühe nicht wert."6

Nach dem Hinscheiden Bahá'u'lláhs machten Varqá und seine Söhne 'Azízu'lláh und Rúhu'lláh eine weitere Pilgerreise nach 'Akká. Einmal trug Varqá vor 'Abdu'l-Bahá und einer Anzahl Bahá'í ein Gedicht vor, das 'Abdu'l-Bahá und Seine göttlichen Eigenschaften pries. 'Abdu'l-Bahá wies den Dichter sanft und humorvoll zurecht, indem Er ihm sagte, er hätte anstatt dessen über 'Abdu'l-Bahás Dienstbarkeit schreiben sollen.
'Abdu'l-Bahá zeigte große Liebe für Rúhu'lláh. Während er mit einigen Jungen spielte, schlug Rúhu'lláh einen Spielkameraden, der in unanständiger Sprache gesprochen hatte. Der Junge beklagte sich bei Varqá, welcher beschloß, seinen Sohn zu bestrafen, aber Rúhu'lláh suchte in 'Abdu'l-Bahás Raum Zuflucht. Varqá trat an die Tür. Er wagte nicht einzutreten und gab so seinem Sohn ein Zeichen herauszukommen. Rúhu'lláh schüttelte den Kopf und verweigerte so den Gehorsam. 'Abdu'l-Bahá, der die Pantomime bemerkte, fragte, was los sei. Rúhu'lláh bekannte, daß er einen Jungen geschlagen hatte, weil dieser eine anstößige Sprache gebrauchte. Nun stand der Vater draußen und wartete darauf, die Strafe auszuführen. 'Abdu'l-Bahá rief Varqá und verbot ihm strikt, Rúhu'lláh zu bestrafen. Varqá behandelte von diesem Zeitpunkt an bis zu ihrem Tod Rúhu'lláh mit besonderer Zärtlichkeit und Respekt.
Einmal fragte 'Abdu'l-Bahá Rúhu'lláh, was er tun würde, wenn nach all den Ereignissen, die auf die Erklärung der Sendung des Báb gefolgt waren, plötzlich ein Mann erscheinen würde, der sich selbst als Qá'im verkündete, Wunder vollbrächte und alle materiellen Anzeichen genau vorweisen könne, von denen man erwartet, daß sie sein Kommen begleiten. Ohne zu zögern antwortete Rúhu'lláh: "Wir müßten ihn den Glauben lehren." 'Abdu'l-Bahá lobte den Jungen und sagte, daß er jetzt bereit sei, führenden Geistlichen ('ulamá ) zu begegnen.

Varqás Schwiegermutter, die Frau des getreuen Mírzá 'Abdu'lláh Khán-i-Núrí, war eine fanatische Muslimin und ärgerte sich sehr über die Heirat ihrer einzigen Tochter mit einem Bahá'í. Sie unternahm jede Anstrengung, um für ihre Tochter die Scheidung herbeizuführen. Ob sie den Anstoß dazu gegeben hatte oder nicht - auf jeden Fall begannen in Tabríz Gerüchte umzugehen, daß Mírzá 'Abdu'lláh Khán, ein einflußreicher, dem Kronprinzen (der traditionsgemäß Gouverneur von Adhirbayján war) nahestehender Adliger die Bábí unterstützte und daß sie sich in seinem Hause versammelten. Intrigen und Geflüster untergruben das Verhältnis zwischen Mírzá 'Abdu'lláh Khán und dem Prinzen, dessen Haltung sich plötzlich zum Schlechten wandelte. Mírzá 'Abdu'lláh Khán war in Gefahr, eingesperrt zu werden und mußte von Tabríz nach Tihrán abreisen. Mírzá 'Abdu'lláhs Frau nützte die Abwesenheit ihres Mannes und bestach Varqás jungen und kräftigen Diener, seinen Herrn umzubringen. Sie versprach ihm Geld und ein Pferd zur Belohnung. Der Diener jedoch war im Herzen ein Gläubiger und Varqá sehr ergeben. Unter dem Vorwand, ärztliche Hilfe wegen Bauchschmerzen zu suchen, betrat er spät in der Nacht den Raum seines Herren, eröffnete ihm den Mordplan und riet ihm, sofort das Haus zu verlassen. In derselben Nacht warf Varqá seine handschriftlichen Bahá'í-Bücher aus dem Fenster und ging dann mit leeren Händen aus dem Haus, um keinen Verdacht zu wecken. Er hob die Bücher schnell auf und ging zum Haus eines Bahá'í-Freundes.7
Varqás Frau erlangte bald ihre Scheidung und behielt die Kinder, die daher in die Klauen ihrer fanatischen Großmutter mütterlicherseits gerieten. Diese war noch nicht befriedigt. Von Haß erfüllt trat sie an einen der Mujtahids von Tabríz heran und bat ihn, eine fatvá (Rechtsentscheidung) für die Hinrichtung ihres Schwiegersohnes als Abtrünniger zu verkünden. Der Mujtahid lehnte die Herausgabe einer solchen fatvá ab, ohne zuerst Beweise für Varqás Abtrünnigkeit zu erhalten. Die Frau versprach, ihren Fall mit Varqás eigenen Kindern zu beweisen, die von ihm angeblich im Geist der Ketzerei und des Unglaubens aufgezogen worden seien.
Am nächsten Tag brachte sie Rúhu'lláh zum Mujtahid . Der Junge glaubte, in der Gegenwart eines Bahá'í zu sein und grüßte den Geistlichen so mit dem Bahá'í-Gruß "Alláh'u'Abhá". Die Großmutter sagte dem Mujtahid , daß Rúhu'lláh seine Gebete sehr gut sprechen könne. "Sag deine Gebete, mein Lieber", befahl der Mujtahid . Rúhu'lláh wandte sich nach 'Akká und begann, das lange Pflichtgebet auf arabisch vorzutragen. Der Geistliche war offensichtlich berührt. Als der Junge aufgehört hatte, schickte der Mujtahid die Großmutter fort und sagte: "Schäme dich, weil du die Hinrichtung eines Mannes anstrebst, der seinen kleinen Sohn in einem solchen Geist von Glauben, Frömmigkeit und Hingabe erzogen hat." Obwohl es Varqá bald gelang, die Vormundschaft über Rúhu'lláh und 'Azízu'lláh zu erhalten, blieben die beiden anderen Söhne Valíu'lláh und Badí'u'lláh bei ihrer Mutter.
Die Großmutter war erfüllt von Haß und Wut darüber, daß sie Varqás Hinrichtung nicht hatte erreichen können. Um sich zu trösten, setzte sie ihre beiden kleinen Enkel neben sich und sagte ihnen, daß sie beten würde, und daß sie am Ende ihres Gebetes "Amen" sagen sollten. "O Gott", begann sie dann, "wenn diese beiden Kinder als gute Muslime aufwachsen, mache sie glücklich und reich und schenke ihnen die Freude einer Pilgerreise nach Mekka. Sollten sie jedoch wie ihr Vater werden , dann zerstöre sie auf der Stelle." Die unschuldigen Kinder pflichteten dann bei: "Amen". Als die alte Frau erfuhr, daß Varqá und Rúhu'lláh Märtyrer geworden waren, gab sie ein Freudenfest, um das Ereignis zu feiern.
Als es ihm nicht länger möglich war, in Tabríz zu bleiben, ging Varqá mit seinen zwei Söhnen nach Zanján, wo er im Haus von Umm-i-Ashraf blieb, die eine heroische Frau war und deren Sohn, Siyyid Ashraf, ein paar Jahre zuvor Märtyrer geworden war. Bahá'u'lláh selbst beschrieb diese ruhmreiche Episode mit folgenden Worten: "Als die Ungläubigen ihn zu Unrecht zu töten beschlossen, ließen sie seine Mutter kommen, damit sie ihn warne und dazu bringe, seinen Glauben zu widerrufen und den Fußstapfen derer zu folgen, die die Wahrheit Gottes, des Herrn aller Welten, verworfen haben.
Kaum hatte sie das Antlitz ihres Sohnes erblickt, da sprach sie solche Worte zu ihm, daß die Gottesfreunde und darüber hinaus die himmlischen Heerscharen im Herzen laut aufschrien, von heftigem Gram gequält. Wahrlich, dein Herr weiß, was meine Zunge spricht, er selbst bezeugt Meine Worte.
Und zu ihm gewandt, sprach sie: "Mein Sohn, mein geliebter Sohn! Säume nicht, dich auf dem Pfade deines Herrn zu opfern. Hüte dich, deinen Glauben an Ihn zu verraten, vor dessen Angesicht sich alle in den Himmeln und auf Erden in Anbetung beugen. Geh geradeaus, o mein Sohn, und bleibe standhaft auf dem Pfade des Herrn, deines Gottes! Eile, in die Gegenwart des Vielgeliebten aller Welten zu gelangen."
Auf ihr seien Meine Segnungen, Meine Gnade, Mein Lobpreis und Meine Herrlichkeit! Ich selbst werde den Verlust ihres Sohnes sühnen..."8
Varqá hatte beabsichtigt, nach Tihrán zu gehen, aber stattdessen blieb er über zwei Jahre in Zanján. Er heiratete Umm-i-Ashrafs Enkelin, Laqá'iyyih, deren Vater, Hájí Ímán, ein Überlebender des heroischen Kampfes von Zanján (1850-1851) war. Varqás junge Frau und ihre Großmutter waren Rúhu'lláh sehr zugetan; dieser erwiderte ihre Zuneigung und redete Umm-i-Ashraf bald als Mutter an.
Oft befragte Rúhu'lláh Umm-i-Ashraf über die Hinrichtung ihres Sohnes und sagte ihr, sie solle nicht traurig sein. "Bedenke, Mutter", sagte er dann, "wenn Siyyid Ashraf nicht hingerichtet worden wäre, wäre er einige Jahre später im Bett gestorben. Was hätte das für einen Vorteil gehabt? Aber nun ist er der Stolz seiner Familie und Freunde und der Gegenstand ewiger Lobpreisungen und Gnadengaben Bahá'u'lláhs. Ich wünschte, mir würde eine solche Freude zuteil." Umm-i-Ashraf erwiderte dann: "Sag so etwas nicht. Du mußt leben, um zu lehren." "Dann laß mich dich lehren", sagte der Junge darauf. "Du bist eine Muslimin, und ich bin ein Bahá'í-Lehrer." Aber Umm-i-Ashraf war dann nicht einmal damit einverstanden, so zu tun, als ob sie eine Muslimin sei. Nach all dem, was ich erduldet habe, kann ich keine Muslimin sein und mit dir diskutieren", sagte sie. Rúhu'lláh gab auf und hielt statt dessen eine Rede über die Religion Bahá'u'lláhs. Obwohl seine Stimme wohltönend und klar war, hielt er gelegentlich inne und räusperte sich, was er damit erklärte, daß alle erwachsenen Redner sich beim Sprechen räusperten, um sich die Kehle zu reinigen. Laqá'iyyih Khánum wiederholte die Geschichte Jahre später für ihre eigenen Kinder und Enkel.
Einmal trafen Rúhu'lláh und 'Azízu'lláh einen Mullá, der auf einem Esel durch die Straßen Zanjáns ritt. Als der Mullá die fremden Kinder bemerkte, fragte er sie nach ihrem Namen. Rúhu'lláh nannte dem Mullá seinen Namen. "Gut, gut", bemerkte der Mann sarkastisch, "was für ein bedeutender Name! Erweckst du auch Leute zu neuem Leben?" Er bezog sich dabei auf die Bedeutung des Namens Rúhu'lláh, der Geist Gottes, wie auch Jesus bezeichnet wird. "Wenn Sie ein bißchen langsamer reiten würden", sagte Rúhu'lláh, "dann würde ich Sie zu neuem Leben erwecken." "Ihr seid ganz offensichtlich Bábí-Kinder", antwortete der Mullá wütend.
Varqás Erfolge bei der Verbreitung des Glaubens weckten die Gegnerschaft des Klerus von Zanján. In den Moscheen verlangten sie, die Religion vor den Angriffen der Bábí zu schützen und verwiesen auf die "ketzerischen" Aktivitäten Varqás. Die gespannte Lage spitzte sich zu und die Bábí spürten, daß sich die Einstellung der Bevölkerung ihnen gegenüber wandelte. Im Bazar wurden sie beleidigt und auf den Straßen bedroht. Varqá fühlte, wie der Sturm sich näherte. Da er den Fanatikern in einer Stadt, in der ein paar Jahrzehnte zuvor mehr als 1.500 Bábí zum Tode verurteilt worden waren, keinen Vorwand für neue Verfolgungen und Torturen liefern wollte, beschloß er, sich auf den Weg nach Tihrán zu machen.
Am Vorabend seiner Abreise stattete Varqá in Begleitung Mírzá Husayns, eines Bahá'í aus Zanján, dem Leiter des örtlichen Telegraphenamtes einen Abschiedsbesuch ab. Der Telegraph kam etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Persien. Die Briten funkten als erste über die Leitungen des Landes, die Teil des großen indo-europäischen Telegraphen waren. Unter dem persischen Volk entstand der Glaube, daß von allen Telegraphenämtern Leitungen direkt zum Thron des Sháh führten. So erlangten die Ämter wie königliche Stallungen und andere mit der Krone assoziierte Gebäude ein Maß an Ehrwürdigkeit und wurden Asyle, in denen man Zuflucht vor den Ungerechtigkeiten, die von örtlichen Behörden begangen wurden, suchen konnte. Darüber hinaus brachte einen der Telegraph schnell in Verbindung mit der Hauptstadt und ermöglichte so, daß eine Beschwerde Seine Majestät den Sháh in kurzer Zeit erreichte.
An dem Abend, als Varqá und Mírzá Husayn das Telegraphenamt von Zanján verließen, wurden sie von Mullá 'Abdu'l-Vási', einem fanatischen und bekannten Ränkeschmied, beobachtet. Er setzte sofort den Gouverneur 'Aláu'd-Dawlih davon in Kenntnis und weckte in dem Beamten den Verdacht, daß Varqá eine Beschwerde über ihn nach Tihrán gerichtet habe.
Rúhu'lláh, Varqá und sein Schwiegervater Hájí Ímán verließen früh am nächsten Morgen Zanján. 'Azízu'lláh war einige Tage vor ihnen abgereist. Mírzá Husayn begleitete sie zum ersten Halteplatz der Karawanen und kehrte dann nach Hause zurück, wie es in jenen Tagen bei längerer Trennung üblich war.
Am selben Morgen schickte der Gouverneur seine Diener aus, die Mírzá Husayn holen sollten, damit er diesen über den Zweck des Besuches am Vortag im Telegraphenamt befragen könne. Mírzá Husayn konnte nirgends gefunden werden. Die Bediensteten des Gouverneurs drangen in die Häuser vieler Bahá'í ein, nahmen mehrere fest und folterten einige in der Absicht, Mírzá Husayns Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Inmitten all diesen Aufruhrs kehrte Mírzá Husayn nach Zanján zurück und wurde sofort zum Gouverneur gebracht.
'Aláu'd-Dawlih fragte zuerst, wohin der Darvísh gegangen sei. Mírzá Husayn erklärte, daß Varqá kein Darvísh, sondern ein gebildeter Mann, ein Arzt und Dichter sei, daß er nach Tihrán gereist sei, und daß er ihn selbst bis nach Dízaj, dem ersten Halteplatz auf dem Wege, begleitet habe. Der Gouverneur befahl seinem Vorsteher, hinter Varqá her zu reiten, ihn einzuholen und nach Zanján zurückzubringen. Mírzá Husayn wurde gefesselt und gefangen gehalten.

Die Bediensteten des Gouverneurs holten Varqá und Rúhu'lláh auf dem Weg nach Tihrán ein, hielten sie an und brachten sie nach Zanján zurück. Hájí Ímán nutzte das Durcheinander während der Festnahme dazu, sich unauffällig fortzuschleichen, und er trug mehrere Taschen voll Bahá'í-Literatur mit sich. Diese brachte er nach Qazvín, wo er sie Jináb-i-Samandar, einem angesehenen ortsansässigen Bahá'í9 zur sicheren Aufbewahrung anvertraute. Daraufhin machte er sich auf den Weg nach Zanján, wurde unterwegs festgenommen und traf im Gefängnis mit den anderen zusammen.
Später ließ 'Aláu'd-Dawlih Varqá bei mehreren Gelegenheiten in seine Privatwohnung bringen, um eine Anzahl von 'ulamá (gelehrten Geistlichen) zu treffen, die Varqá Fragen stellten. Er gab erschöpfende Antworten. Die Geistlichen diskutierten, griffen Varqá an, machten sich über ihn lustig und beschuldigten ihn der Ketzerei. Sie lasen konfiszierte Bahá'í-Literatur und erhoben Einwände gegen ihren Inhalt. Einer der 'ulamá sagte, auch er selbst könne - wenn Verse ein Wahrheitsbeweis seien - solche offenbaren. "Zur Zeit des Propheten Muhammad", sagte Varqá, "haben die Ungläubigen auch behauptet, sie könnten Verse wie die Seinen offenbaren, aber sie vermochten es nicht." Der Geistliche erwiderte, er könne und werde Verse hervorbringen, die diejenigen Bahá'u'lláhs überträfen. "Nein", sagte Varqá, "das können Sie nicht. Aber angenommen, Sie würden einige arabische Sätze hervorbringen und sie besser als die Sätze Bahá'u'lláhs finden, und jemand würde Sie fragen, wer ihr Urheber sei, was würden Sie antworten?" "Ich würde sagen, daß es meine seien." "Aber der Urheber jener Verse (Bahá'u'lláh)", sagte Varqá, "versicherte, daß sie vom Himmel gesandt worden seien. Anhänger vieler Religionen nahmen den Anspruch an und erkannten Ihn als den Verheißenen aller Heiligen Bücher... Zeigen sie uns einen einzigen Menschen, der Sie als den Größten der Geistlichen anerkennt und versichert, daß Sie alle anderen Geistlichen in der Vergangenheit und Zukunft an Wissen und Weisheit überragen. Sie können nicht einmal behaupten, wirklich gelehrt zu sein, geschweige denn, Verse zu offenbaren."
Die Geistlichen waren in Aufruhr. Einer beschuldigte einen anderen, seine Frage ungenau formuliert zu haben. Der andere schrie, daß der erste das Wesentliche des Argumentes nicht verstanden habe. "Was?" brüllte der erste. "Du wagst zu sagen, daß ich nicht verstehe und irre, während die Bahá'í verstehen und Recht haben?"
Varqá wandte sich an die Geistlichen: "Meine Herren, Sie befinden sich in Gegenwart einer erhabenen Persönlichkeit. Sie sollten die Regeln höflichen Verhaltens befolgen. Warum all diesen Lärm?" Der Gouverneur schloß sich dem Tadel an: "Was soll dieser priesterliche Unsinn?" sagte er ärgerlich. "Warum so unkultiviert? Diskutiert nach Regeln, sodaß man verstehen kann, was ihr sagt." Aber sogar der Gouverneur konnte die lärmenden Geistlichen nicht zur Ruhe bringen, die mit ihren Beschimpfungen fortfuhren.
Als Varqá bei einem der Treffen eine Stelle aus der Bibel zitierte, widersprach ein Mullá. Er berief sich auf den unter den Muslimen weit verbreiteten Glauben, daß die Originaltexte des Alten und Neuen Testamentes in den Himmel aufgestiegen seien, und daß zur Zeit Muhammads jüdische und christliche Geistliche die Heiligen Texte weiter verändert hätten, indem sie die Stellen, die auf Muhammad anspielten, strichen. Daher sei das Zitieren der Bibel kein Weg, ein Argument zu stützen. Varqá antwortete, indem er die entsprechenden Textstellen aus Bahá'u'lláhs Buch der Gewißheit (Kitáb-i-Íqán) zitierte, daß solche Gedanken falsch seien. Es sei unwahrscheinlich, daß jüdische und christliche Geistliche die Bücher, an die sie glaubten, verfälschten.
"Noch mehr: Der Pentateuch ist über die Erdoberfläche verbreitet worden, und seine Verbreitung blieb nicht nur auf Mekka und Medina beschränkt, so daß sie dort insgeheim seinen Text hätten verfälschen und verdrehen können. Nein, mit Verfälschung des Textes ist das gemeint, womit alle muslimischen Geistlichen heutzutage beschäftigt sind, nämlich die Auslegung des Heiligen Buches Gottes in Übereinstimmung mit ihren eitlen Einbildungen und nichtigen Wünschen."10
Von Varqás Wissen beeindruckt, bat ihn der Gouverneur, zum Islám zurückzukehren. Er versprach, Varqá zu seinem Privatarzt zu ernennen und für ihn von den Behörden in Tihrán ein Gehalt zu erlangen. Varqá erklärte, daß in der neuen Sendung Tausende ihr Leben für den wahren Islám gegeben hatten. Sie flößten dem Islám neues Leben ein und bewiesen vielen Juden, Christen und Zoroastriern das Prophetentum Muhammads. Erneut bat der Gouverneur Varqá, zum Islám zurückzukehren. Varqá lächelte: "Bin ich ein Jude oder Zoroastrier, um zum Islám bekehrt zu werden? In den letzten sechzehn Tagen habe ich Ihnen die Wahrheit der Prophezeiungen Muhammads bewiesen und Sie wollen mich immer noch zum Islám bekehren. Ich bin ein wahrer Muslim. Was Ihr Versprechen von einem Gehalt angeht, wie könnte ein weiser Mann seinem Glauben für Geld abschwören?"
Der Gouverneur war tief bewegt. Er war gewillt, einen Kompromiß zu schließen, einen Weg aus der Sackgasse zu finden. "Nun gut", sagte er. "Ich möchte nicht die Ursache Ihrer Hinrichtung sein. Bekennen Sie sich äußerlich zum Islám und seien Sie in Ihrem Herzen, was auch immer Sie zu sein wünschen. Wenn Sie so handeln, will ich Sie und Ihren Sohn befreien, werde Ihnen Ihre Bücher zurückgeben und Sie gehen lassen, wohin immer Sie wünschen. Sagen Sie, daß Sie nur ein Gelehrter und Poet sind. Ich werde Seiner Majestät (dem Sháh) berichten, daß wir den Fall untersucht und festgestellt haben, daß Varqá kein Bábí ist, woraufhin wir ihn freigelassen haben."
"Äußerliches Bekennen", antwortete Varqá, "muß mit der inneren Überzeugung in Einklang stehen. Sonst wäre es Heuchelei und Gott verflucht Heuchler im Qur'án. Handeln Sie, wie Ihre Pflicht es verlangt." Der Gouverneur brauste zornig auf. "Ich habe meine Pflicht getan und alles zu Ihren Gunsten gesagt. Morgen früh werde ich Mírzá Husayn mit einer Kanone erschießen lassen und Sie und Ihren Sohn nach Tihrán schicken."
Da er um Mírzá Husayns Leben fürchtete, erzählte Varqá dem Gouverneur, daß dieser in Ashkhabad ('Ishqábád) gelebt hatte und sein Schwiegersohn als Übersetzer in irgendeinem russischen Büro arbeitete. Mírzá Husayn war erst nach Persien zurückgekehrt, nachdem der Konsul in Ashkhabad den persischen Emigranten in Rußland versichert hatte, daß der Sháh ihnen den vollen gesetzlichen Schutz versprach, wenn sie sich entschließen würden, in ihr eigenes Land zurückzukehren. Die Hinrichtung Mírzá Husayns würde Untersuchungen durch die Russen und Schwierigkeiten für den Gouverneur mit sich bringen. Es würde einfacher sein, Mírzá Husayn mit Varqá nach Tihrán zu schicken. "Viele Bábí wurden in Zanján getötet. Es wäre besser für Sie, nicht die Ursache für erneutes Blutvergießen zu werden", schloß Varqá. Der Gouverneur dachte darüber nach, dann befahl er, daß Mírzá Husayn gefesselt, zusammen mit Varqá und Rúhu'lláh auf den Weg nach Tihrán geschickt und mit den Kosten der Reise belastet werden solle.11
Bevor sie nach Tihrán gesandt wurden, war es Varqá und Mírzá Husayn erlaubt, ihre Frauen zu sehen. Laqá'iyyih Khánum erzählte die Geschichte folgendermaßen: "Es war ein kleiner, aber relativ sauberer Raum. Varqá, Rúhu'lláh und Mírzá Husayn saßen auf einem Teppich. Rúhu'lláh wirkte schmaler (als vor der Verhaftung). Sich mir zuwendend, sagte Varqá: "Schau, wie sie uns zurück auf die Straße bringen" und fügte mit einem Flüstern, sodaß die Wachen es nicht hören konnten, hinzu: "Es wäre gut, wenn Freunde Rúhu'lláh wegbringen könnten." Dann sagte er: "Jeden Abend füllt sich dieser Raum mit Besuchern. Einige kommen aus reiner Neugier, um uns anzustarren, andere kommen, um zu streiten und uns zu beleidigen. Wenn ich die Angriffe einiger unserer Besucher nicht erwidern möchte, lasse ich Rúhu'lláh antworten." Als wir (Laqá'iyyih Khánum und Mírzá Husayns Frau) nach Hause kamen, erfuhren wir, daß Hájí Ímán auf dem Weg zurück nach Zanján verhaftet worden war und daß er nun im Gefängnis saß, wo man ihn folterte, sodaß er enthüllt hatte, wo er gewesen war und warum er nicht bei Varqá und Rúhu'lláh war, als diese verhaftet wurden."12
Auf 'Aláu'd-Dawlihs Befehl hin wurden Varqá, Rúhu'lláh und Mírzá Husayn gefesselt und zu Pferde in Begleitung von Wachen nach Tihrán geschickt. Hájí Ímán hatte man zwei Tage zuvor in einem Pferdewagen dorthin geschickt, wobei man ihn mit Händen und Füßen an die Seiten des Gefährtes gekettet hatte.13
Die Gefangenen reisten langsam, sie hielten in allen Dörfern und Städten an, um zu rasten und Lebensmittel einzukaufen. Bei jedem Halt kamen Massen neugieriger Einwohner, um die Gefangenen anzustarren. Unter den Menschenmengen waren immer auch Mullás, welche die Bahá'í verfluchten, sie verspotteten und ihnen dumme Fragen stellten. Einer wandte sich sogar an die Leute: "Wozu steht ihr hier herum? Tötet sie!" Nur die Anwesenheit der Wachen verhütete ein Lynchen.
Ein Mullá fragte Varqá, wie es sein könne, daß ein Mann mit solchen Fähigkeiten ein Abtrünniger geworden sei. Varqá antwortete: "Du verstehst nicht, was mit dem Begriff abtrünnig gemeint ist. Wir sind nicht umgekehrt, wir haben unseren Glauben nicht verleugnet, wir haben uns vorwärts bewegt. Außerdem habe ich meinen Glauben von meinem Vater geerbt. Dieses Kind (Rúhu'lláh) ist Bahá'í in der dritten Generation, und ich bezeuge die Wahrheit meines väterlichen Glaubens."14
Ein Zuschauer fragte Rúhu'lláh: "Und was sagst du, Junge?" "Ich bin ganz wie du", erwiderte Rúhu'lláh. Die Zuschauer waren erfreut, da sie dachten, daß Rúhu'lláh mit diesen Worten meinte, er sei ein Muslim. Varqá erklärte jedoch sofort, daß Rúhu'lláh meinte, er bekenne sich wie die anderen zu einer ererbten Religion und sei im Glauben seines Vaters geboren.
Varqás Worte wurden mit Verwünschungen und Geschrei empfangen. "Warum sind die Füße dieses Jungen nicht gefesselt?" schrie irgend jemand. Ein Zimmermann brachte Klötze, und Rúhu'lláhs Füße wurden fest an den Rahmen gekettet.
Mírzá Husayn schrieb in seinen Memoiren, daß die Reiter ständig in Alarmbereitschaft waren, weil sie fürchteten, daß die Bábí sie angreifen und die Gefangenen befreien würden. Wiederholt überprüften sie die Ketten, die Klötze und die Schlösser, "in der Befürchtung, daß wir in den Himmel wegfliegen würden".
Bei einem Aufenthalt versammelte sich eine große Menschenmenge, um sich die Gefangenen anzusehen. Ein großer und starker Mann kam mit Rúhu'lláh ins Gespräch. Sein Schwiegervater versuchte, ihm einen Streich zu spielen, und bat die Wärter so zu tun, als ob sie ihn verhaften würden. Zwei Wachen packten den jungen Mann, warfen eine Kette um seinen Hals und brüllten: "Oh du Soundso, du bist auch ein Bábí und mußt mit den übrigen angekettet werden." Der junge Mann hatte sich so erschreckt, daß er etwas Undeutliches murmelte und in Ohnmacht fiel. Als er aus der Besinnungslosigkeit erwachte, lachten die Wachen: "Als was für ein Feigling hast du dich entpuppt! Wir haben dir nur einen Streich gespielt." "Was für eine Art Witz war das?" protestierte der junge Mann, "ich starb fast vor Furcht". Ein Zuschauer fragte, auf Rúhu'lláh deutend: "Warum ist das Kind nicht ängstlich?" "Aber er ist ein Bábí", antwortete der junge Mann.
Während die Gefangenen gerade dabei waren, das Dorf zu verlassen, bemerkte Varqá, daß Rúhu'lláh seine Füße mit seiner 'abá (persischer Wollmantel) bedeckte. Später fragte der Vater: "Warum, mein lieber Sohn, bedecktest zu deine Füße? Warst du beschämt wegen der Ketten? Du solltest lieber stolz auf sie sein als beschämt." "Nein, Vater (áqáján - Meister meines Lebens - eine Form, den Vater anzusprechen)", sagte Rúhu'lláh. "Ich bedeckte meine Füße, weil es kalt war. Ich schäme mich der Ketten nicht."
Einer der Wärter, der die Gefangenen gut behandelte, lauschte achtsam den Gesprächen, welche sie mit den Mullás führten, und war von der Wahrheit ihrer Argumente überzeugt. Er nahm den Glauben an. Zwei andere Wärter waren im Gegensatz dazu außerordentlich feindselig gegenüber Varqá und besonders gegenüber Rúhu'lláh, sie taten alles, um ihre Leiden zu vermehren. Einer von ihnen bemerkte, daß, wenn das Pferd trabte, die Satteltaschen sich bewegten und die Ketten an Varqás Knöcheln sich fester zusammenzogen und ihm große Schmerzen bereiteten. Der Wärter wurde gebeten, die Satteltaschen auf ein anderes Pferd zu legen. Er weigerte sich und sagte: "Diese sind Ungläubige. Je mehr sie leiden, desto besser gefällt es Gott." "Laß Gott zwischen uns richten", äußerte sich Varqá.
Der Wärter peitschte sein Pferd und ritt voraus, sodaß er der Sicht entschwand. Als die Karawane den nächsten Haltepunkt erreichte, fand man den Wärter, wie er sich vor Schmerzen krümmte, neben einer Quelle liegen. Er hatte qualvolle Magenschmerzen. Varqá saß ab, untersuchte den kranken Mann und verschrieb eine Arznei. Die Medizin half nicht, und der Wärter starb am nächsten Tag. Varqá war bestürzt. "Warum erduldete ich nicht die Schikanen von der Hand dieses Mannes?" sagte er. "Anstatt nach dem Urteil Gottes zu rufen, hätte ich ihm vergeben und zu Gott beten sollen, ihn auf den Pfad der Wahrheit zu führen."

In Tihrán wurden die Gefangenen erst in den Ställen von General Jahánsháh, einem Sháhsavan Stammesführer, einquartiert. Am nächsten Tag wurden sie zum Haus von Muínu'd-Dawlih, dem Bruder des Gourverneurs von Zanján, 'Aláu'd-Dawlih, gebracht. Hier trafen Varqá, Rúhu'lláh und Mírzá Husayn auf Hájí Ímán, welcher ein paar Tage früher in der Stadt eingetroffen war. Einige Stunden später ließ man die gesamte Gruppe durch den Bazar und die bedeutendsten Straßen der Hauptstadt zum Gefängnis abrücken.
Im Gefängnis wurden den Gefangenen noch schwerere Klötze und Ketten angelegt. Die Kette um Rúhu'lláhs Hals war so schwer, daß sie mit einem gabelförmigen Stock abgestützt werden mußte. Hájí Ímán erzählte, daß die Kette selbst mit Stütze so schwer war, daß Rúhu'lláh Schwierigkeiten hatte zu schlafen. Nacht für Nacht hielt Hájí Ímán die Kette hoch, damit der Junge einschlafen konnte.
Unter Varqás Papieren, die in Zanján beschlagnahmt worden waren, befanden sich einige Photographien von Bahá'í und ein Porträt des Báb. Diese wurden Hájibu'd-Dawlih übergeben, dem Chef der königlichen Bediensteten, der in Wirklichkeit der oberste Scharfrichter des Sháh war. Hájibu'd-Dawlih forderte den Gefängniswärter auf, Varqá jedes Bild schriftlich auf der Rückseite kennzeichnen zu lassen. Auf die Rückseite des Porträts des Báb schrieb Varqá: "Ein Abbild von Seiner Heiligkeit, dem Siyyid-i-Báb".15 Er bat den Wärter, Hájibu'd-Dawlih zu sagen, daß er ihn gern im Vertrauen sprechen würde.
In der Annahme, daß Varqá ihm ein Bestechungsgeld anbieten wolle, kam Hájibu'd-Dawlih, um Varqá zu sehen, welcher ihn bat, dem Sháh eine Botschaft zu überbringen: Laßt Seine Majestät die Bücher und Papiere untersuchen, die man bei Varqá beschlagnahmt hat. Sollte er in ihnen eine einzige Aussage finden, die den Gesetzen des Staates oder den Prinzipien der Menschenfreundlichkeit widersprechen, laßt Varqá bestrafen oder laßt die 'ulamá sich versammeln, verhört ihn und dann fällt das Urteil. Hájibu'd-Dawlih wurde ungeduldig. "Was?" rief er aus, "versuchst du, mich zu bekehren? Komm' zur Sache." Varqá fügte hinzu, mit der von ihm gewünschten Untersuchung seiner Ansichten beabsichtige er, die Unterschiede zwischen den Bábí und den Bahá'í darzulegen.
Hájibu'd-Dawlih erkannte, daß es nicht um Bestechung ging. Seinem Zorn nachgebend schlug er Varqá mit einem Stock auf den Hals und schrie: "Du bist zu arrogant und dein Gespräch heute ist wie deine Anmaßung gestern, als du auf das Porträt des Siyyids aus Shíráz schriebst: "Ein Abbild von Seiner Heiligkeit, dem Siyyid-i-Báb". War dir nicht bewußt, daß ich das Porträt dem Sháh zeigen würde?"
Die Haft und Einkerkerung von Varqá und seinen Freunden traf mit den bevorstehenden Festlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Thronbesteigung Násirid-Dín-Sháhs zusammen.16 Überall verbreiteten sich Gerüchte, daß bei dieser Gelegenheit eine Generalamnestie verkündet werden sollte und alle Gefangenen freigelassen werden würden. Am 1. Mai 1896, dem Vorabend des Jubiläums, wurde der Sháh erschossen, während er im Schrein eines muslimischen Heiligen in der Nähe von Tihrán im Gebet kniete. Die Regierung war von panischem Schrecken erfaßt. Der Kronprinz Muzaffarid-Dín Mírzá war in Tabríz. Seine beiden widerspenstigen Brüder, Mas'úd Mírzá Zilli's-Sultán und Kámrán Mírzá Náyibu's-Saltanih, trachteten nach dem Thron, und es wurde angenommen, daß sie einen Versuch unternehmen würden, den legitimen Erben ihres ermordeten Vaters zu verdrängen. Weil praktisch nichts über Mírzá Ridá-yi-Kirmání, den Mörder des Sháh, bekannt war, wurde in einer Atmosphäre allgemein vorherrschender Angst sofort angenommen, daß er ein Bábí sei. Und wenn er ein Bábí war, dann waren alle Bábí (d.h. Bahá'í) des Königsmordes schuldig. Erst später gestand die Regierung die Tatsache ein, daß Mírzá Ridá ein Anhänger des Panislamistenführers Siyyid Jamáli'd-Dín-Afghání, einem offenen Gegner des Bahá'í-Glaubens, war. Mírzá Ridá selbst wies die Aussage zurück, daß er ein Bábí sei; er bekannte sich zum Islám und erklärte, daß er den Sháh ermordet habe, um die Unterdrückung und Folterungen, die er und das ganze Land durch die Hand dieses grausamen Despoten erlitten hätten, zu rächen.
Hájíbu'd-Dawlih, Oberhaupt der königlichen Bediensteten des verstorbenen Sháh, wartete die Untersuchungsergebnisse über die Ermordung seines Herrn nicht ab. Ohne den Premierminister um Erlaubnis zu bitten, eilte er in Begleitung von vier Scharfrichtern und einer Abteilung Soldaten zum Stadtgefängnis, um seine persönliche Rache zu üben.
Varqá, Rúhu'lláh, Hájí Ímán und Mírzá Husayn wurden zum Verhör vor ihn gebracht. Mírzá Husayn zeichnete das Ereignis in seinen Memoiren folgendermaßen auf: "Wir betraten ein anderes Gebäude. Überall, selbst auf den Dächern, standen mit Gewehren bewaffnete Soldaten. Hájíbu'd-Dawlih, seine Augen waren blutunterlaufen, schritt wie ein wütendes Tier im Zimmer auf und ab. Er befahl, Varqá und Rúhu'lláh die Ketten abzunehmen und sie in einen angrenzenden Raum zu führen. Der erste Wachmann versuchte es und konnte die Ketten nicht entfernen, da seine Hände zitterten. Ein zweiter Wachmann verrichtete die Aufgabe, führte Varqá und Rúhu'lláh zum nächsten Raum und schloß die Tür. Hájí Ímán und Mírzá Husayn warteten furchterfüllt. Einige Zeit später trat ein farrásh (Bediensteter) ein, hob ein falakih 17 auf und nahm es mit in das andere Zimmer. Hájí Ímán und Mírzá Husayn folgerten, daß die Gefangenen die Bastonade erhalten würden. Einen Augenblick später jedoch kam ein anderer farrásh auf seinem Weg zum Hof durch die Tür. In seiner Hand hielt er einen blutbefleckten Dolch, und er begab sich zum Becken, um diesen abzuwaschen. Bald erschien ein dritter farrásh , der unter seinem Arm Varqás Kleider trug. Nun wußten Hájí Ímán und Mírzá Husayn, daß eine schreckliche Tragödie stattgefunden hatte.
Wieder öffnete sich die Tür und Hájíbu'd-Dawlih trat erregt und erschreckt vor die beiden Bahá'í. Sie dachten, daß sie nun an der Reihe seien, in das Zimmer geführt zu werden, in welches Varqá und Rúhu'lláh gebracht worden waren. Indem er auf sie deutete, sagte Hájíbu'd-Dawlih: "Laßt diese für morgen" und verließ das Gebäude. Hájí Ímán und Mírzá Husayn wurden in ihre Zellen zurückgebracht. Spät in jener Nacht gaben ihnen zwei Gefängniswärter, die den Bahá'í mit der Zeit freundschaftlich gesonnen waren, einen vollständigen Bericht dessen, was sich vor ihren Augen zugetragen hatte.
Als Hájíbu'd-Dawlih Varqá sah, sagte er: "Varqá, du hast deine Arbeit schließlich getan", womit er meinte, daß die Bahá'í den Sháh getötet hätten. "Sag' mir jetzt, wen ich zuerst töten soll, dich oder deinen Sohn." Varqá antwortete, daß dies für ihn keinen Unterschied mache. Hájíbu'd-Dawlih zog seinen Dolch und stieß ihn in Varqás Leib. "Wie fühlst du dich?" schrie er sein Opfer an. "Dank Gott fühle ich mich besser als du", antwortete Varqá. Hájíbu'd-Dawlih befahl vier Henkern, die Arbeit zu beenden, und sie hackten Varqá in Stücke.
Rúhu'lláh, der die Szene beobachtete, schrie auf: "Vater, Vater, nimm mich mit dir!" Hájíbu'd-Dawlih wandte sich dem Kind zu. "Hast du gesehen, was deinem Vater geschehen ist? Widerrufe, und ich werde dir Rang und Belohnung verschaffen. Rúhu'lláh lehnte das Angebot empört ab. "Ich brauche deinen Rang und die Belohnung nicht. Ich möchte mich meinem Vater anschließen, ich möchte bei ihm sein!" Hájíbu'd-Dawlih bat um ein Seil. (Das islamische Gesetz verbietet, das Blut eines Minderjährigen zu vergießen, und diese grausame Karrikatur eines Muslims war fest entschlossen, dem Buchstaben des Gesetzes zu folgen und den Jungen zu erdrosseln.) Kein Seil war zur Hand. Stattdessen rannte einer der Bediensteten hinaus und kam mit einem falakih zurück. Die Henker schoben Rúhu'lláhs Kopf durch die Schlinge und begannen, den Stock zu drehen. Mit jeder Umdrehung drückte das Seil stärker auf die Kehle des Kindes. Es wurde ohnmächtig und sank zu Boden. In der Annahme, er sei tot, befahl Hájíbu'd-Dawlih, daß Hájí Ímán und Mírzá Husayn hereingebracht werden sollten. Plötzlich sprang Rúhu'lláh auf, fiel aber sofort wieder zu Boden. Er atmete nicht mehr.
Hájíbu'd-Dawlih war von dieser Szene so erschreckt und erschüttert, daß er mit der Hinrichtung von Hájí Ímán und Mírzá Husayn nicht fortfahren konnte. Auch am folgenden Tag kehrte er nicht zum Gefängnis zurück, um sein blutiges Werk zu beenden. Nach vierzehn Monaten Einkerkerung wurden beide freigelassen. Beide erreichten ein hohes Alter, und beide äußerten wiederholt ihre tiefe Trauer, daß ihnen die große Ehre des Märtyrertums auf dem Pfade Bahá'u'lláhs und im Namen Seines Glaubens nicht gewährt worden war.
Für Mírzá Husayn erfüllte sich zuletzt sein Herzenswunsch. Die Bahá'í von Chárjúy im russischen Turkestan luden ihn ein, die Stadt zu besuchen, um mit einem besonders hitzigen Mullá, welcher den Glauben angriff, zu debattieren. Mühelos übertraf er den Mann in der Beweisführung. In der Nacht brachen einige Anhänger des Mullás in das Haus ein und verprügelten Mírzá Husayn schwer. Er reiste nach Ashkabad, wo er seinen Wunden erlag.
An einem kalten, stürmischen Wintertag erfuhr Hájí Ímán, nun über achtzig Jahre alt, vom Tode seines Freundes. Er erhob sich und zog seinen Mantel an. "Wohin gehst du an solch einem kalten Tag?" fragte sein Schwiegersohn. "Um den Körper Mírzá Husayns (in Vorbereitung auf die Beerdigung) zu waschen", antwortete Hájí Ímán. "Wir versprachen uns gegenseitig, daß derjenige, der den anderen überlebte, diese letzte Aufgabe für seinen Freund vollbringen werde." Hájí Ímán kehrte schwer erkältet nach Hause zurück. Er bekam eine Lungenentzündung, von der er sich nie mehr erholte, und starb eines Tages im Schlaf.
'Abdu'l-Bahá pries die Märtyrer in mehreren Sendschreiben, ihre Hingabe gegenüber dem Glauben, ihre Liebe, ihre Standhaftigkeit und ihren heldenhaften Mut im Angesicht des Todes. Er schrieb, daß eines der göttlichen Geheimnisse das Geheimnis des Märtyrertums sei, in dem Menschen ihr Leben mit Freude und Begeisterung opferten: "Aber bis jetzt hat noch niemand die Freude, die Leidenschaft und Verzückung gezeigt, die Rúhu'lláh in der Arena des Märtyrertums entfaltet hatte."18
Vielleicht hatte Rúhu'lláh eine Vorahnung seines eigenen Todes, als er folgende Verse dichtete:
"Wann wird für mich der Augenblick kommen, o Gott,
da ich mein Leben opfere
aus Liebe zu Deinem Angesicht?
Gesegnet der Tag, an dem ich auf dem Feld der Liebe
mein Leben auf dem Pfade des Geliebten hingebe.
Süß ist der Augenblick, da ich vom Galgen herab
offen von der Macht Bahá künden werde."
Varqá war ebenso wie sein Sohn zum Märtyrertum bereit. Einige Jahre zuvor hatte er Bahá'u'lláh gebeten, sein höchstes Opfer anzunehmen. Beide, Vater und Sohn, hatten geträumt, ihr Leben für die Sache hingeben zu dürfen. Ihr Traum wurde wahr.
1 'Abdu'l-Bahá, Vorbilder der Treue, Erinnerungen an frühe Gläubige, Hofheim 1987, 33:2
2 'Abdu'l-Bahá, Vorbilder der Treue 33:4
3 Star of the West, 3, No. 18 (Feb. 7, 1913)
4 Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, 2. Auflage, Hofheim 1974, S. 228
5 vgl. Bahá'u'lláh, Das Buch der Gewißheit, Kitáb-i-Íqán, 3. Auflage, Hofheim 1996, 161ff
6 Der Verfasser des Artikels hörte diese Geschichte von seiner Mutter, Laqá'íyyih Khánum, der Tochter Hájí Ímáns aus Zanján, die Varqá im Alter von 15 Jahren heiratete und zwei Jahre lang, bis er und Rúhu'lláh den Märtyrertod starben, seine Frau war.
7 Dieser war der Vater eines bekannten Bahá'í, des verstorbenen Ináyatu'lláh Ahmadpúr.
8 Bahá'u'lláh, Ährenlese, Eine Auswahl aus den Schriften Bahá'u'lláhs, 3. Auflage, Hofheim 1980, 69:2-5
9 Er war der Vater eines ebenso herausragenden Bahá'í, Tarázu'lláh Samandarí.
10 Bahá'u'lláh, Buch der Gewißheit 94
11 Es war die übliche Handlungsweise im Persien des neunzehnten Jahrhunderts, selbst von den zur Bastonade Verurteilten die Kosten für die Stöcke zu verlangen, die zur Ausführung der Strafe gebraucht wurden.
12 aus Aufzeichnungen von Herrn Rúhá 'Atáí.
13 Als Hájí Ímán viele Jahre danach seinem Enkelsohn von der Begebenheit erzählte, erinnerte er sich, daß sich der Wärter (farrásh), der ihn fesselte, ungeschickt anstellte und lange brauchte, wahrscheinlich aus Unerfahrenheit. Der Gefangene konnte sich nicht zurückhalten und sagte zum Wärter: "Nach all den Jahren des Dienstes als Wärter wissen Sie immer noch nicht, wie man jemandem die Füße fesselt." Der Wärter - erbost über diese Bemerkung - griff nach einer Eisenstange und schlug damit auf Hájí Ímáns Kopf ein. Es ist eine Narbe zurückgeblieben, die Hájí Ímán dem Verfasser dieses Artikels zeigte.
14 Das islamische Recht sieht für den Abfall vom Islam die Todesstrafe vor, nicht aber für das Verbleiben in einer ererbten Religion.
15 Varqá hatte zwei Porträts des Báb. Eines wurde von Áqá Bálábik Shishvání gemacht, während des Bábs Aufenthaltes in Urúmíyyih. Das zweite war eine Kopie des ersten. Auf Bahá'u'lláhs Anordnung hin wurde das Original nach 'Akká gesandt, während die Kopie in die Hände von Hájíbu'd-Dawlih fiel. (Siehe Asadu'lláh Fádil-i-Mázindarání, Zuhúru'l-Haqq (Tihrán o.J.), S. 48)
16 Násirid-Dín-Sháh bestieg den Thron im Jahre 1848. Nach islamischer Mondrechnung war 1896 das fünfzigste Jahr seiner Regierung.
17 Ein falakih ist ein langer Stock mit einer Schnur, die an beiden Enden befestigt ist, sodaß sich eine Schlinge bildet. Jemand, der die Bastonade erhalten soll, muß mit dem Rücken auf dem Boden liegen. Seine Füße werden durch die Schlinge gelegt. Durch Drehen des Stockes kann man die Schlinge fester zuziehen. Zwei Männer heben jeweils ein Ende des Stockes an und damit auch die Füße des Opfers. Ein dritter Mann schlägt mit einem Rohrstock auf die Fußsohlen. Die Bastonade war die am häufigsten angewandte Bestrafung in Persien bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert. Sie wurde Menschen aller Ränge und Klassen ohne Unterschied auferlegt.
18 vom Verfasser des Artikels übersetzt aus: Ishráq-i-Khávarí, Má'idih-yi-Ásamání (Tihrán 122 B.E.), IX, 41.
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